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E-Book

ICH WILL RAUS HIER

Anstiftung zum guten Leben

AutorNataly Bleuel
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783451803758
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
'Ich stand in der Mitte meines Lebens. Es war eine große, wunderliche Krise. Oberflächlich besehen ging es mir gut, aber andauernd war da dieser Druck: noch fitter werden, perfekt diszipliniert, selbstoptimiert. Was sollte das alles? Hatte ich - hatten wir alle - Freude am Leben? Ich wusste kaum noch, wie sich das anfühlt. Lebensfreude, Leichtigkeit. Ich sehnte mich danach. Immer mehr und irgendwann wurde die Sehnsucht so stark, dass ich mich aufmachte. Raus!'

Nataly Bleuel, geboren 1967 bei München. Sie studierte Lateinamerikanistik, Soziologie, Germanistik und Geschichte. Auf der Hamburger Henri-Nannen-Schule hat sie das journalistische Handwerk erlernt. Drei Jahre lang war sie Kulturredakteurin, Reporterin und Kolumnistin bei Spiegel Online in Hamburg. Heute lebt sie in Berlin und schreibt für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen.

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Leseprobe

RAUS AUS DEM SYSTEM


Bestandsaufnahme: Wie bin ich hier reingeraten?

Es war mitten am Tag vor einigen Jahren, ich stand auf dem Kopfsteinpflaster, es war warm, die Sonne schien, Kinder lachten und alles war hübsch. Ich war Anfang 40, hatte zwei Jungen und einen Mann, viele Freunde, gute Arbeit und gesunde Eltern. In den Häusern um mich herum lebten Menschen wie wir, am Rand unseres Viertels musste eine Fabrik stehen: Da liefen junge Paare mit zwei Kindern vom Fließband. Alle hier sahen gleich aus. Die Sonne schien, meine Absätze klackerten, in der einen Hand trug ich den Beutel mit Einkäufen, über der Schulter die Tasche mit dem Laptop, es war nachmittags und ich auf dem Weg von meinem Büro nach Hause in unser schönes Heim. Es könnte jedem passieren, in einem Vorort, auf dem Land, in einer anderen Stadt. Ich weiß nicht mehr, ob ich stehen blieb oder ob ich die Schritte beschleunigte. Aber ich erinnere mich sehr genau an das Gefühl, wie ich durch meine Welt lief und plötzlich dachte: Was tust du hier eigentlich?

Es war, als hätten die Fassaden mich plötzlich abgestoßen, als rutschte ich ab. Ich fühlte mich fremd. Als stünde ich in einem Kippbild. Gerade noch hatte alles hübsch ausgesehen und dann plötzlich dieser Gedanke: Wie bin ich hier bloß reingeraten? Ich will sofort raus!

Das war nicht das einzige Anzeichen. Nachts wurde ich wach. Es kam abends und manchmal mitten in der Nacht und es kam immer plötzlich. Beim Einschlafen oder wenn ich schon geschlafen hatte, stürzte ich wie rasend aus einer Betäubung und war mit einem Schlag wach. Dann lag ich in meinem Bett und erblickte den Strahl des Laternenlichts. Warum war es nicht dunkel? Dunkelheit hätte mich gehalten. Und dann begann ich nach hinten wegzukippen. Ich fiel aus den Bezügen zu meiner Umgebung heraus und fühlte mich unverbunden mit dem Rest der Welt. Ich blickte auf mein Leben und dachte, hellwach: Was soll das alles?

Ich wollte das nicht, dieses Gefühl. Ich versuchte, den Lichtstrahl abzuhängen. Ich versuchte, mich so lange mit Lesen abzulenken, dass ich direkt in Tiefschlaf glitte. Ich blieb länger wach und trank schweren Wein. Ich versteckte meinen Kopf unterm Kissen. Ich kippte trotzdem aus den Bezügen. Weg von meinem Haus, meinem Leben, dem Mann neben mir, meiner Geschichte. Ich versuchte, mich festzuhalten, aber da war nur – Leere. Ein Gedanke, immerhin, einer: meine Kinder. Aber der Rest? Ich bekam Angst vor den Nächten.

Eines Abends saß ich mit meiner Freundin auf dem Boden neben ihrem Wohnzimmertisch, darauf hatte sie Oliven, Wein und Käse angerichtet, liebevoll wie immer. Wir kannten uns seit wir Kinder bekommen hatten, es verband uns aber viel mehr, auch unsere Arbeit. Wir wollten reden, doch es gelang uns nicht. Etwas war zwischen uns, wie eine Panzerglasscheibe. Wir schwiegen und sie zupfte mit einem Kneifer die Blättchen aus einer Erdbeere.

Ich versuchte zu verstehen, aber es gelang mir nicht, ich spürte nur immerzu: Sie war mir fremd geworden. Ich hatte die Verbindung verloren. Es fühlte sich schrecklich an, endgültig und kalt. Dabei war sie doch wie ich, eine von uns, aus der Fabrik. Junge Familie, schöne Umgebung, viel zu tun und immer einen knackigen Spruch auf den Lippen. Aber wenn wir zusammenkamen, fühlte ich mich nicht mehr wie eine Person. Sondern wie eine Figur in einem Tableau. Es war ein perfektes Tableau: allen ging es gut, alles passte, alles war nett anzusehen. Aber was, wenn ich nicht mitspielte? Ich spürte das Herz nicht mehr, wo war der Puls?

Ich sah zu, wie sie den Saft aus der Erdbeere sog, und dachte: Wir kennen uns lange, wir sehen uns oft. Aber ich weiß nicht, ob du deine Arbeit magst. Ich weiß nicht wirklich, wie du zu deinem Mann stehst. Ich weiß nicht, ob es richtig war, sich mit Schulden zu belasten. Ich weiß nicht, ob dies das richtige Leben ist. Deine Lider wirken schwer, da ist eine solche Traurigkeit – was verbirgst du dahinter?

Ich nahm einen großen Schluck aus dem Rotweinglas, draußen platterten Autoreifen übers Kopfsteinpflaster und als es wieder still war, holte ich Luft und sagte: »Und du findest wirklich alles gut so?« Sie schwieg. Zupfte wieder an den Erdbeerblättern. Tränen traten in ihre Augen, sie drückte sie weg und sagte: »Ich bin so erschöpft, lass mich bloß in Ruh’!«

Ich wusste, dass ich sie jetzt nicht in den Arm nehmen durfte. Sonst fiele alle Anspannung ab. Und die Angst überwältigt dich wie eine Welle: Es hängt doch an dir, und wenn du jetzt loslässt, bricht alles zusammen.

Sie sah aus dem Fenster, weg von mir und sagte: »Was soll ich denn tun?« Und da rutschte mir dieser Satz heraus, ich sagte: »Du bist doch diejenige, die ihr Leben in der Hand hat – mach es anders!«

Ich erschrak selbst. Ich saß da auf dem Wohnzimmerboden und fühlte mich plötzlich erleuchtet, als hätte eine fremde Zunge durch mich gesprochen. Und so blickte mich auch meine Freundin an, wie eine Außerirdische, nicht von dieser Welt. Diese Szene spiegelt eine Denkfigur wider, und diese tanzte wie ein Derwisch durchs Zimmer. Nüchtern betrachtet, ist es ein revolutionärer Gedankengang von ergreifend schlichter Schönheit: »Keiner zwingt dich zu leben, wie du lebst – denk mal: Du kannst es anders machen!«

Ich sage das mit ironischem Unterton, einer gewissen Distanz. Denn Ironie ist nötig, um mir auch selbst auf die Schliche zu kommen. Sie entsteht aus einer paradoxen Situation: Wenn mir etwas zu nahe geht, distanziere ich mich davon. Von den Dingen und von mir selbst. Also auch von meinen Empfindungen. Und wenn ich mich, mein Verhalten, vor allem aber meine Gedanken und Gefühle, von außen betrachte, wird mir bewusst: Nichts ist, wie es ist. Ich denke nur, dass es so sei. Oder, weniger buddhistisch formuliert: Nichts muss bleiben, wie es ist.

»Kein Mensch hat von dir verlangt«, sagte ich zu meiner Freundin, als sie mich anstarrte wie E.T., »kein Mensch hat von dir verlangt, dass du mit Turboantrieb in deinem Hamsterrad hechelst und dazu immer schön lachst – bis du so alle bist, dass du zusammenbrichst. Kein Mensch. Du tust es. Hör doch einfach auf. Mach es anders.« Sie lachte nicht. Darüber lachen ist nicht immer möglich. Auch wenn Humor Schmerz so angenehm katalysiert. Bleibt da doch die nackte Angst. Die ich genauso kannte. Vor dem Lichtstrahl in der Nacht: Ich mochte weder die Leere im Raum sehen noch mich selbst darin. Ich mochte mich nicht mehr in dieser Umgebung sehen, in dieser glatten Zeit. Ich mochte mich nicht in meiner Freundin sehen, wie in einem Spiegel, der zeigte: Du bist genau so. Ich hatte eine solche Lust, den Erdbeerkneifer aus dem Fenster zu schmeißen – wenn ich nur den Menschen zu fassen bekäme. Es war nicht zum Lachen, und meine Freundin brach bald darauf den Kontakt ab. Was ich verlangte, war zu viel.

Mich selbst – das schieße ich zur Ermutigung voraus –, durchströmte von einem gewissen Moment an etwas wie eine Easy-Rider-Hormonkapsel. Ich schluckte sie, ganz bewusst, ließ sie auf der Zunge zergehen und dann, ahh, alles wurde wunderbar, bis in die Haarspitzen bitzelte es. Das ist die plakativste Erklärung für das, was geschah. Was ich geschehen ließ. Und was mein Leben änderte, mittendrin. Vor, neben und nach dem Unfall.

Es gibt neben der Easy-Rider-Kapsel noch ergänzende Erklärungsansätze: Manche glauben an den Siebenjahres-Rhythmus, der könnte es auch gewesen sein. Denn zweimal hatte mich sieben Jahre vorher die Kinderwunsch-Hormonkapsel überflutet und davor die Ich-werd-jetzt-erwachsen-Hormonkapsel und davor, mit 14, bekam ich Locken. So geht ja die Erklärung: Wir häuten uns alle sieben Jahre, und mit 14 hatte ich schon mal einen Jetzt-düse-ich-in-die-Welt-hinaus-Drive. Vielleicht wechseln sich die Bewegungen in den Siebenjahres-Rhythmen ab: mal konservativ, mal progressiv. Ein ganz kleines bisschen glaube ich sogar an die Theorien, die meine esoterisch interessierten Freundinnen parat haben. An Sonne, Mond und Sterne.

Ganz tief drin aber habe ich eine andere Überzeugung, und die hat viel mehr mit der schon erwähnten Fabrik zu tun. Wir werden die Menschen, die wir sind – oder zu sein glauben –, weil uns die Welt, in der wir leben, dazu macht. Was erwartete die Welt von mir? Besser gesagt: Wie, glaubte ich, sein zu müssen, um mein Leben in dieser westlichen Welt erfolgreich zu meistern?

Ich fange von vorne an. Um zu erklären, wie ich in diese Situation kam, auf dem sonnigen Kopfsteinpflaster, geschockt von dem Gedankenblitz: Ich will raus hier! Diese Bestandsaufnahme wird manchmal ein bisschen wie ein Knäuel wirken, denn das Leben lässt sich nicht fein säuberlich in hier privat, da politisch oder rein persönlich trennen. Ich will versuchen, an den Fäden zu zupfen und Muster und Strukturen erkennbar zu machen. Diese Bestandsaufnahme ist, vom Umfang her, größer als die folgenden Kapitel. Logisch: Hier geht es um die Strukturen des großen Ganzen, des Systems, die sich dann auch im Kleinen wiederfinden. Es ist sozusagen die Schale der Zwiebel von außen betrachtet. Die inneren Schichten werden dünner und kommen zum Kern der Sache, dem Ich. Doch dazu später.

Mit der Arbeit möchte ich beginnen. Denn die Arbeit verbindet jeden Einzelnen mit der Gesellschaft. Durch meine Arbeit nehme ich teil, sie ist für mich ein Tausch: Ich tue etwas, was den anderen irgendeinen Nutzen bringt, und dafür erhalte ich, im Tausch, die Möglichkeit zur Teilhabe am Leben in dieser Gesellschaft. Leute backen Brötchen, damit andere sie essen können, bieten an, Haare zu schneiden, sind ausgebildet, um Kranken zu helfen. Wenn ich keine Arbeit bekomme, als Arbeitsloser oder Asylbewerber, kann ich nicht teilnehmen am Leben der...

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