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'Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod'

Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors

AutorOlivier Roy
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783641214340
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Der Tod ist das Ziel: Über den Nihilismus islamistischer Terroristen
Der globalisierte Terrorismus ist kein neues Phänomen. Neu ist, dass Terrorismus und Dschihadismus sich mit dem Todeswunsch des Attentäters verbinden. Olivier Roy, einer der weltweit führenden Islamismus-Experten, warnt davor, die Ursachen des Dschihadismus vor allem in einer Radikalisierung des Islam zu sehen. Nicht die Religion ist es, die die meist jungen Männer anfeuert - ihre Hinwendung zum Terrorismus ist vor allem Ausdruck eines besonders heftig ausgetragenen Generationenkonflikts und einer ausgeprägten Todessehnsucht.

Olivier Roy ist Professor am Robert Schuman Zentrum des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz. Zuvor war er Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) und unterrichtete an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales sowie an der Sciences Po in Paris. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze über den politischen Islam, den islamistischen Terrorismus sowie den Mittleren und Nahen Osten veröffentlicht. Sein Buch 'Der islamische Weg nach Westen' (2006) wurde zu einem häufig zitierten Standardwerk. Olivier Roy ist ein weltweit gefragter Islamismus-Experte.

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Leseprobe

Die terroristische und dschihadistische Gewalt, die seit rund zwanzig Jahren um sich greift, hat etwas zutiefst Modernes an sich.

Natürlich sind weder Terrorismus noch Dschihad etwas Neues. Verschiedene Formen des »globalisierten« Terrorismus (Schrecken verbreiten, indem man, über alle Staatsgrenzen hinweg, entweder hochsymbolische Ziele oder »unschuldige« Zivilisten ins Visier nimmt) entwickeln sich, beginnend mit den Anarchisten, seit Ende des 19. Jahrhunderts und kulminieren in den 1970er Jahren im ersten synchron operierenden globalen Terrorismus, nämlich in dem Bündnis zwischen Baader-Meinhof-Bande, linksextremen palästinensischen Gruppen und japanischer Roter Armee. Aussagen zum Dschihad finden sich im Koran, und in der muslimischen Welt wird regelmäßig darauf Bezug genommen – besonders mit dem Begriff »Mudschahed«, den sowohl die algerische Befreiungsfront (FLN) als auch die afghanische Widerstandsbewegung benutzte.

Neu ist, dass Terrorismus und Dschihadismus sich mit dem Todeswunsch des Attentäters verbinden. Darum geht es in diesem Buch. Von Khaled Kelkal im Jahr 1995 bis zum Anschlag im Bataclan 2015 jagen sich fast alle Terroristen entweder selbst »in die Luft« oder lassen sich von der Polizei erschießen. Und sie tun dies, ohne einen ernsthaften Fluchtversuch zu unternehmen und ohne dass ihr Tod für die Durchführung ihrer Taten zwingend nötig ist. David Vallat, ein Konvertit aus Kelkals Freundeskreis, der ihm seine Waffe beschafft hatte, drückte es so aus: »Die Regel war, sich niemals lebendig schnappen zu lassen. Sobald Kelkal die Polizisten sieht, weiß er, dass er sterben wird. Er WILL sterben.«1

Zwanzig Jahre später legen die Kouachi-Brüder dieselbe Haltung an den Tag. Mohammed Merah [der Attentäter von Toulouse 2012] fasste seine Motivation in den von Osama Bin Laden geprägten und in vielen Abwandlungen oft wiederholten Satz: »Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.«2 Der Tod des Terroristen ist von zentraler Bedeutung für sein Vorhaben, er ist also nicht bloß eine seiner Tat innewohnende Möglichkeit oder eine unglückliche Folgeerscheinung. Dieser Todeswunsch findet sich ebenfalls bei den Dschihadisten, die sich dem Islamischen Staat anschließen. Auch sie empfinden das Selbstmordattentat als den bevorzugten Endpunkt ihres Einsatzes.

Dieses systematische Streben nach dem eigenen Tod ist etwas Neues. Die Attentäter der 1970er und 1980er Jahre, egal ob sie mit dem Nahen Osten in Verbindung standen oder nicht, planten ihre Flucht sorgfältig. Die muslimische Überlieferung erkennt zwar die Verdienste des Märtyrers an, der im Kampf stirbt, bringt aber demjenigen, der den Selbstmord anstrebt, keinerlei Wertschätzung entgegen, denn ein solcher Tod greift in den göttlichen Willen ein. Warum suchen Attentäter dann seit zwanzig Jahren mit schöner Regelmäßigkeit den Tod? Was sagt diese Tatsache über den zeitgenössischen islamischen Radikalismus aus? Was sagt sie über unsere Gesellschaften aus? Diese Beziehung zum Tod geht mit einer weiteren Besonderheit einher: Zumindest im Westen (aber auch im Maghreb und in der Türkei) ist der Dschihadismus eine Jugendbewegung, er spielt sich außerhalb des religiösen und kulturellen Bezugsrahmens der Eltern ab, ist aber untrennbar mit der »Jugendkultur« unserer Gesellschaften verbunden. Diese generationsspezifische, ziemlich moderne Dimension ist essenziell und doch keine exklusive Eigenart des heutigen Dschihadismus. Der Aufstand der Generationen begann mit der chinesischen Kulturrevolution. Erstmals in der Geschichte wandte sich eine Revolution nicht gegen eine Klasse, sondern gegen eine bestimmte Altersstufe (der Große Vorsitzende selbst natürlich ausgenommen). Die Roten Khmer und der Islamische Staat sollten diesen Hass auf die Väter wiederbeleben, und auch in der Tatsache, dass überall auf der Welt ganze Bataillone von Kindersoldaten entstehen, ist eine morbide, aber universelle Dimension dieses Hasses erkennbar. Wo auch immer er auftritt, geht dieser gegen die ältere Generation gerichtete Hass zwangsläufig mit einem weiteren gemeinsamen Phänomen einher: der kulturellen Bilderstürmerei. Man vernichtet nicht nur Körper, sondern auch Statuen, Tempel und Bücher – also das Gedächtnis. »Reinen Tisch machen« ist das verbindende Projekt der Roten Garden, der Roten Khmer und der Legionäre des Islamischen Staates. Ein britischer Konvertit des Islamischen Staates hat es so beschrieben:

»Wenn wir auf die Straßen von London, Paris oder Washington gehen, werden die Folgen noch bitterer für euch werden, denn wir werden nicht nur euer Blut vergießen, sondern auch eure Statuen zerstören, eure Geschichte ausradieren. Und am schlimmsten wird sein, dass wir eure Kinder konvertieren lassen. Sie werden unseren Namen preisen und ihre Vorfahren verfluchen.«3

Diese Verbindung zwischen Tod und Jugend ist keine Nebensächlichkeit oder eine rein taktische Frage (ein Selbstmordattentat ist angeblich effizienter, ein Jugendlichter leichter manipulierbar). Zwar ziehen alle Revolutionen junge Menschen an, aber nicht alle diese jungen Leute sind Todessucher oder Bilderstürmer. Die bolschewistische Revolution zog es vor, die Vergangenheit in ein Museum zu verwandeln statt in ein Ruinenfeld, und niemals hat man im revolutionären, islamischen Iran erwogen, Persepolis in die Luft zu sprengen.

Diese todbringende Dimension des Terrorismus hat mit der Geostrategie des vorderen Orients nichts zu tun, die ihrer ganz eigenen Logik folgt. Politisch und strategisch betrachtet ist sie sogar kontraproduktiv. Denn der mit dem Kalifat und dem IS zusammenhängende Todeswunsch (zeitlich nach dem globalen Projekt al-Qaida) macht jede politische Lösung, alles Verhandeln und jegliche Stabilisierung der Gesellschaft innerhalb anerkannter Grenzen unmöglich. Für einen Menschen, der den Tod sucht, gibt es nichts zu verhandeln, und jemand, der den Todessucher unter Umständen zeitweise manipuliert, hat keine Kontrolle mehr über das Räderwerk, das er in Gang gesetzt hat. Die Kulturrevolution, die Roten Khmer, die Lord’s Resistance Army in Uganda, die Armeen aus Kindersoldaten in Liberia, der Völkermord in Ruanda – all diese Ereignisse erscheinen uns heute nur noch wie Albträume, die selbst die überlebenden Mörder angeblich nur in einem Zustand von Trance erlebt haben.

Das Kalifat ist eine Wunschvorstellung: Es ist der Mythos von einem ideologischen Gebilde, dessen Territorium sich ständig erweitert. Strategisch ist es eine Unmöglichkeit, und das erklärt unter anderem, warum die Menschen, die sich mit dem Kalifat identifizieren, eher einen Pakt mit dem Tod schließen, als sich mit den Sorgen und Bedürfnissen der Muslime vor Ort zu beschäftigen: Es gibt keine politische Perspektive, es kommen keine besseren Tage, an denen man zumindest in Frieden wird beten können. Zwar ist das Konzept des Kalifats Teil des muslimischen religiösen Imaginären, aber der Todeswunsch gehört nicht dazu. Der Salafismus, dem man doch alles erdenklich Böse unterstellt, verdammt den Selbstmord, weil er sich eine Gott vorbehaltene Entscheidung anmaßt. Vor allem anderen setzt sich der Salafismus die Aufgabe, das Verhalten des Einzelnen zu reglementieren. Er regelt alles, sogar die Anwendung von Gewalt. Ein Salafist sucht nicht den Tod: Seine Obsession ist das Heil, deshalb braucht er das Leben, um sich auf die Begegnung mit seinem Herrn vorzubereiten, und zwar am Ende eines Lebens, das er den Gesetzen und Riten getreu geführt hat.

Ebenso wenig vermögen gesellschaftliche Frustrationen, Proteste und politische Aufstände als Erklärung für diese Form des Terrorismus herzuhalten, der dieses Politische ja geradezu »tötet«, bevor man überhaupt nach den politischen Ursachen der Radikalisierung gefragt hat. Es besteht keine direkte Verbindung zwischen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Revolten und dem Übergang zum Terrorismus.4 Sicher gibt es Ereignisse, die sich als Symptome sozialer und politischer Spannungen erklären lassen; sobald man aber von einem Symptom spricht, erkennt man eine psychologisierende oder metaphysische Herangehensweise an: Handelt es sich tatsächlich um ein Symptom, dann hat man die politische Rationalität hinter sich gelassen.

Schließlich ist der suizidale Terrorismus auch aus einem militärischen Blickwinkel betrachtet nicht effizient. Denn während der »einfache« Terrorismus einer gewissen Rationalität folgt (der Rationalität des asymmetrischen Krieges oder eines »Preis-Leistungs-Verhältnisses«, bei dem einige entschlossene Einzelne einem weit überlegenen Feind empfindliche Verluste zufügen), so ist beim Selbstmordattentat nichts dergleichen der Fall. Dass trainierte Kämpfer nur ein einziges Mal zum Einsatz kommen, ist keineswegs »zweckmäßig«. Die Wirkung dieses Terrors zwingt die westlichen Gesellschaften nicht in die Knie, vielmehr sorgt er dafür, dass sie sich ihrerseits radikalisieren. Und außerdem führt diese Art des Terrorismus zu mehr muslimischen als westlichen Toten. Die Welle des Terrors, die während des Ramadan 2016 den Irak, die Türkei, Saudi-Arabien (sogar Medina), den Jemen und Bangladesch überzog, hat sämtliche Karten neu gemischt: Wie soll man eine solche Offensive noch als Kampf gegen den westlichen Neokolonialismus verkaufen?

Meiner Meinung nach ist ein Schlüssel für die derzeitige Radikalisierung deren systematische Verbindung mit dem Tod; diese nihilistische Dimension ist von zentraler Bedeutung. Ihre Faszination besteht in der Revolte an sich, nicht in irgendeinem utopischen Konstrukt. Gewalt ist kein Mittel, sondern Zweck. Es handelt sich um eine No-future-Gewalt. Wäre das nicht der Fall, dann...

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