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E-Book

Ich und die Anderen

Wie der neue Pluralismus uns alle verändert

AutorIsolde Charim
VerlagPaul Zsolnay Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783552058996
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Wir leben in einer pluralisierten Gesellschaft. Jede Kultur steht neben anderen, es gibt keine selbstverständliche Zugehörigkeit mehr. Doch was ist das überhaupt - eine pluralisierte Gesellschaft? Und was heißt es für den Einzelnen, in einer solchen zu leben? Die Außenperspektive - dass es nämlich immer anders sein könnte, dass man etwas anderes glauben, anders leben könnte - ist heute Teil jeder Kultur. Und diese Veränderung betrifft jeden. Sie verändert den Bezug zur Gemeinschaft, zur eigenen Identität. Die Philosophin Isolde Charim wendet ihre These auf verschiedene Themen an, von der Politik zur Integration über die Definition des Heimatbegriffs bis hin zu den Debatten um religiöse Zeichen.

Isolde Charim, geboren in Wien, Studium der Philosophie in Wien und Berlin, arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der 'taz' und der 'Wiener Zeitung'. 2006 erhielt sie den Publizistik-Preis der Stadt Wien. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Kuratorin am Bruno Kreisky Forum. Bücher u.a.: 'Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden' (Hrsg. gem. mit Gertraud Auer 2012). Bei Zsolnay erschien im Frühjahr 2018 der Band 'Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert'.

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Leseprobe

 

 

Kapitel 1

 

Ein Blick zurück: Die Illusion der homogenen Gesellschaft

 

Wir leben in einer pluralisierten Gesellschaft. Das ist nicht nur ein relativ neues Faktum. Das ist auch ein unhintergehbares Faktum: Es gibt keinen Weg zurück in eine nicht-pluralisierte, in eine homogene Gesellschaft. Das ist eine einfache Feststellung. Nicht ganz so einfach ist die Klärung der Frage, was das genau bedeutet: Was ist eine pluralisierte Gesellschaft? Welche Auswirkungen hat das für jeden von uns? Oder anders gefragt: Was heißt es eigentlich, in einer solchen Gesellschaft zu leben?

Um diese Frage zu beantworten oder um sich einer Antwort auch nur zu nähern, muss man zuerst einmal einen Blick zurück werfen. Um die Reichweite und das ganze Ausmaß der Neuheit zu ermessen, muss man sich den »prä-pluralen« Gesellschaften, also den Gesellschaften Westeuropas vor ihrer Pluralisierung zuwenden. Denn diese geben das Vergleichsmodell ab. Diese homogenen Gesellschaften, also diese Gesellschaften einer relativen ethnischen, religiösen und kulturellen Einheitlichkeit sind gewissermaßen die Negativfolie. Der Hintergrund, von dem sich unsere heutige, unsere pluralisierte Gesellschaft abhebt.

Diese homogenen Gesellschaften waren nicht einfach da. Sie sind nicht einfach gewachsen, sozusagen natürlich. Sie mussten vielmehr erst hergestellt werden. Dazu hat es vieler politischer Eingriffe bedurft. Oftmals brutaler und repressiver Eingriffe. Homogene Gesellschaften sind also das Resultat von bewusstem politischen Handeln. Ein anderes Wort für diesen Vorgang lautet: Nationenbildung.

Es gibt eine Vielzahl hervorragender historischer Studien, die belegen, welcher symbolischen und materiellen Gewalt es bedurfte, um die Nationenbildung seit dem 19. Jahrhundert voranzutreiben. Die Nationenbildung war eine künstliche Vereinheitlichung. Eine Vereinheitlichung, die erst durchgesetzt werden musste. Durchgesetzt gegen eine vorhandene Vielfalt. Dazu bedurfte es eines massiven Vorgehens, eines Vorgehens auf vielen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen: Es brauchte eine materielle, eine emotionale und eine kulturelle Vereinheitlichung.

Nehmen wir etwa die Sprache. Was für ein langwieriger Vorgang war es, all die regionalen Sprachen, all die Dialekte einzuhegen oder auszugrenzen, um eine einheitliche Hochsprache als Landessprache durchzusetzen.

Oder nehmen wir etwas scheinbar Einfaches wie einen Zugfahrplan: Wie viel muss so einem Fahrplan an Vereinheitlichung, an materieller, gegenständlicher Vereinheitlichung vorangehen, damit er funktioniert? Da braucht es die Durchsetzung eines minutengenauen Zeitbewusstseins, die Informationen über Ankünfte und Abfahrten müssen zirkulieren, und sie müssen für alle einsehbar sein. So etwas Einfachem wie einem Zugfahrplan geht eine große materielle, physische Anstrengung voraus: die Anstrengung, eine ganze Gesellschaft auf einen Takt zu stimmen.

Aber diese Anstrengung allein reicht nicht aus. Eine homogene Gesellschaft muss nicht nur materiell vereinheitlicht werden. Sie muss auch emotional in Einklang gebracht werden. Die Einheit einer Gesellschaft muss auch in den Gefühlen verankert werden. Ein ganzes Set an Akteuren – von der Literatur über die Musik, die Bildung bis hin zu den Schulen haben daran mitgewirkt. Etwa indem sie eine zentrale Kategorie der Nation aufgeladen haben: das Territorium. Dazu wurden Orte, Orte wie Grenzen, Landschaften, Städte, Flüsse emotional besetzt. Die emotionale Imagination der Nation vollzieht sich also – auch – im Medium der Territorialisierung nationaler Emotionen, der Rückbindung von Gefühlen an den Raum. Dies vollzieht sich mittels vieler ganz konkreter Praktiken. Natürlich in den Schulen, aber auch bei ganz banalen Alltäglichkeiten – etwa beim Wetterbericht, wie Benedict Anderson berichtete, wo die Umrisse, also die Grenzen des Territoriums eingeprägt und als ein kompakter, eigener (Wetter-)Raum vermittelt werden. So viele, so vielfältige Einübungen in die emotionale Besetzung des Raums. Erst wenn das gelingt, erst wenn es gelingt, die Gefühle mit der Geografie zu verbinden, sind Orte nicht mehr einfach irgendwelche Orte. Erst dann werden sie zu Symbolen.

Die Nationenbildung hat also das Staatsgebiet verdoppelt: Sie hat dem materiellen ein symbolisches Territorium hinzugefügt, um es zu jenem Gebiet zu machen, an das die Gefühle andocken konnten.

Natürlich ist die Behauptung solch einer Homogenität sehr leicht zu widerlegen. Viele Kritiker haben der Nation vorgeworfen, dass sie ihre Homogenität nie wirklich erreicht hätte. Die Einheitlichkeit der Gesellschaft bleibt immer bis zu einem gewissen Grad eine Fiktion – eine Fiktion, die durch massive politische Eingriffe immer wieder hergestellt werden musste. Selbst dort, wo die Nationenbildung äußerst erfolgreich war. Ein ganzes Genre der kritischen Geschichtswissenschaften hat sich diesem Nachweis gewidmet: Die Nation war niemals vollständig. Die homogene Gesellschaft war also niemals gänzlich homogen. Aber all diese Erkenntnisse einer kritischen Geschichtsforschung reichen nicht aus. Denn sie übersehen etwas Wesentliches, etwas, das man nicht unterschätzen darf: Es war eine funktionierende Fiktion.

Die Vorstellung einer homogenen Gesellschaft mag immer eine Fiktion gewesen sein. Aber es war eine Fiktion, die funktioniert hat. Die Nation war sogar eine äußerst funktionsfähige Fiktion.

Seit Benedict Anderson wissen wir: Die Nation ist eine »imagined community« – eine vorgestellte Gemeinschaft. Dieser Titel seines wohl bekanntesten Buches (1983) ist zu einem geflügelten Wort geworden. »Imagined community« bedeutet, dass die Nation als Vorstellung, als Imagination funktioniert. Man könnte auch sagen: Die Grundlage des politischen Gebildes »Nation«, die Grundlage der homogenen Gesellschaft war die politische Vorstellungskraft. Die Leute haben an die Nation geglaubt. Sie haben an die Nation als an eine Realität geglaubt. Und deshalb hat die Nation, so fiktiv sie auch immer gewesen sein mag, funktioniert. Deshalb hat diese Vorstellung, die Vorstellung »wir sind eine Nation«, tatsächlich eine nationale Gesellschaft hervorgebracht. Das heißt nicht, dass die Homogenität jemals wirklich vollständig erreicht wurde. Es gab immer Abweichungen von der Homogenität. Aber die Nation war die politische Form, um eine vielfältige, eine heterogene Masse zu verbinden, zu integrieren. Sie war die politische Erzählung, um die Massen zu einer Gesellschaft zu machen.

In der Literatur wird diese Form der nationalen Imagination immer an Andersons Behauptung festgemacht, die imaginierte Gemeinschaft funktioniere, weil die Mitglieder einer Nation in der Illusion leben würden, alle anderen Mitglieder zu kennen. Insofern sei die Nation eben imaginiert. Und insofern sei sie auch eine Gemeinschaft. Warum aber konnten die Leute das glauben? Die Illusion, dass man alle Mitglieder seiner eigenen Nation kennt, konnte funktionieren, weil die Nation eben nicht nur eine materielle Vereinheitlichung ist – also die Vereinheitlichung von Sprache, Zeit und Raum. Sie konnte funktionieren, weil die Nation nicht nur eine emotionale Vereinheitlichung ist, die ihren Raum und ihre Symbole emotional besetzt. Die Nation brauchte vielmehr noch eine weitere, eine dritte Vereinheitlichung, und das ist eine kulturelle. Diese ist nicht in erster Linie im Sinne einer üppigen, traditionsreichen Hochkultur zu verstehen. Die kulturelle Vereinheitlichung hat sich massenwirksam ganz anders durchgesetzt denn als Hochkultur. Sie hat vielmehr einen Typus entwickelt, den nationalen Typus. Dieser ist ein Typus mit eindeutigen Identitätsmerkmalen. Ein Typus mit ganz klar definierten Eigenheiten. Zum Beispiel der Typus des Österreichers. Oder der Typus des Deutschen.

Aber was genau ist das, dieser nationale Typus?

An dieser Stelle gilt es, eine kurze Anmerkung zu machen. Es gab historisch zwei Bewegungen, die kongruierten: die Demokratisierung der europäischen Gesellschaften und deren Nationalisierung. Diese sind historisch gemeinsam aufgetreten. Eine Verbindung, die Jürgen Habermas »die geschichtliche Symbiose des Republikanismus mit dem Nationalismus«1 nennt, die Koppelung des demokratischen politischen Prozesses mit der nationalen Mehrheitskultur. Nun ist es aber so, dass diese beiden Prozesse zwar gleichzeitig aufgetreten sind, identitätspolitisch aber ganz unterschiedlich sind. Mehr noch: Identitätspolitisch sind Nation und Demokratie sogar gegenläufig. Denn was passiert da in Bezug auf die Identitätsbildung des Einzelnen?

Wir alle, die wir in westlichen, also in demokratischen Nationen leben, wir alle sind bekanntlich verdoppelt: Wir sind Bourgeois und Citoyen, also Bürger und Staatsbürger zugleich. Als Bürger sind wir Privatpersonen. Einzelne mit ganz bestimmten Merkmalen. Mit Merkmalen, die uns unterscheiden: Wir sind Mann oder Frau, arm oder reich, Beamter, Bauer, Lehrer. Was auch immer. Als Citoyen jedoch, also als Staatsbürger, als öffentliche Personen, da sind wir alle gleich. Und genau darin besteht ja das demokratische Moment: Es macht uns zu abstrakt Gleichen.

Demokratie, wie wir sie bisher kannten, ist die Herstellung solch eines »Individuums des Universellen«, wie Pierre Rosanvallon2 das genannt hat. Die Herstellung des politischen Subjekts als Staatsbürger und Wähler, die Herstellung des juristischen Subjekts als Rechtssubjekt. Demokratie bedeutet die Individualisierung der Gesellschaft. Man muss also festhalten, dass die Individualisierung nicht erst mit unserer Gesellschaft aufkommt, sondern eine viel ältere Bewegung ist, die bereits um 1800 herum...

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