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E-Book

Ich wollte Liebe und lernte hassen!

Ein Lebensbericht

AutorFritz Mertens
VerlagDiogenes
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783257608717
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Fritz Mertens hat zwei Menschen ermordet. Um die Frage nach dem Strafmaß zu beantworten, soll er seinen Lebenslauf niederschreiben. Sein Bericht ist das bewegende Dokument eines kollektiven Versagens: eine Kindheit, gekennzeichnet durch Krankheit und Misshandlung, die Suche nach Verständnis und die immer wieder darauf folgende Enttäuschung. Ein Buch über das sensible Terrain des kindlichen Gemüts, auf dem wir uns mit aller Vorsicht bewegen müssen.

Fritz Mertens, geboren 1963, ist das Pseudonym eines deutschen Autors, der nach einem Kapitalverbrechen als Jugendlicher einen Bericht über die Straftat verfasste. Zusammen mit seiner Frau eröffnete er 1998 ein gemeinnütziges Jugendzentrum. Mertens starb 2008 im Alter von 44 Jahren an einem Schlaganfall.

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Leseprobe

{13}Am 15.6.1963 bin ich geboren worden, nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause auf dem Sofa. So hat man es mir erzählt. Also ich bin Fritz und versuche hier meine Lebensgeschichte zu erzählen, und das, was ich noch so alles von mir gehört habe, aber ich mich nicht daran erinnern kann, da ich noch zu klein war.

Nachdem mein Vater gehört hat, dass er einen Sohn bekommen hat, ist er bei uns in Villingen durch die Brigach geschwommen, ein kleiner Fluss in der Stadt und nicht gerade der sauberste. Vier Wochen nach meiner Geburt soll ich in ein Säuglingsheim gekommen sein, was ich heute nicht gerade als Nächstenliebe gegenüber seinem Kind empfinde. Wann ich da wieder rausgekommen bin, weiß ich nicht, und das hat mir auch keiner aus der Verwandtschaft bis heute erzählt. Also mein Vater hat mich dann wieder aus dem Säuglingsheim geholt, obwohl meine Mutter dagegen gewesen sein soll. Danach sind wir irgendwann nach Würzburg gezogen, wo meine zwei Brüder Ralf und Uwe zur Welt gekommen sind. Ralf ist zwei Jahre jünger als ich, und Uwe drei Jahre, was ich sehr amüsant finde, wenn ich sie heute ansehe. Danach sind wir wieder nach Villingen gezogen, da mein Vater hier bei den Aluminiumwerken eine Stelle als Gießer gefunden hat und sein eigener Vater, {14}also mein Großvater, auch dort arbeitet, und der Verdienst nicht schlecht sein soll. Wir haben sogar eine Dreizimmerwohnung vom Aluminiumwerk bekommen, und die Miete soll auch nicht besonders hoch gewesen sein. Ach was ich noch vergessen habe. In Würzburg waren mein Bruder Ralf und ich auch noch einmal im Heim, woran ich mich nicht erinnern kann. Also mein Vater ging dann im Aluminiumwerk arbeiten, und meine Mutter führte den Haushalt, bis es ihr zu dumm gewesen sein muss, und sie wieder als Kellnerin arbeiten ging, was meinem Vater nicht gerade gefallen haben muss. Da mein Vater ein sauberes Zuhause gewöhnt ist und immer sein warmes Essen, wenn er nach Hause kam, und das nicht mehr der Fall war, seit meine Mutter arbeitete, gab es zu Hause ab und zu von meinem Vater ein paar ganz gewaltige Wutausbrüche. Da er seine Wut nicht an den Kindern, also an uns, auslassen konnte, weil wir noch zu klein waren, griff er halt immer öfters zur Flasche, das heißt: er hat sich heimlich oft sinnlos besoffen, und wenn dann meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, muss es sogar manchmal zu handfesten Auseinandersetzungen gekommen sein.

Mein Vater muss dann auf kurz oder lang mal ausgezogen sein, zu seinen Eltern, die natürlich meine Mutter von Anfang an nicht ausstehen konnten, da sie keine Zeugin Jehovas war. Da sie am laufenden Band auf meiner Mutter rumgehackt haben, beschloss mein Vater, dort wieder auszuziehen und zu uns zurückzukommen, da er ja meine Mutter liebte und er ja auch noch Kinder hatte, das muss ihm so nebenbei mal eingefallen sein. Kurze Zeit darauf hatte ich auf einmal sogar ein Schwesterchen, das Daniela {15}heißt, und acht Jahre jünger ist als ich. Ach was ich auch noch vergessen habe, das erste Schuljahr musste ich wiederholen, da mich meine Mutter aus der Schule genommen hat, mit der Begründung, ich sei dumm. Wenn mir das damals einer erzählt hätte, hätte ich es sogar geglaubt, denn meine Mutter hat es ja oft genug zu mir gesagt. So, nun kommen meine Erinnerungen. Meine Mutter ging kurz nach der Geburt von Daniela wieder arbeiten, da das Geld nicht langen täte und wir jetzt ein Sechs-Personen-Haushalt wären. In der Zeit, als sie arbeiten war, versorgte ich Daniela, machte die Wohnung sauber und kümmerte mich um meine zwei kleinen Brüder. Es war nicht immer gerade angenehm, meine kleine Schwester trockenzulegen, aber auf sie aufpassen hat mir Spaß gemacht. Mein Tagesablauf zu der Zeit war ganz einfach: Nach der Schule musste ich mich um die Geschwister kümmern, da meine Mutter ja erst nachmittags arbeiten gegangen ist; dann die Wohnung aufräumen, und ab und zu sogar das Abendessen warm machen, wenn mein Vater nicht rechtzeitig von der Arbeit nach Hause gekommen ist. Eines Tages verspürte ich starke Schmerzen in der Hüfte, genau am Hüftgelenk, und als ich es meiner Mutter sagte, da meinte sie, dass es schon wieder weggehen würde, und ich solle nicht so wehleidig sein. Aber die Schmerzen hörten nicht auf. Meine Mutter ging weiter arbeiten, und mein Vater griff wieder öfters zur Flasche, da er irgendwelche Sorgen mit meiner Mutter hatte. Eines Abends hatten sie einen barbarischen Streit, wobei meine Mutter eine Ohrfeige eingefangen hat, da mein Vater besoffen war und sich nicht mehr beherrschen konnte. Als mein Vater eingeschlafen war in seinem Vollrausch, {16}griff meine Mutter zu Schlaf‌tabletten. Sie wollte sich kurz entschlossen einfach umbringen, nur weil sie eine Ohrfeige bekommen hatte.

Als sie dann ins Kinderzimmer kam, mit einer Haribotüte in der Hand, was sehr selten vorkam um diese Uhrzeit, ist mir noch nichts aufgefallen an ihr. Erst als sie vor meinem Bett zusammengebrochen ist, erfasste mich eine lähmende Angst, die ich heute noch nicht beschreiben kann. Nachdem ich meinen ersten Schock überwunden hatte, kniete ich mich neben meine Mutter und versuchte sie wachzurütteln, was mir natürlich nicht gelang. Kurz entschlossen rannte ich ins Wohnzimmer, wo mein Vater auf dem Sofa schlief und unüberhörbar schnarchte. Ich versuchte ihn wachzurütteln, was mir ebenfalls nicht gelang, da ihm der Alkohol zu stark ins Gehirn gestiegen sein muss. Dann vernahm ich das Weinen meiner Geschwister, und ich ging zurück ins Kinderzimmer, dort zog ich Hose und Hemd und Schuhe an, so schnell ich konnte. Meine Hüfte schmerzte, trotzdem beschloss ich, zu meinen Großeltern zu laufen, was eine Entfernung von ungefähr 3 km war. Unterwegs fing ich an zu weinen, ich konnte es nicht zurückhalten, erstens wegen meiner Mutter, und weil die Schmerzen in meiner Hüfte durch das Rennen mittlerweile unerträglich wurden. Als ich dann gegen elf Uhr bei den Großeltern vor der Türe war und Sturm läutete, war ich erschöpft und konnte fast nicht mehr sprechen. Ich versuchte meinen Großeltern klarzumachen, dass meine Mutter sterben müsse, wenn sie keinen Krankenwagen rufen täten. Am Anfang haben sie mir nicht geglaubt, aber nach ein paar Minuten kam es ihnen doch spanisch vor, dass ich um diese Zeit bei ihnen {17}auf‌tauchte. Sie fuhren mit mir dann in die Wohnung zurück, und als sie die Bescherung gesehen hatten, ging alles sehr schnell. Der Krankenwagen kam und transportierte meine Mutter ab. Ich fing wieder an zu schluchzen, und auf einmal stand mein Vater vor mir, es war mir rätselhaft, wie er wach geworden ist, aber er fragte mich drohend, warum ich ihn nicht geweckt hätte. Darauf erwiderte ich, dass ich ihn geweckt habe, er aber nicht aufgestanden sei, sondern sich nur rumgedreht und weitergeschlafen habe. Wir fuhren zum Krankenhaus und erfuhren dort, als sich meine Großeltern erkundigt hatten, dass meine Mutter überleben würde und bald wieder gesund sei.

Auf einmal überfiel mich eine merkwürdige Müdigkeit, aber ich konnte nicht schlafen, weder im Auto noch zu Hause im Bett. Irgendwie war ich ein klein wenig stolz auf mich selber, meine Mutter gerettet zu haben. Nach drei Tagen war meine Mutter wieder zu Hause, und sie war überrascht, dass die Großeltern sich um uns gekümmert hatten, da mein Vater ja arbeiten musste. Auf jeden Fall war die ganze Familie froh, dass unsere Mutter wieder zu Hause war. Ich sagte ihr, das darfst du nie wieder machen, und sie antwortete mir, es wäre besser gewesen, wenn sie gestorben wäre. Auf einmal hatte ich wieder dieselbe Angst, dass sie es noch einmal tun könnte. Aber sie tat es nicht mehr an diesem Tag und auch am nächsten nicht, mir kam es vor, als wenn sich meine Eltern jetzt besser vertragen täten. Meine Schmerzen in der Hüfte hatte ich immer noch, und als ich meinen Vater und meine Mutter darauf ansprach, nahmen sie keine Notiz davon.

 

{18}Das Leben ging bei uns weiter wie gewohnt, nur dass meine Mutter nicht mehr arbeitete und den ganzen Tag zu Hause war. Eines Tages war mein Vater mal wieder stinkbesoffen, als er nach Hause kam. Es gab Streit, und mein Vater warf meiner Mutter eine Blumenvase nach, die an der Wand zerschellte, danach wollte er ihr einen Stuhl nachwerfen, aber beherrschte sich noch im letzten Moment und stellte ihn auf den Boden zurück. Warum sie sich immer öfters gestritten haben, wusste ich nicht und habe es bis heute nicht erfahren, und ich werde es auch jetzt nicht mehr erfahren. Eines Tages kam mein Vater zu mir und fragte, warum ich nicht richtig laufen täte, ich sagte ihm, dass ich Schmerzen in der Hüfte hätte. Er glaubte mir nicht, denn er war wieder unter Alkoholeinfluss, und sagte, ich soll mal im Korridor auf und ab laufen und wenn ich wieder hinken würde, würde er mir eine scheuern. Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und lief im Flur einmal auf und ab. Auf einmal spürte ich einen brennenden Schmerz in meinem Gesicht, mein Vater hatte mir wirklich eine geklebt, und er sagte zu mir, ich soll mich nicht wie ein Krüppel anstellen und es noch mal versuchen. Ich fing nicht an zu weinen, im Gegenteil, ich biss meine Zähne zusammen und ging den Flur auf und ab, und jedes Mal wenn ich wieder vor meinem Vater stand, habe ich eine Ohrfeige bekommen. Mir tat das ganze Gesicht weh, da mein Vater nicht gerade schwach gebaut war, aber ich hatte immer noch keine Tränen in den Augen. Dann kam meine Mutter dazwischen, und ich stürzte in ihre Arme und fing an zu weinen. Eines weiß ich ganz genau: Mit diesen Schlägen, die mir mein Vater an diesem Tag gegeben hatte, hatte er mir für immer eine Angst {19}eingeflößt, und ich habe immer versucht, einen Bogen um ihn zu machen, wenn er besoffen war. Seit diesem Tage hielt...

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