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E-Book

Ich war schon immer ein Rebell

Mein Leben mit dem Fußball

AutorEwald Lienen
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783492993449
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Seit Ewald Lienen bei Borussia Mönchengladbach legendärer Linksaußen war, weckt er extreme Gefühle bei Fans und Fachleuten. Als Spieler, Trainer und Fußballfunktionär ist er bis heute ein Querdenker, ein leidenschaftlicher Rebell auf und neben dem Platz. Für einen Sternmarsch ließ er als Spieler schon mal das Training ausfallen, seine politische Haltung kostete ihn die WM 1978, und als Trainer handelt er sich mit seiner Akribie den Beinamen »Zettel-Ewald« ein. Ewald Lienen ist eine einzigartige Gestalt im Profi-Fußball, in seiner Autobiografie erzählt er offen von sich, dem Fußball und seinem Leben, das in einfachen Verhältnissen begann und ihn national und international in die höchsten Fußballligen führte.

Ewald Lienen, am 28. November 1953 in Liemke bei Bielefeld geboren, hat als Spieler und Trainer die Bundesliga geprägt wie kaum ein zweiter. Seit Dezember 2014 ist er beim FC St. Pauli angestellt, zunächst als Cheftrainer und seit Mitte Mai 2017 als Technischer Direktor. Zu seinen größten Erfolgen gehören die dt. Vizemeisterschaft mit Borussia Mönchengladbach und der Gewinn des UEFA-Pokals 1979.

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Leseprobe

Prolog


Und immer wieder dieses Foul

Bonavista, Portugal im Juni 2018. Unser Feriendomizil liegt auf einer Anhöhe in einem Wohngebiet, bestehend aus vielleicht achtzig Häusern. Geschmackvoll gestaltete Gebäude, denen man ansieht, dass sich ihre Eigentümer die absolute Ruhe, die hier zu finden ist, etwas haben kosten lassen. Hell getünchte Hauswände, handgeformte beige Dachziegel, adrett gepflegte Gärten mit Pool. Vormittags huschen Heerscharen von Domestiken und Handwerkern über die Grundstücke, um die betrauten Objekte instand zu halten. 20 Grad sind für diese Jahreszeit eigentlich zu kühl, aber wenn der bedeckte Himmel gelegentlich aufklart, dann brennt die Sonne unerbittlich. Ich habe einen gemütlichen Platz auf einer überdachten Terrasse eingerichtet und begebe mich auf die Reise in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die das Leben schrieb, mein Leben.

Im November 2018 werde ich 65 Jahre alt. So weit bin ich also schon gekommen, immerhin. Kleinere und größere Narben auf Körper und Seele bezeugen, dass das Leben gelegentlich ein Kampf ist. Vor allem auf dem Platz. Der runde Ball und der grüne Rasen bestimmten und bestimmen mein Leben. Das ist eine Passion, gegen die ich mich nicht wehren konnte und wollte. Dabei hatte ich noch ganz andere Pläne.

Eine andere Sportart als Fußball kam für mich nie infrage. Mir hat es immer mehr Spaß gemacht, mit einem Team erfolgreich zu sein. Dieses erhebende Gefühl hätte mir eine Einzelsportart nie geben können. Das änderte sich auch nicht, als ich erwachsen wurde. Es war nie meine Intention, mit Fußball mein Geld zu verdienen. Eigentlich war eine Hochschulkarriere vorgesehen. Aber als die Angebote von verschiedenen namhaften Bundesligisten kamen, wollte ich wissen, wie weit ich kommen konnte, und mich mit anderen messen. Für ein paar Jahre. Aber dann kam alles ganz anders.

Auf der Terrasse in Portugal lasse ich meinen Gedanken freien Lauf, und in dem Film, der vor meinem inneren Auge abläuft, zeigen sich Bilder aus meiner Kindheit und Jugend. Ich sehe mich fußballspielend auf der Straße vor unserem Haus und auf dem Platz des VfB Schloß Holte, meines Heimatvereins. Meine Zeit als junger Spieler bei Arminia Bielefeld und Borussia Mönchengladbach taucht auf. Bei einem Bild stoppt der Film. Alte Gefühle steigen hoch. Ich befinde mich auf dem Rasen des Bremer Weserstadions, werfe einen Blick auf mein rechtes Bein und werde fast ohnmächtig. Ich spüre eine Wut in mir aufsteigen, die mich antreibt, noch immer.

Der Countdown zum Bundesligaspiel bei Werder Bremen am 14. August 1981 begann mit den üblichen Ritualen, die jeder Profifußballer zur Genüge kennt. Am vorherigen Tag fand das Abschlusstraining in Bielefeld statt, und nach einem Mittagessen machten wir uns mit unserem Mannschaftsbus auf den Weg nach Bremen zu unserem zweiten Saisonspiel. Ein paar Stunden später erreichten wir unser Hotel in der Hansestadt. Wir spielten mit Arminia Bielefeld zwar in der ersten Bundesliga, aber es war nicht die Zeit der Nobelhotels mit goldglänzenden Foyers. Wir stiegen in der Regel in Mittelklassehotels ab, normale Preise und zweckmäßig. Wir waren Fußballer und keine Diven. Nachdem wir unsere Zimmer bezogen hatten, gab es zum Abendessen Hausmannskost, ein Rindersteak mit Sauce béarnaise, Dampfkartoffeln und Rosenkohl. Zumindest in Gladbach hatten wir uns immer auf diese »Bremsklötze« gefreut. Anschließend gingen wir mit unseren Spezis draußen noch eine Viertelstunde spazieren. Danach saßen einige Spieler in kleinen Gruppen im Hotel zusammen, der Rest zog sich in die Zimmer zurück. Meistens teilte ich meines mit meinem alten Freund Wolfgang »Latscher« Pohl. Wir redeten, schauten fern und telefonierten mit unseren Frauen, bevor wir gegen Mitternacht das Licht löschten und einschliefen. Es sollte für zwei Tage das letzte Telefonat mit Rosa sein, die mit unserem kleinen Joscha am nächsten Tag mit dem Auto in den Urlaub aufbrechen wollte. Ich würde sie erst wieder nach ihrer Ankunft in Seignosse-le-Penon südlich von Bordeaux erreichen können.

Der Freitag wurde lang bis zum Spiel, da der Anstoß erst um 20 Uhr war. Auch gut, dadurch würde die Sommerhitze noch ein wenig abkühlen. Am Morgen traf sich die Mannschaft zu einem gemeinsamen Frühstück. Was danach passierte, erinnere ich nicht mehr, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir uns unser Spielgerät schnappten und im nahe gelegenen Park »5 gegen 2« spielten. Leicht angeschwitzt trafen wir im Hotel ein, duschten und gingen zum Mittagessen. Es folgte ein obligatorischer Mittagsschlaf. Vor der Besprechung nahmen wir einen kleinen Snack zu uns. Unser Trainer Horst Franz verkündete die Aufstellung und gab einige Hinweise zu unseren Aufgaben auf dem Spielfeld, wozu auch die Standardsituationen gehörten. Dann machten wir uns auf den Weg ins Weserstadion. Den ganzen Tag über war es bewölkt, die Temperatur am Abend lag bei 20 Grad, hervorragende äußere Bedingungen für ein Flutlichtspiel.

Ich war in einer sehr guten Verfassung und freute mich auf die 90 Minuten. Während ich mich in der Umkleidekabine umzog, spürte ich die Art von Anspannung, die meiner Konzentration während des Spiels förderlich sein würde. Ein gutes Zeichen. Wir spielten wie so oft in unserer komplett blauen Adidas-Garnitur, in kurzärmeligen Sommertrikots, mit den unvermeidlichen drei weißen Streifen. Während meiner ganzen Karriere trug ich bei den Spielen Schienbeinschoner, oft auch im Training, die ich am unteren Rand auf den blauen Stutzen mit weißem Tapeband befestigte, damit sie nicht verrutschten. Wie immer achtete ich darauf, dass ich mir das Blut dabei nicht zu sehr abschnürte, zog meine »World Cup«-Stollenschuhe an, und dann ging es raus zum Aufwärmen.

In einem Vorraum vor dem Tunnel, der zum Spielfeld führte, trafen wir vor dem Anstoß auf unsere Gegenspieler. Es gab eine kurze, emotionslose Begrüßung, bevor wir Seite an Seite durch den dunklen Schlauch in die lichtdurchflutete Arena gingen. Der Weg bis dahin führte über einen dunkelgrauen, unansehnlich gewordenen Betonboden, auf dem man leicht das Gleichgewicht verlieren konnte, wenn man nicht aufpasste. Man hörte die lauten, klackernden Geräusche der Stollen auf dem Weg ins Stadioninnere. Manch ein Spieler mag den harten Boden auch dazu genutzt haben, die Alustollen durch Schaben am Boden etwas aufzurauen. Draußen erwartete uns das jubelnde und singende Publikum. Alles war angerichtet im Weserstadion, ich fühlte mich gut und war bereit.

Um kurz nach acht gibt der Schiedsrichter den Ball frei. Das Spiel nimmt recht schnell an Tempo auf, es wird um jeden Zentimeter und Ball gekämpft. Die Zuschauer toben. Um die 18. Spielminute herum spitzelt ein Bremer Abwehrspieler einen Steilpass weg. Mein Sturmpartner Gerd-Volker Schock leitet den abgewehrten Ball zu mir auf halb links weiter, ich nehme ihn nach vorne mit und will gerade Tempo aufnehmen – da kommt Norbert Siegmann von halb rechts, fast frontal auf mich zu, springt mit gestrecktem Bein in mich hinein und trifft mich am rechten Oberschenkel. Durch den Aufprall gehe ich zu Boden und drehe mich instinktiv zur Seite, um auf mein Bein schauen zu können. Dabei sehe ich sofort, dass es seitlich über eine Länge von 25 Zentimetern aufgeschlitzt ist. Ich starre in meinen offenen Oberschenkel, erkenne etwas Weißes, das aussieht wie eine eingelegte Ananasscheibe, und erleide einen Schock.

Ich habe keine Ahnung, ob das die korrekte Beschreibung meiner Reaktion auf die Szene ist, die so viele Fußballfans bis heute als Erstes mit meinem Namen verbinden und auf die ich seither so oft angesprochen wurde, dass es mit Zahlen nicht mehr auszudrücken ist. Jedenfalls kam ich mir vor wie im Schlachthaus. Ich wälzte mich hin und her, schaute immer wieder ungläubig auf die Wunde und gestikulierte mit den Armen. Inzwischen hatte Schiedsrichter Medardus Luca aus Völklingen Norbert eine Gelbe Karte gezeigt, nicht ohne heftige Proteste von den Werder-Spielern Klaus Fichtel und Karl-Heinz Kamp, die selbst das noch ungerecht fanden. Der Schiedsrichter rechtfertigte sich später damit, dass er das Foul, nicht die Folgen bewerten müsse. Wie sich herausstellte, hatten er und sein Team weder vor dem Spiel noch bei Einwechslungen die Stollen der Spieler kontrolliert. Ich rappelte mich auf, humpelte ein, zwei Schritte weiter, ließ mich zurück auf den Boden fallen. Wieder schaute ich auf das Bein, fasste mir mit beiden Händen an den Kopf und schrie. Ich war entsetzt, schockiert, außer mir. Und ich hatte Angst. Mir gingen tausend Dinge auf einmal durch den Kopf. Was ist das für eine Verletzung? Wie lange muss ich aussetzen? Werde ich überhaupt wieder Fußball spielen können?

Und noch etwas anderes schoss mir durch den Kopf. Ich hatte kurz vorher aus den Augenwinkeln eine Szene am Spielfeldrand beobachtet: Werder-Trainer Otto Rehhagel hatte Norbert zu sich herangewinkt, mit dem Kopf in meine Richtung gedeutet, auf ihn eingeredet und dabei unmissverständlich mit seiner Faust in die offene Hand geschlagen. Ich brachte diese Szene sofort mit dem Geschehen in Zusammenhang. In der ersten Viertelstunde hatte sich Norbert mir gegenüber absolut fair verhalten; obwohl ich schon die eine oder andere gute Szene gehabt hatte und ein, zwei Mal an ihm hatte vorbeigehen können, hatte er mich nicht ein einziges Mal gefoult. Blitzartig wurde mir klar, dass Otto mit seiner Intervention zu dem Foul beigetragen hatte.

Ich rappelte mich erneut auf, lief humpelnd Richtung Außenlinie. Aber diesmal hatte ich ein Ziel. Unserem Masseur Pitti Bromby, der mir entgegenstürzte, zeigte ich im Vorbeihinken wie zur Rechtfertigung die Wunde, war aber längst auf dem Weg zu Otto, der mitten auf der Tartanbahn stand. Dabei zeigte ich mit dem ausgestreckten Arm auf ihn und rief: »Du hast ihn aufgefordert, was zu machen!«...

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