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E-Book

Im Restaurant

Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne

AutorChristoph Ribbat
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl228 Seiten
ISBN9783518744994
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Seit im Paris des 18. Jahrhunderts die ersten »restaurierenden« Etablissements eröffneten, geht es im Lokal immer auch ums Sehen und Gesehen-Werden, um das Zeigen von Stil und Distinktion - und um das Gefühl, bei Fremden und doch zu Hause zu sein. Die ungeduldigen Gäste halten das Personal mit ihren Extrawünschen auf Trab. Doch es sind die Kellnerinnen, Ober und Köche, die das Geschehen insgeheim kontrollieren und den Herrschaften bisweilen buchstäblich in die Suppe spucken. In der Küche, an der Theke, bei Tisch kollidieren Genuss und Schwerstarbeit, Eleganz und Ausbeutung, kulturelle Diversität und Rassismus. Ob edel oder schmuddelig: Restaurants sind ein Spiegel der Gesellschaft.
Christoph Ribbat montiert die packenden gastronomischen Erfahrungen von Küchenarbeitern und Kochgenies, Kellnerinnen und Philosophen, Feinschmeckern und Soziologinnen. Er blickt hinter die Kulissen und spannt dabei den Bogen von den ersten Pariser Gourmettempeln über den Aufstieg des Fast Food bis zu den innovativsten Köchen unserer Zeit. Doch er präsentiert nicht nur eine kosmopolitische Geschichte des Restaurants, sondern auch ein temporeiches Erzählexperiment zwischen Kulturwissenschaft und Doku-Roman.



<p>Christoph Ribbat lehrt am Institut f&uuml;r Anglistik/Amerikanistik der Universit&auml;t Paderborn. Sein Buch <em>Im Restaurant </em>stand auf der Shortlist f&uuml;r den Preis der Leipziger Buchmesse und wurde in vierzehn Sprachen &uuml;bersetzt. Zuletzt erschien bei Suhrkamp <em>Die Atemlehrerin: Wie Carola Spitz aus Berlin floh und die Achtsamkeit nach New York mitnahm.</em></p>

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Leseprobe

2.
Nachkriegshunger


 

James Baldwin wird mit einer gefüllten Wasserkaraffe nach einer Kellnerin werfen – einer jungen Frau, die er eigentlich erwürgen will. Baldwin ist in Harlem aufgewachsen, dem Zentrum der schwarzen amerikanischen Kultur. Er ist der Sohn eines Baptistenpredigers. Schon als Teenager leitete er selbst Gottesdienste. In Harlem wird er für seine Klugheit und seine rhetorischen Fähigkeiten gefeiert. Jetzt aber, es ist das Jahr 1942, befindet er sich auf der anderen Seite des Hudson, in New Jersey. Er arbeitet in einer Waffenfabrik. Eigentlich ist er nicht weit weg von zu Hause. Aber viele seiner Kollegen hier, Schwarze wie Weiße, stammen aus den strikt rassengetrennten Südstaaten. Und so werden die Codes des Südens auf New Jersey übertragen.

Das bekommt Baldwin zuerst nicht mit. Er besucht dasselbe Selbstbedienungsrestaurant drei Mal, steht an der Theke zusammen mit weißen Kollegen seines Alters, bestellt und wundert sich, warum es so lange dauert, bis er seinen Hamburger und seinen Kaffee bekommt. Beim vierten Mal wird ihm klar, dass er auch bei seinen ersten drei Besuchen nicht bedient worden ist. Er hat sich einfach jedes Mal, ohne es zu wissen, Hamburger und Kaffee eines anderen Gasts genommen. In diesem Lokal gilt: Keine Speisen, keine Getränke für Schwarze, für ihn. Überall – auch in Bars, Bowlingbahnen, Wohnhäusern – regiert die Rassentrennung, und immer wieder verstößt James Baldwin gegen die ungeschriebenen Gesetze. Er fällt auf, wird ausgelacht, wird angeschrien. Schließlich verliert er den Job in der Rüstungsfabrik.

An seinem letzten Abend in New Jersey verabredet er sich mit einem weißen Freund. Im Kino sehen sie This Land Is Mine, einen Spielfilm über die deutsche Besatzung in Frankreich. Nach dem Film gehen sie etwas essen. Das Lokal heißt »American Diner«. Was sie wollten, fragt der Mann an der Theke. »Was glauben Sie, was wir wollen?«, gibt Baldwin barsch zurück. »Wir wollen Hamburger und Kaffee.« Das aber war nicht die Frage.1

*

Simon Wiesenthal, Architekt, überlebt die Zeit im Ghetto. Er entgeht knapp einer Erschießung. Er begeht Selbstmordversuche. Er überlebt einen Todesmarsch nach Buchenwald, einen Transport nach Mauthausen. Im sogenannten Todesblock des Konzentrationslagers befindet er sich jetzt, im Frühjahr 1945, und hungert. Er ist 1,80 groß und wiegt weniger als fünfzig Kilo. Die Befreiung ist nah. Amerikanische Flugzeuge fliegen über das Lager hinweg. Aber weiterhin sterben täglich Menschen im Block.

Wiesenthal kommt mit einem polnischen Essensträger ins Gespräch: Eduard Staniszewski. Sie kennen sich aus Posen. Staniszewski plant, nach Kriegsende ein Lokal zu eröffnen. Er bittet Wiesenthal, ihm Pläne für diese Gaststätte anzufertigen. Bleistifte und Papier bringt er ihm. Wiesenthal entwirft. Er macht eine Vielzahl von Skizzen, genug für ein ganzes Buch. Selbst die Kleidung der Kellnerinnen zeichnet er. Im Todesblock sterben die Häftlinge. Ihre tägliche Essensration beträgt zweihundert Kalorien. Eduard Staniszewski bringt Wiesenthal mehr Brot, im Austausch für seine Ideen. Sie reden darüber, welche Form die Tische des Lokals haben sollten. Sie diskutieren über Teppiche und ihre Farben.

Auch nach der Befreiung Mauthausens sterben Tausende von Häftlingen an Unterernährung. Eduard Staniszewski wird die Skizzen Wiesenthals noch jahrzehntelang aufbewahren. Das Lokal wird nie eröffnet. Aber Simon Wiesenthal überlebt.2

*

Der Bochumer Junge ist siebzehn und hat Hunger. Er war Flakhelfer, dann kurz Soldat. Freiwillig hat er sich zur Wehrmacht gemeldet. Im Frühjahr 1945 hat er eine Flakstellung an der Oder bedient, sich dann in Richtung Westen aufgemacht, einen weiten Bogen um Berlin geschlagen. Er hat tote KZ-Häftlinge im Straßengraben liegen sehen. Im Mai 1945 landete er in einem Kriegsgefangenenlager in Boizenburg an der Elbe. Zu essen gab es kaum etwas. Bald wurde er verlegt in ein weiteres Lager auf Fehmarn. Auch dort war er hungrig, monatelang. Und er spielte fortwährend Skat. Nach der Entlassung verbrachte er Zeit im Schwarzwald, wo ihn Bäuerinnen mit Unmengen von Essen verwöhnten. Der Hunger ging. Nun ist er wieder daheim in Bochum. Der Hunger ist wieder da.3

1945 und 1946 nehmen erwachsene Deutsche am Tag durchschnittlich 1412 Kalorien zu sich. Die offizielle Ration sichert 860 Kalorien.4 Ältere Verwandte des Jungen sind an Unterernährung gestorben. Er will eine Skatbekanntschaft aus dem Gefangenenlager nutzen, um die Not seiner Familie zu lindern. Also macht er sich auf zum Hof dieses Münsterländer Bauern. Aber er ist nicht der Einzige, dem diese Idee gekommen ist. Alle Skatspieler aus dem Lager trifft er dort wieder. Nun sind sie Konkurrenten um Speck, Butter, Kartoffeln.

Immer wieder taucht der Junge aus dem Ruhrgebiet im Münsterland auf. Oft hat er nichts, was er eintauschen kann, um auch nur Fallobst oder Getreide von den Landwirten zu bekommen. In einem Sack Graupen, den er ergattert hat, krabbeln schwarze Käfer. Er sortiert sie sorgfältig heraus.5

*

Amerikanische Journalisten sind im Paris der Nachkriegszeit unterwegs. Sie entdecken eine neue Generation französischer Intellektueller, die ihre Tage in Cafés und Restaurants verbringen. Ein Reporter des Magazins Time beobachtet Jean-Paul Sartre im »Café de Flore«, wo dieser stets anzutreffen sei, schreibe und doziere. Sein für Life arbeitender Kollege steuert dasselbe Lokal an, sieht Sartre dort Besuch empfangen, Geschäftsgespräche führen, Interviews geben. Der Philosoph schlafe in einem Hotelzimmer, so der Reporter der New York Times, und lebe am Tisch seines Stammcafés. So interessiert sind die amerikanischen Reporter an französischen Denkern und ihren Lieblingsgaststätten, dass selbst ein Kellner des »Café de Flore« im Dezember 1946 von einem Time-Reporter gebeten wird, seine Meinung zum Existenzialismus abzugeben. Der Kellner, Pascal genannt, bekennt sich zu Sartres Ideen.

Die amerikanische Faszination für auswärts essende Philosophen ist nicht ganz zufällig. In den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit wird die Rolle des Intellektuellen neu definiert. Einflussreiche Denker sehen sich nicht mehr als kritische Außenseiter, sondern als vitale Patrioten der Mittelschicht. Sie sind Antreiber einer neuen, effizienten, nun im Kalten Krieg befindlichen Gesellschaft. Sartre und Simone de Beauvoir beschreibt die US-Berichterstattung als kaum ernst zu nehmende Genussmenschen, deren linker Pessimismus als Pose gesehen wird. Ihr Lebensstil scheint die Widersprüche des europäischen Intellektualismus auf anschaulichste Weise zu belegen. Und so unterstreichen die amerikanischen Medienberichte nur allzu gern die vermeintlich luxuriösen Genüsse Sartres und de Beauvoirs in den Pariser Restaurants. Sie berichten von »saftigen Abendessen, von exzellenten Weinen begleitet und abgerundet von gut gealterten Likören« – bevor es dann in den Nachtclub ginge, wo die pessimistischen Intellektuellen tanzten, bis in die frühen Morgenstunden.6

*

Im »American Diner« bescheidet man Baldwin und seinem Freund: »We don't serve Negroes here.« Die übliche Antwort. Baldwin fällt die Ironie auf, die sich aus dem Namen des Restaurants und der Behandlung von Amerikanern wie ihm ergibt. Noch bleibt er ruhig. Aber zurück auf der belebten Straße, erfasst ihn der Zorn. Ihm erscheint es, als ob alle, die ihm hier begegnen, weiß seien und als ob sie sich alle auf ihn zu bewegen, ihn angreifen würden. Und so geht er weiter, wie in Trance, hört die Stimme seines weißen Freunds, lässt ihn zurück, läuft und spürt, wie seine Aggressionen immer intensiver werden. Er kommt zu einem eleganten, funkelnden, gigantischen Restaurant. Er weiß genau, dass sie ihn hier niemals bedienen werden. Aber das ist ihm egal. Er geht hinein und setzt sich an den ersten freien Tisch. Es erscheint die Kellnerin. Sie ist weiß. In ihren großen Augen sieht Baldwin ihre Angst. Das macht ihn noch wütender. Er will der Angst einen Grund geben.

»We don't serve Negroes here«, sagt sie. Ihr Ton ist nicht feindselig, eher entschuldigend und, tatsächlich, ängstlich. Baldwin will nur ihren Hals zwischen seinen Händen spüren, sie würgen. Er tut so, als verstehe er sie nicht. Er will, dass sie näher kommt, damit er sie attackieren kann. Sie macht nur einen kleinen Schritt in seine Richtung. Dann sagt sie den ihr aufgetragenen Satz noch einmal. »We don't serve Negroes here.«7

*

Joseph Wechsbergs Vater ist im Ersten Weltkrieg gefallen. Seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Er hat überlebt. Und er schreibt über die faszinierende Vielfalt gekochten Rindfleischs im Restaurant des Wiener Hotels »Meissl & Schadn«. Folgende Spezialitäten werden dort serviert, oben im ersten Stock: Mittleres Kügerl, Dünnes Kügerl und Dickes Kügerl, Weißes Scherzl, Schwarzes Scherzl, Tafelspitz und Tafeldeckel, Schulterschwanzl, Schulterscherzl, Bröselfleisch und Ausgelöstes, Brustkern und Brustfleisch, Kavalierspitz und Kruspelspitz. Und noch mehr. Keiner der Gäste würde hier »gekochtes Rindfleisch« bestellen, schreibt Wechsberg, so wenig, wie ein Kunde bei Tiffany's einen »Stein« verlangen würde. Alle wissen von den zweiunddreißig verschiedenen Rindfleischteilen und den vier spezifischen Qualitätsstufen. Man wähnt sich als Mitglied einer sehr exklusiven Gesellschaft. Und auch die Rinder gehören dem Club an. Sie werden auf dem Gelände einer Zuckerraffinerie in einem...

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