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E-Book

Ich ohne euch

Wie ich meine Eltern verlor und mich selbst fand

AutorClaire Bidwell Smith
VerlagMosaik bei Goldmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783641155575
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Die ergreifende Erzählung einer jungen Frau, die durch die Trauer zum Leben findet: Claire Bidwell Smith verliert beide Eltern an den Krebs - die Mutter mit 18, den Vater mit 25. Als sie sich unausweichlich auf den Verlust zubewegt, stürzt sie sich in alles, was von dieser Last ablenkt: Männer, Alkohol, Reisen und die Anonymität von Großstädten. Doch am Ende erkennt sie, dass sie vor der Trauer nicht fliehen kann. Claires Geschichte ist weniger tragischer Schicksalsbericht als vielmehr eine bemerkenswerte Lektion darüber, wie man mit einem der größten Schicksalsschläge des Lebens fertig wird. 'Ich ohne euch' ist mitreißend, aufwühlend, lebensbejahend, poetisch, voller Liebe und Abenteuer.

Claire Bidwell Smith hat einen Master-Abschluss in Klinischer Psychologie von der Antioch University, Los Angeles. Sie ist eine erfahrene Therapeutin auf dem Gebiet der Trauerarbeit. Außerdem hat sie für eine Vielzahl von Medien, darunter das »Yoga Journal« und »The Huffington Post«, Artikel zum Thema Trauer geschrieben. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter in Los Angeles.

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Leseprobe

1992, ich bin vierzehn

Ich stehe in der Kosmetikabteilung des örtlichen Kmart, halte zwei Flaschen Nagellack in der Hand und versuche zu entscheiden, welche ich klauen soll. Die eine hat eine helle Beerenfarbe, die ich sofort in meinem Mund zu schmecken meine, die andere ist eine tiefes Pflaumenblau, das mich an ein Paar Wildleder-High-Heels meiner Mutter erinnert.

Ich entscheide mich für Beere.

Ich schaue mich noch einmal um, in die leeren Gänge, die mich umgeben, stopfe das Fläschchen schnell in die Tasche meiner Jeansshorts und spüre ein leises Klackern, als sie gegen den passenden Lippenstift stößt, der dort schon versteckt ist.

Ich ziehe mein T-Shirt am Saum herunter, in der Hoffnung, die Beule in meiner Tasche zu verdecken, und mein Herz macht einen heftigen Sprung, den ich schon kenne, und der mir den entscheidenden Kick gibt. Jahre später spüre ich den gleichen Nervenkitzel, wenn es mich nach dem ersten Zug an einer Zigarette verlangt oder wenn mich das zweite Glas Alkohol gerade eben aus der Nüchternheit herausholt.

Während ich in Richtung Ladenausgang gehe, halte ich meinen Kopf gesenkt. Ich hoffe, so mache ich einen enttäuschten Eindruck, als hätte ich nicht das gefunden, wonach ich gesucht habe. Aus dem Augenwinkel beobachte ich die einzige Kassiererin, eine gelangweilt wirkende Frau Mitte zwanzig. Sie knibbelt an ihren grellorangenen Fingernägeln herum und bemerkt mich nicht.

Ich schlüpfe durch die Tür, und als die warme Luft Floridas meine klimaanlagengekühlte Haut trifft, spüre ich unmittelbar Erleichterung, gefolgt von einem weiteren Schub Aufregung.

Ich bin davongekommen.

Über den Parkplatz gehe ich zurück zum Restaurant meiner Eltern und denke über das mit dem Klauen nach. Ich weiß nicht, wie es angefangen hat oder wie das Ganze so außer Kontrolle geraten ist. Am Anfang war es nur Kaugummi oder mal ein Stift, aber seit Kurzem sind die Sachen ausschließlich Kosmetikartikel, meist zehn bis fünfzehn Dollar wert.

Ich husche durch die Tür des Catering-Ladens meiner Mutter, der sich in letzter Zeit in ein Café verwandelt hat. Es liegt in einer Reihe anderer Geschäfte, schräg gegenüber vom Kmart. Meine Mutter ist in der Küche, ihre Hände stecken tief in einer Schüssel hausgemachter Pastete, mein Vater ist im Büro und stöbert in Weinkatalogen. Der an Wild erinnernde Duft der Gänseleber, die meine Mutter verarbeitet, liegt berauschend in der Luft.

Ich lehne mich an den Tresen, neben meine Mutter.

Hi, Sweetie, sagt sie mit einem Lächeln. Hast du deine Hausaufgaben fertig?

Ja.

Das ist eine Lüge. Ich habe sie noch nicht mal angerührt. In Mathe werde ich durchfallen, und gerade an diesem Nachmittag musste ich noch bei Mr Gorin nachsitzen. Er riecht nach Pimentos mit Frischkäse und moschusartigem Aftershave, aber er ist nett und geduldig mit mir.

Hat dir dein Vater geholfen? Meine Mutter pustet sich eine Haarsträne aus dem Gesicht, als sie das fragt.

Ich nicke wieder.

Das ist wahr, mein Vater hat mir geholfen. Oder hat es zumindest versucht. Mein Vater war früher Ingenieur, und Mathe ist sowas wie seine große Liebe. Aber er ist nicht so geduldig wie Mr Gorin.

Jetzt komm schon, Claire, flehte mein Vater mich an, als wir hinter seinem Schreibtisch im Büro saßen. Wenn 5x – 4 = 26 ist, was ist dann x?

Ich habe keine Ahnung.

Ich hasse Mathe.

Ich hasse x.

Das war der Moment, in dem ich meinen Bleistift fallen ließ und mich mit dem Stuhl vom Schreibtisch abstieß, in dem sich der Drang in meinem Kopf ausbreitete, rüber zu Kmart zu gehen. Mein Vater rief mir halbherzig hinterher, als ich durch die Tür ging, aber ich wusste, dass er es meiner Mutter nicht erzählen würde, aus Angst vor ihrer Schelte.

Sehr gut, antwortet meine Mutter jetzt. Es tut deinem Vater gut, wenn er dir helfen kann, weißt du?

Ich nicke.

Sweetie, sagt sie dann, kannst du mir die Haare hinter die Ohren machen?

Ich lächle sie an und lehne mich nach vorne. Meine Mutter hält ihre mit Pastete beschmierten Hände zu den Seiten weg, und ich streiche ihr vorsichtig die dicken, blonden Haare aus dem Gesicht. Sie ist eine schöne Frau, groß und schlank, mit dichtem weißblondem Haar, das ihr wie ein perfekt fallender Vorhang bis zu den Schultern geht. Sie lächelt viel und hat funkelnde grüne Augen. Manchmal denke ich, dass sie wie ein erwachsener Zwilling aus der Serie Sweet Valley High ist. Nur eigenartiger.

Meine Mutter ist Köchin. Bevor sie meinen Vater kennenlernte, arbeitete sie als Food-Stylistin in New York, wo sie Sandwichplatten so arrangierte und Pudding in Schüsseln so auftürmte, dass sie in Werbespots und Zeitschriften ansprechend aussahen. Ihr Portfolio, das inzwischen in der Garage an der Wand lehnt, ist voll von rohen Truthahnbrüsten, handbemalt, damit sie gebraten aussehen, und Krabbencocktails, die wie kleine Blumensträuße in Kristallgläsern arrangiert sind. Sie schmeißt regelmäßig ausschweifende Dinner-Partys und ist Restaurant- und Speisekartenfanatikerin.

Während der Hochzeitsreise meiner Eltern durch Europa führte meine Mutter Tagebuch – nicht darüber, wie es ist, frisch verheiratet zu sein, sondern über das Essen, das sie und mein Vater verspeisten. Sie schrieb über die vielen Flaschen Wein, die sie in Italien tranken, über Käseorgien in Frankreich und Katerfrühstücke in Irland (»sehr flüssige Eier und ein Pint Guinness«).

Vor ungefähr einem Jahr eröffnete sie auf Drängen von Freunden einen Catering-Betrieb. Anfangs ging es eher um den Spaß, auch ich und mein Vater halfen mit, indem wir vorsichtig Tabletts mit Mini-Quiches und sautierten Pilzen vom Rücksitz des Volvos holten. Aber dann mieteten sie und mein Vater einen Laden, rissen eine paar Wände ein, richteten eine professionelle Küche ein, und jetzt führt unsere kleine Familie ein richtiges Restaurant. Mein Vater ist für den Wein zuständig, meine Mutter für das Essen, und ich stehe für gewöhnlich hinter der Kasse, spiele mit den Knöpfen und kritzle in ein Notizbuch.

Weißt du, sagt meine Mutter, ihre Hände wieder in der Pastete, ihr Haar hinter den Ohren, deinem Vater wird es wieder gut gehen.

Ich weiß, sage ich nickend. Ich hatte gehofft, sie würde nicht davon anfangen.

Uns allen wird es wieder gut gehen, fährt sie fort. Ihre Stimme ist fest und bestimmt. Auch mit vierzehn weiß ich schon, dass sie nicht nur mich davon überzeugen will.

Vor zwei Wochen haben mir meine Eltern gesagt, dass mein Vater Krebs hat. Mit ernster Stimme haben sie versucht, mir zu erklären, was Prostatakrebs ist, und dass mein Vater operiert wird und dann ein bisschen Bestrahlung bekommt. Dann haben sie Witze gemacht, die ich nicht verstanden habe, darüber, dass mein Vater durch die Hormonbehandlung Hitzewallungen bekommen wird.

Es wird ihm wieder gut gehen, sagte meine Mutter auch an jenem Tag.

Mit zusammengebissenen Zähnen sagt sie es jetzt noch einmal, ich nicke ihr nur zu und betaste heimlich die Flasche Nagellack in meiner Tasche.

Mein Vater ist einundsiebzig Jahre alt.

Die meisten Leute denken, er wäre mein Großvater, und ich korrigiere sie inzwischen auch nicht mehr. Manchmal macht er einen Witz daraus. Wenn zum Beispiel eine alte Dame in einem Restaurant auf uns zukommt und fragt: Oh, ist das Ihre Enkelin?, dann lehnt sich mein Vater in seinem Stuhl zurück und kichert.

Nein, sagt er dann. Sie ist die Tante meines Enkels.

Wir grinsen einander quer über den Tisch an und beobachten, wie sie versucht, auf den Trichter zu kommen.

Er war siebenundfünfzig, als ich geboren wurde. Meine Mutter war vierzig.

Mein Vater, Gerald Robert Smith, wurde 1920 in Michigan geboren. Eines von vier Kindern. Als er aufwuchs, pflückte er im Sommer immer Brombeeren, trug Zeitungen aus und meldete sich am Tag nach der Attacke auf Pearl Harbor freiwillig bei der Air Force.

Er wurde zum Kampfpiloten ausgebildet, ist mit B-24ern über Europa geflogen und hat Bomben über Deutschland abgeworfen. 1944 wurde sein Flugzeug abgeschossen, und mein Vater wurde gefangen genommen und für die letzten sechs Monate des Krieges in ein Gefangenenlager gebracht.

Auch wenn mein Vater gerne über den Krieg redet, kann ich ihm einfach nicht folgen. Für mich ist Krieg ein zweidimensionales Konzept – ein paar Seiten in einem Geschichtsbuch, die laut in einer Schulklasse vorgelesen werden, in der ich nicht sein will.

Ich finde, es gibt viel interessantere Dinge im Leben meines Dads. Zum Beispiel seine andere Familie.

Nach dem Krieg kehrte mein Vater im Alter von vierundzwanzig Jahren nach Hause zurück, nach Michigan, zu einer Frau, die er kaum kannte, und zu einem Sohn, der geboren wurde, als er nicht da war. Er schloss das College ab, machte noch ein paar Kinder mehr und zog dann mit seiner gesamten Familie nach Südkalifornien.

Mein Vater konzentrierte sich anschließend auf seine Karriere als Maschinenbauingenieur. Er fing an, mit Leuten wie Wernher von Braun zu arbeiten, einem deutschen Ingenieur und Raketenwissenschaftler, dessen Name mich mein Leben lang verfolgen wird. So reiste mein Vater für die nächsten zwei Jahrzehnte um die Welt, seine Familie ließ er allein in einem kleinen Haus in Pasadena zurück, während er mit Männern, die die Welt verändern wollten, in verrauchten Konferenzräumen hockte.

Meine Halbgeschwister, die alle doppelt so alt sind wie ich, werden mir in meinen Zwanzigern Geschichten von dem Mann erzählen, den sie nicht wirklich kannten, von dem,...

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