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E-Book

Ich träume deutsch ... und wache türkisch auf

Eine Kindheit in zwei Welten

AutorNilgün Tasman
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783451338809
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
'Mädchen werden als Bräute geboren', mit diesem Satz wird Nilgün groß. Doch sie sehnt sich nach Freiheit und sie nimmt sie sich das Beste aus dem türkischen und dem deutschen Leben. Sie erlebt hautnah, was es heißt, Wurzeln und gleichzeitig Flügel zu haben - Flügel, die ihr wachsen, um die vielen Hindernisse auf ihrem Weg zu überwinden. Nilgün Tasman hat es geschafft: Wunderbar poetisch erzählt sie die Geschichte einer ganzen Generation.

Nilgün Tasman, geb. 1968 in Istanbul, kam im Alter von sechs Monaten mit ihren Eltern nach Deutschland. Realschulabschluss, Friseurlehre, Meisterprüfung und Studium der Psychologie, mit Abschluss Dipl.psych. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Familie in Stuttgart.

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Leseprobe

Sei stolz, eine Türkin zu sein!


Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz als Kind gehört habe. „Stolz“ ist glaube ich das wichtigste Wort bei uns Türken. „Wer keinen Stolz mehr hat, kann sich gleich begraben lassen“, sagte mein Vater immer.

Meine vier Jahre ältere Schwester Mine ging inzwischen bereits in die Schule. Ich war erst fünf und noch zu jung für die Schule. Weil ich nicht katholisch war, wurde ich auch nicht in den Kindergarten aufgenommen. Aber da wollte ich sowieso nicht hin. Meine Anne und ich gingen manchmal zum Bäcker und kamen auf unserem Weg an diesem Kindergarten vorbei. Über der Eingangstür hing ein großes Kreuz aus Holz. Darauf war ein Mann mit einem Dornenkranz auf dem Kopf, und in seinen Händen und Füßen steckten Nägel. Das sah ganz schrecklich aus.

Anne beruhigte mich und erklärte: „Das ist der Prophet Isa. Du musst keine Angst haben. Er war ein guter Prophet und wurde von Allah vor Mohammed auf die Erde geschickt. Die Menschen wollten nicht an ihn glauben und bestraften ihn mit dem Tod!“

Wir gingen auch mal in den Kindergarten hinein, um uns vorzustellen,aber eine „Muselmanin“ wollten die Nonnen dort nicht aufnehmen. Ich freute mich darüber, da es mir zu Hause alleine mit Tekir, unserem türkischen Kater, viel besser gefiel.

Wir wohnten immer noch in dem Mehrfamilienhaus, das uns bei unserer Ankunft zugewiesen worden war, und waren ganz stolz auf unsere Zweizimmerwohnung mitten in der Stadt. Die meisten türkischen Familien hatten viel kleinere Wohnungen als wir. Das Einzige, was wir uns sehnlichst wünschten, war ein Fernseher. Baba hatte uns zwar versprochen, so bald wie möglich einen zu kaufen, aber leider konnten wir uns noch keinen leisten.

Onkel Ali, der Freund von unserem Baba, hatte für seinen Fernseher nichts bezahlt. Onkel Ali besaß ganz viele Dinge, die wir nicht hatten, und er fuhr mehrmals im Jahr mit seinem Ford Taunus in die Türkei. Onkel Ali war ein guter Geschäftsmann und Anne war von seinen Geschichten immer ganz begeistert.

Baba sagte: „Ali ist eine Müllratte und hat überhaupt keinen Stolz. Er ist ein Eşoleşek!“

„Na und? Er versteht sein Geschäft und wird sicher in ein paar Jahren für immer in die Heimat zurückkehren, wovon wir nur träumen können“, antwortete Anne und vergoss dabei jedes Mal ein paar Tränen.

 

Wir hatten viele Freunde und bekamen oft Besuch. Manchmal kamen so viele, dass die Frauen im Schlafzimmer auf dem Bett saßen und die Männer im Wohnzimmer auf dem Boden.

Meistens war es lustig und traurig zugleich, und immer ging es um die Heimat. Allerdings gefiel das unseren deutschen Nachbarn nicht. Die bekamen nämlich nie Besuch.

Ali Amca sagte immer: „Die Deutschen sind anders als wir. Sie haben keine Freunde und unterhalten sich nur kurz auf der Straße.“

Es war in der Tat so, wie Ali Amca es beschrieb. Die Deutschen bekamen nie Besuch, aber sie redeten dafür beim Bäcker und im Supermarkt sehr lange mit den Verkäuferinnen oder unterhielten sich mit ihren Nachbarn auf der Straße.

Anne sagte: „Jedes Land hat seine eigenen Sitten, deshalb sind wir Türken anders und werden es auch immer bleiben!“

Wir sahen unsere Nachbarn morgens, wenn sie zur Arbeit gingen, und abends, wenn sie wieder zurückkamen. Manchmal wurde es bei uns sehr laut, wenn viele Freunde da waren. Dann klopften die Nachbarn von oben auf den Fußboden oder sie klingelten und baten um mehr Ruhe. Meine Anne ging dann gleich in die Küche, holte einen Teller mit Gebäck, drückte ihn dem Nachbarn in die Hand und entschuldigte sich. Danach stellten alle fest, dass es die Deutschen mit uns auch wirklich nicht immer einfach hätten. Wir wären eben anders, viel gastfreundlicher und warmherziger als die Deutschen. Dabei lächelten sich alle zufrieden und stolz an.

Unsere Eltern verließen das Haus morgens sehr früh, um zur Arbeit zu gehen. Meine Schwester wurde jeden Morgen von unserer Kuckucksuhr geweckt und kam trotzdem immer zu spät in die Schule. Ihre Lehrerin schickte ihr sogar mal einen Brief nach Hause. Aber den zerriss Mine gleich. Ich blieb mit unserem Kater Tekir alleine, bis Mine mittags zurückkam. Das durfte niemand wissen, da mich sonst das Jugendamt geholt hätte.

„Die Deutschen kennen da keine Gnade, Nilgün! Du darfst eigentlich nicht alleine zu Hause bleiben. Die nehmen dich einfach mit, und du musst bei einer deutschen Familie leben, und wir würden uns nie wieder sehen“, sagte Anne jeden Morgen, bevor sie aus dem Haus ging.

Ich durfte das Haus ohne Mine nicht verlassen, aber ich durfte aus dem Fenster schauen. Und für den Fall, dass mich jemand fragen würde, wo meine Anne ist, hatte ich eine überzeugende Antwort auswendig gelernt:

„Meine Mama ist Brot kaufen gegangen. Ich darf nicht mit Fremden sprechen, und sie kommt in fünf Minuten zurück!“ Eigentlich war ich ja auch nie alleine. Unser Kater Tekir war immer bei mir.

Tekir war auch „Türke“ und verstand kein deutsch, wie unsere Eltern. Meine Anne sagte immer: „Tekir ist ein Stück Heimat, und eines Tages wird er mit uns für immer zurückkehren!“ Dabei glänzten Tränen in ihren Augen.

Tekir und ich saßen stundenlang am Fenster, und ich kann mich nicht erinnern, dass es mir irgendwann einmal langweilig geworden wäre, denn es gab immer etwas zu sehen und zu entdecken.

In unserer Straße lebten natürlich auch andere Kinder. Die meisten von ihnen waren schon in der Schule, so wie meine Schwester Mine.

Paola und Giuseppe gingen in die gleiche Schule. Mine und ich waren fast jeden Tag mit den beiden zusammen. Obwohl unsere Eltern kein Italienisch und kein Deutsch sprachen und die Eltern von Paola und Giuseppe auch nur italienisch konnten, mochten sie sich sehr. Sie konnten sich sogar, jeder in seiner Sprache, verständigen. „Menschen müssen nicht die gleiche Sprache sprechen, um sich zu mögen“, sagte Anne.

Von unserem Wohnzimmerfenster aus konnten wir zu Familie Schäufele sehen. Das waren ganz feine Menschen, und sie hatten als Einzige in der Straße ein großes Haus, das sie ganz alleine bewohnten. Sie hatten nur eine Tochter. Ihr Name war Helene.

Helene spielte immer alleine und ab und zu schaute sie aus dem Fenster und lächelte mich an. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen oder mit ihr gespielt. Ich wusste nur, dass sie Helene hieß. Helene durfte nicht mit uns spielen. Ihr Papa wollte das nicht. Ich wusste nicht, was er dagegen hatte, aber vielleicht lag es auch daran, dass sie erst vor kurzem in unsere Straße gezogen waren und uns nicht kannten. Mein Baba mochte Herrn Schäufele gar nicht. „Der meint, er sei was Besseres, weil er Beamter ist und auf dem Rathaus arbeitet, dieser Eşoleşek!“, schimpfte er jedes Mal, wenn es um Herrn Schäufele ging. Ich mochte Herrn Schäufele sehr. Ich war mir sicher, dass er ein wichtiger Mann sein musste. Herr Schäufele trug jeden Tag einen Anzug und eine Krawatte. Er ging jeden Morgen um die gleiche Zeit aus dem Haus und kam auch immer um die gleiche Zeit zurück.

Helene saß bei schönem Wetter auf den Stufen vor ihrer Haustüre und spielte mit ihren Barbiepuppen. Sie sah aus wie eine Prinzessin mit ihren rosa Kleidern und den dazu passenden Schuhen. Sogar ihre Strümpfe und Haarschleifen waren in den Farben auf ihre Kleider abgestimmt.

Helene hatte Haare wie Gold, Augen wie das Marmarameer und eine wunderschöne helle Haut. Meine Schwester war auch ungewöhnlich hellhäutig, weil die Vorfahren meiner Anne vom Schwarzen Meer stammen. Die Menschen dort sind bekannt für ihre helle Haut und ihre blauen Augen.

Meine Anne war ganz anders als die übrigen türkischen Frauen. Annem hatte eine helle Haut, dunkle Augen und sie trug kein Kopftuch wie die meisten türkischen Frauen. Sie hatte Haare, die aussahen wie Milchkaffee, und wenn wir auf eine Hochzeit gingen, schminkte sie sich sogar. Meine Anne war eine sehr schöne Frau und meine Großmutter hatte sie Adalet genannt. Das heißt Gerechtigkeit. Als meine Anne auf die Welt kam, wurde mein Großvater gerade aus dem Gefängnis entlassen. Deshalb hatte sie den Namen „Gerechtigkeit“ bekommen.

Der Name meines Babas war Hasan, aber was das heißt, weiß ich leider nicht. Er war nicht schön. Er hatte schwarze Haare, schwarze Augen und eine dunkle Haut.

Ich hatte auch wenig Farben auf dem Kopf. Meine Augen und meine Haare waren schwarz, und ich sah mit meiner dunklen Haut aus wie die meisten türkischen Kinder. Aber ich war schöner als mein Baba. Baba nannte mich immer „Kara Kızım“, meine schwarze Tochter. Mine nannte er „Pamuk Kızım“, meine Watte-Tochter.

Allah sei gnädig, aber Mine war alles andere als ein luftiges Watteflöckchen. Sie war dick, groß und hatte mit ihren neun Jahren schon richtige Brüste.

„Bald werden sie an unserer Tür klopfen und um deine Hand anhalten, wenn du weiterhin so wächst!“, sagte Anne zu Mine und war immer ganz stolz auf ihre „Watte-Tochter“.

Ich dagegen wurde neben Mine meistens übersehen. Ich war für mein Alter zu klein, hatte schwarze Locken und von Brüsten konnte ich nur träumen.

Aber da war ich nicht die Einzige. Meine Freundin Helene hatte auch noch keine Brüste und war nur wenig größer als ich.

Paola, Giuseppe und Mine konnten Helene nicht leiden. „Die sieht aus wie eine Puppe und ist genauso dumm wie ihre Eltern“, sagte Mine immer, wenn sie an Helene vorbeilief. Helene tat dann so, als ob sie Mine nicht hören würde, und spielte weiter mit ihren Puppen.

Mine war manchmal sehr ungerecht und blöd, aber ich musste auf sie hören.

Ich hatte zwar noch nie mit Helene gesprochen,...

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