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Ideologisierte Wissenschaft. Rassentheorien deutscher Anthropologen zwischen 1918 und 1933

Rassentheorien deutscher Anthropologen zwischen 1918 und 1933

AutorMichael Vetsch
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2004
Seitenanzahl129 Seiten
ISBN9783638281430
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Lizentiatsarbeit aus dem Jahr 2003 im Fachbereich Gesch. Europa - Deutschland - I. Weltkrieg, Weimarer Republik, Note: 5,5 (CH) = 1,5 (D), Universität Bern (Historisches Institut), Sprache: Deutsch, Abstract: Noch heute herrscht in der Wissenschaftsgeschichte zuweilen die Tendenz, Rassenideologien und Rassentheorien auf am Rande stehende politische Extremisten und Pseudo-Wissenschaftler zurückzuführen. Dies betrifft unter anderem auch die Frage, welchen theoretischen Beitrag die Wissenschaft - und in diesem Kontext insbesondere die Lehre vom Menschen, also die Anthropologie oder Humanbiologie - für die Rassenlehren im Nationalsozialismus geleistet hat und inwieweit sie eine geistige Mittäterschaft an den Massenmorden trägt. Bis vor einigen Jahren war die Ansicht verbreitet, dass die unpolitische und passive Wissenschaftsgilde unter dem Druck des totalitären Systems gestanden habe und machtlos hätte zusehen müssen, wie Politiker und Ideologen die Anthropologie für ihre rassenpolitischen Zwecke missbrauchten. Die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse deuten dagegen auf eine weit über die nationalsozialistische Epoche hinaus führende Kontinuität rassistischer Denkmuster in der deutschen Anthropologie hin. Diese Arbeit möchte mit einer historischen Analyse der deutschen Anthropologie einen Beitrag an die gerade erst einsetzende Aufarbeitung der Geschichte des Fachs leisten. Kürzlich sind zwar ergiebige Biografien einiger führender Anthropologen und Rassentheoretiker entstanden. Noch sind aber bei weitem nicht alle einflussreichen AkademikerInnen und ihre Beiträge zum Rassismus untersucht worden. Es fehlt darüber hinaus an Überblicksdarstellungen, insbesondere auch für die Zeit vor der NS-Herrschaft. Diese Arbeit stellt daher die anthropologische und ethnologische Forschung der Weimarer Republik in den Mittelpunkt und untersucht die Rassentheorien der renommiertesten Wissenschaftler dieser Epoche. Das Resultat ist erschreckend: Viele deutsche Anthropologen vertraten in den 20er- und frühen 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts Theorien mit teilweise deutlichen Affinitäten zum Rassendogma der Nationalsozialisten. Es erstaunt denn auch nicht, dass die grosse Mehrheit der Professoren des Fachs ihre Forschungstätigkeit nach der Machtübernahme ohne grosse Zäsur weiterführt.

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Leseprobe

5.2.1 Otto Reche (1879-1966)


Otto Reche wurde in Schlesien geboren und verbrachte dort seine Kindheit und Jugendzeit. In Breslau begann er sein Medizinstudium, das er in Jena und Berlin fortsetzte. Neben der Medizin widmete er sich nebenbei auch philosophischen Fächern. 1904 promovierte Reche in Breslau in den Fächern Zoologie, Botanik und Geologie. Ein Jahr später studierte er in Berlin Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Seine Lehrer Thilenius und Luschan waren Naturwissenschaftler, die beide aber sowohl anthropologisch als auch völkerkundlich forschten. Reche spezialisierte sich auf die Anthropometrie und ging 1908 nach Hamburg, wo er am Hamburgischen Kolonial-Institut dozierte. Zur gleichen Zeit unternahm er als Anthropologe und Ethnograf eine erste Expedition, die ihn in bis dahin unbekannte Südsee-

Gebiete Neuguineas und Melanesiens führte. 183 Nach seiner Reise hielt Reche neben anthropologischen auch völkerkundliche Lehrveranstaltungen. Er verband den Diffusionismus mit der Rassenlehre und glaubte an die Existenz von mehr oder weniger kulturschöpfenden Rassen. 1918 ernannte ihn der Hamburger Senat zum Professor. 184 Nach dem Krieg rückte die Ethnologie allmählich in den Hintergrund und Reche konzentrierte sich zunehmend auf die biologische Anthropologie. Gleichzeitig wuchs beim Wissenschaftler, der in völkisch-nationalistischen Kreisen verkehrte 185 , das Interesse an der Eugenik. 1924 übernahm er die Leitung des Ethnologisch-Anthropologischen Instituts in Wien und war einer der Initianten für die „Wiener Gesellschaft für Rassenhygiene“. Die zunehmend naturwissenschaftlich geprägte Anthropologie von Otto Reche missfiel vielen etablierten Wiener Fachvertretern, die strikt an kulturhistorischen Erklärungstheorien festhielten. 186 Bereits drei Jahre nach seiner Anstellung in Wien verliess Reche die österreichische Hauptstadt und folgte einem Ruf an die Universität Leipzig. Im Juni 1945 liess sich Reche, der 1937 der NSDAP beigetreten war, emeritieren. Nach einer Inhaftierung durch die Amerikaner wurde ein Entnazifizierungsverfahren gegen Reche eröffnet. Ein Hamburger Fachausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten stufte den Anthropologen als „unbelastet“ ein. 187 Kurz vor seinem Tod wurde Otto Reche im Jahr 1965 mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse ausgezeichnet. 188

Metaphysischer Rassenbegriff

Otto Reche hegte nicht den geringsten Zweifel, dass verschiedene Rassen weit mehr trennte als bloss körperliche Eigenschaften. Eine Rasse, die nach Reches Überzeugung einzig durch die Gene determiniert sei, stellte für ihn eine „seelisch-körperliche ‚Ganzheit’“ dar; sie sei „zugleich ‚Harmonie’, ‚Lebensstil’ und ‚Charakter’“. 189 Nur die alte fast nur von Anatomen betriebene Anthropologie könne mit dem Begriff der Summe von Merkmalen zufrieden sein, „mit dieser rein mechanistischen, materialistischen Vorstellung“. 190 Der Anthropologe glaubte zum Beispiel auch an eine innige Beziehung zwischen der Rasse und der Sprache. Das Entstehen grosser Sprachfamilien sei undenkbar, „wenn die Sprachen

nicht ein Produkt des Rassengeistes wären“. 191 Bei Sprachvermischung bleibe jene Sprache siegreich, die „im Bunde mit der höheren Zivilisation“ auftrete. „So ist das Indogermanische gewissermassen das Leitfossil der nordeuropäischen Rasse: überall, wo es sich findet, da ist es durch Angehörige dieser Rassen hingekommen“. 192 Daher gebe es kein indogermanisches Volk, bei dem sich nicht auch heute noch Menschen fänden, die den Typus des Homo europaeus aufweisen würden, „also langen gut gewölbten Schädel, gut geschnittenes Gesichtsprofil, helle Haut-, Augen- und Haarfarbe usw.“ 193 Reche war überzeugt, dass sich Rasse und Sprache einst deckten. Infolge der Ausbreitung und Vermischung der reinen Rassen habe sich das klare Bild jedoch verwischt. Dies ändere aber nichts an der „Grundtatsache des geistigen Zusammenhangs: die Sprache ist ein Teil der Rassenseele“. 194 Jenen Wissenschaftlern, die diese Erkenntnis in Abrede stellten, warf der Anthropologe einen „Mangel an biologischem Instinkt“ vor. 195

Otto Reche zählte auch Eigenschaften wie die „Staaten bildende Kraft“ zum Bestandteil der Erbanlagen. Diese Gabe, meinte er, besässen etwa die „rassenreinen Neger“ nicht. 196 Früh stand für Reche fest, welche Rasse sich mit den begnadetsten Eigenschaften auszeichnete. Noch vor den erfolgreichen Publikationen von Hans F. K. Günther waren lange und schmale Schädel, helle Haut und blaue Augen für Otto Reche Zeichen für die höchste Entwicklungsstufe bzw. standen für die besonderen Qualitäten der nordischen Rasse. Dem Leipziger Lehrstuhlinhaber lag nicht nur daran, die nordischen Rassenanteile im deutschen Volk zu schützen, es sollte diese auch multiplizieren. Es versteht sich daher von selbst, dass eine Eugenik ohne rassischen Aspekt für Reche nicht denkbar gewesen wäre. 197

Blutforscher und Abstammungsgutachter

Grosse Hoffnung legte Otto Reche in das Gebiet der Erforschung des Blutes. Blutgruppen seien möglicherweise nicht nur ein Rassenmerkmal, sondern „etwas Höheres: ein mehrere Rassen und Arten, vielleicht gar Familien zusammenfassendes Merkmal“. 198 Daher gründete

Reche im Jahr 1926 die „Deutsche Gesellschaft für Blutgruppenforschung“. 199 Die Erwartung, die verschiedenen Rassenanteile eines Menschen mit der Untersuchung des Bluts zu bestimmen, erfüllten sich indes nicht. Im Nationalsozialismus wurde aber eine andere von Otto Reche entwickelte Methode zur Erstellung von rassenkundlichen Abstammungsgutachten angewandt. Noch in seiner Wiener Zeit war der Wissenschaftler von Seiten der Justiz angefragt worden, ob er bereit sei, eine Methode zum Vaterschaftsnachweis zu entwickeln. Reche schlug vor, neben dem Blutgruppenvergleich, der eine Vaterschaft ausschliessen, aber nicht beweisen konnte, eine „morphologische Ähnlichkeitsprüfung“ zwischen Kind, Mutter und mutmasslichem Vater durchzuführen. Diese Analyse umfasste den Vergleich von elf körperlichen Merkmalsgruppen mit über 100 Einzelmerkmalen. Solche körperliche Merkmalsgruppen waren unter anderem die Form und Masse der Hirnkapsel und des Gesamtgesichtes, die Haarfarbe, die Merkmale der Augengegend, der Nase, des Mundes, der Ohrmuscheln oder die Muster der Papillarlinien der Fingerbeeren. 200 Obwohl der Anthropologe nicht einmal den Erbgang aller seiner ausgewählten physischen Merkmale hinreichend untersucht hatte, fertigte er in zahlreichen Prozessen Gutachten an. 201 Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wies Otto Reche selber darauf hin, dass seine Methode des Vaterschaftsgutachtens zur Aufklärung von Zweifelsfällen bezüglich der arischen (gemeint war der „nichtjüdischen“) Abstammung herangezogen werden könnte. 202 Die Juden bezeichnete Otto Reche als Mischrasse, deren Eigenart ihre homogenen seelischen Merkmale sei. Bei der jüdischen Bevölkerung sei „durch starke Auslese bestimmter geistiger Eigenschaften die Einheitlichkeit der geistigen Erbanlagen, besonders des Lebensstiles und des Charakters, noch grösser als auf körperlichem Gebiet“. 203 Reche zögerte nicht, die negativen Stereotypen und antisemitischen Ressentiments, die Günther in seinen Schriften zur Beschreibung der Juden gebraucht hatte, vorbehaltlos zu übernehmen. Den Leipziger Professor störten Juden insbesondere dort, wo er selbst eine bedeutende Rolle spielen wollte. 204 Reches Antisemitismus war vor 1933 jedoch keine bestimmende Konstante in seinen Schriften. Auch nach der Machtergreifung sah der Wissenschaftler bei jüdischen Kollegen und Mitbürgern - in begrenztem Rahmen - über ihre Herkunft hinweg, wenn er ihre

Leistungen schätzte. Noch bedrohlicher als jüdische Menschen wirkten für Reche „Liberalisten, Sozialisten oder gar Marxisten und vor allem die Slawen“. 205

Angst um deutsche Existenz im Osten

Otto Reche hatte seine Jugend in Schlesien verbracht, wo nach dem Ersten Weltkrieg und den Gebietsverlusten besonders viele Deutsche einer völkisch-nationalistischen Gesinnung anhingen. Die slawischen Völker, die nach dem Versailler Vertrag ehemals deutsche Gebiete zugesprochen bekommen hatten, stellten für ihn eine spezielle Bedrohung für das deutsche Volk dar. Wie ernst er die Lage einschätzte, beschrieb Reche im Jahr 1929 in der Zeitschrift „Volk und Rasse“, deren Schriftleitung er inne hatte 206 : „Am schwersten leidet das Deutschtum dort, wo man mit vollem Bewusstsein und planmässig, durch keinerlei Menschlichkeitsgefühle gehemmt und mit schonungsloser Grausamkeit einen regelrechten Ausrottungskrieg [!] gegen unsere Volksgenossen führt, vor allem dort, wo man durch sogenannte ‚Bodenreformen’ (man versteht es heutzutage überall ausgezeichnet, für die raffiniertesten Ausplünderungsmethoden die schönsten Namen zu finden) den Deutschen, wo es nur irgend geht, von Haus und Hof zu treiben sucht“. ...

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