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E-Book

Immer weniger Kinder?

Soziale Milieus und regionale Geburtenraten in Deutschland

AutorBarbara Elisabeth Fulda
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783593433851
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis41,99 EUR
Die demografische Entwicklung ist seit Langem Thema öffentlicher Debatten. Weitgehend unbemerkt geblieben sind jedoch die deutlichen regionalen Unterschiede der Geburtenraten in Deutschland. Sinkende Fertilität ist nicht überall zu beobachten, in manchen Regionen ist sie sogar ähnlich hoch wie in den als besonders familienfreundlich geltenden Ländern Schweden und Frankreich. Barbara Fulda zeigt anhand einer Fallstudie zweier Landkreise, weshalb die bisherigen Erklärungen die deutlichen regionalen Unterschiede nicht ausreichend dokumentieren: Historisch gewachsene kulturelle Normen von Elternschaft und Familie sind zu berücksichtigen.

Barbara Fulda ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Chemnitz.

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Leseprobe
Dank
Seit geraumer Zeit ist die Geburtenentwicklung Thema öffentlicher Debatten in Deutschland. In diesen Debatten geht es nicht nur um den Fakt der zunehmenden Alterung der Bevölkerung oder die Zukunft der Sozialsysteme. Verschiedenste politische und gesellschaftliche Lager ringen um Meinungshoheiten und die richtige Interpretation von Gründen und Folgen dieser Entwicklung. Die Familie ist längst keine Privatsache mehr. Rollenbilder von Frauen und Männern werden zunehmend hinterfragt und der Begriff der Familie steht zur Debatte. In diesen Diskussionen um die adäquate Interpretation der Hintergründe der niedrigen Geburtenzahlen überraschte mich eine Feststellung: In manchen deutschen Landkreisen ist die Geburtenzahl so hoch, wie man es nur von den geburtenstarken Ländern Schweden und Island kennt. Die Einordnung Deutschlands als Niedrigfertilitätsland schien zu wanken.
Je eingehender ich nach Antworten für dieses Phänomen suchte, umso mehr Fragen ergaben sich: Warum hat die kürzlich erfolgte Einführung eines erweiterten Anspruchs auf Kindertagesbetreuung oder des Elterngeldes nicht überall den erwarteten positiven Effekt oder wird in unterschiedlichem Ausmaß in Anspruch genommen? Warum werden in manchen Landkreisen mehr Kinder geboren, als man es anhand der Zahl der angebotenen Kindergartenplätze oder der regional guten wirtschaftlichen Lage vermuten könnte?
Unter den vielen Gründen für diese Ungereimtheiten wurde ich insbesondere aufmerksam auf einen Aspekt: regionalkulturelle Gegebenheiten. In der Literatur bestehen seit Längerem Vermutungen, dass die soziale Umgebung und damit auch das historische kulturelle Erbe eine entscheidende Rolle für die Höhe regionaler Geburtenzahlen spielt. Wie genau, war bislang jedoch ungeklärt, ebenso, wie dieser Einfluss mit den bekannten Faktoren, etwa dem Kinderbetreuungsangebot, interagiert. In meiner Dissertation habe ich mir deswegen die Aufgabe gestellt, diesen Vermutungen durch eine Kombination quantitativer Analysen, qualitativer Forschung, beispielsweise in Form von Interviews in verschiedenen sozialen Umgebungen, und durch das Studium regionalhistorischer Quellen nachzugehen.
Die Möglichkeit, diesen innovativen Weg gehen zu dürfen, verdanke ich ganz wesentlich der wissenschaftlichen Neugierde, Offenheit und Ermunterung meines Betreuers, Wolfgang Streeck, dem ich für seine konstruktiven Kom- mentare und die kritische Begleitung meiner Dissertation zu großem Dank verpflichtet bin. Diese Offenheit und Neugierde habe ich auch immer wieder durch Kollegen und Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (MPIfG) erfahren dürfen. Die anregenden Diskussionen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlichster Fachrichtungen haben mir immer neue Einblicke gewährt und mich ermahnt, nicht zu vergessen, in welchem gesamtgesellschaftlichen Kontext die von mir beobachteten Entwicklungen geschehen. Ebenso bedanke ich mich herzlich bei meinem Zweitgutachter Karsten Hank, der stets ein offenes Ohr hatte und mir mit hilfreichen Kommentaren und aufmunternden Worten immer wieder zur Seite stand.
Mein herzlicher Dank für ihre stets guten Ideen, hilfreichen Kommentare und aufbauenden Worte gilt auch meinen Kollegen Timur Ergen, Lukas Haffert, Sebastian Kohl und Daniel Mertens, die zur selben Zeit ähnliche Herausforderungen beim Verfassen ihrer Dissertationen zu meistern hatten. Armin Schäfer danke ich für interessante Diskussionen, gute Ideen, konstruktive Kritik und emotionale Unterstützung. Sara Weckemann und Annina Assmann haben mir viele inhaltliche Anregungen gegeben und in produktiven Diskussionen neue Einsichten vermittelt. Sarah Berens hat mich immer wieder inhaltlich unterstützt und motiviert. Auch ihr gilt mein besonderer Dank. Zuletzt hat mir die unermüdliche Arbeit der nichtwissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am MPIfG dabei geholfen, so manche Hürde leichter zu überwinden und einige Hürden nicht einmal bemerken zu müssen. Vielen herzlichen Dank!
Mein größter Dank gebührt Daniel Hargesheimer, der mich liebevoll durch alle Phasen dieser Dissertation begleitet hat, mit dem ich stets meine Fragen und Zweifel erörtern konnte und der mir immer unterstützend und aufmunternd zur Seite stand. Ihm und meiner Familie ist dieses Buch gewidmet.

Köln, im Januar 2016Barbara Elisabeth Fulda

Kapitel 1 Einleitung
'Die Bevölkerungspyramide in der Bundesrepublik Deutschland steht auf dem Kopf' (Deutscher Bundestag 2002: 12). Den nationalen öffentlichen Diskurs in Deutschland über die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme prägen wesentlich die seit Jahrzehnten sinkenden Geburtenraten, oft verbunden mit dem Hinweis auf die negativen Folgen für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme (siehe Abbildung 1-1). Deutschland wird im Vergleich zu anderen westlichen Industrieländern wie Schweden oder Frankreich als Niedrigfertilitätsland betrachtet (zum Beispiel Bujard et al. 2012). Diese Einordnung hat auch die Forschung zum demografischen Wandel in den letzten Dekaden beeinflusst. Vor dem Hintergrund eines starken Geburtenrückgangs und einer steigenden Lebenserwartung in Deutschland konzentriert sich ein Großteil der Forschungsarbeiten auf den nationalen Kontext und länderübergreifende Vergleiche der Determinanten dieser Entwicklung.
Von der niedrigen nationalen Fertilitätsrate, die im Jahre 2012 bei 1,38 Kindern pro Frau lag,1 auf eine regional ebenso niedrige Fertilitätsrate zu schließen, leitet allerdings fehl: Hinter dem Durchschnittswert der deutschen Fertilitätsrate verbergen sich große regionale Unterschiede der Geburtenzahlen.2 Innerhalb beider Landesteile unterscheidet sich die Anzahl neu geborener Kinder regional deutlich: In Westdeutschland reichen die Unterschiede von 1,14 bis 1,8 Kindern pro Frau, während sie in Ostdeutschland von 1,26 bis 1,5 Kinder pro Frau reichen.3 Darüber hinaus unterscheiden sich Ost- und Westdeutschland hinsichtlich der verbreiteten Familienformen. Außerdem ist in Ostdeutschland, abgesehen vom globalen Trend der Anpassung des ostdeutschen an das westdeutsche Fertilitätsniveau, ab dem Zeitpunkt der Wiedervereinigung eine starke Dynamik des Fertilitätsverhaltens zu beobachten (Basten/Huinink/Klüsener 2011; Kopp 2002). Stark und Kohler (2005) weisen angesichts dieser Unterschiede darauf hin, dass die Fertilitätsrate das aggregierte Ergebnis regional heterogenen Fertilitätsverhaltens darstellt, dessen Unterschiede angesichts der prominenten Besprechung der niedrigen nationalen allgemeinen Fertilitätsrate in der öffentlichen Berichterstattung in den Hintergrund treten. Über das tatsächliche generative Verhalten der Bevölkerung könne jedoch nur eine Untersuchung regionaler Muster der Familienbildung Auskunft geben. Aufgrund der regionalen Diversität der Geburtenraten in Deutschland spricht die Akademie für Raumforschung und Landesplanung4 sogar von einem Mosaik von in ihrer demografischen Entwicklung teils wachsenden, teils schrumpfenden Teilgebieten. Offensichtlich gibt es in Deutschland Regionen, in denen steigende Geburtenraten zu beobachten sind, was vor dem Hintergrund der insgesamt niedrigen Geburtenrate überrascht. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, wie sich diese von anderen Regionen mit niedrigen Fertilitätsraten unterscheiden und warum regional unterschiedlich viele Kinder in Deutschland geboren werden. Offenbar werden verschiedene Akteure, die in derselben Region leben, in ihren Handlungen ähnlich durch regionale Faktoren beeinflusst.
Regionale Unterschiede der Familienbildung werden üblicherweise durch den Einfluss struktureller Faktoren wie unterschiedlicher Infrastrukturen5, der unterschiedlichen wirtschaftlichen Lage von Regionen oder der unterschiedlichen soziostrukturellen Zusammensetzung der Bevölkerung erklärt (Gude 2010; Hank/Kreyenfeld/Spieß 2004; Huinink/Wagner 1989). Diese Faktoren werden in quantitativen Studien als erklärende Variablen eingesetzt und können die regionalen Unterschiede bereits zu einem Großteil erklären. Allerdings indiziert die verbleibende unerklärte Varianz in quantitativen Analysen, dass weitere Faktoren erklärend für diese regionale Variabilität sind. Gerade Regionen, in denen eine höhere oder niedrigere Fertilitätsrate besteht, als auf Basis der bekannten Faktoren zu erwarten wäre, stellen bisher unerklärte Fälle dar. Angesichts dieser Evidenz verweist Hank (2003a: 95) auf den Einfluss 'raumgebundener sozio-kultureller Milieus [...], die sich z. B. in der Akzeptanz nichtehelicher Lebensgemeinschaften und vorehelicher Elternschaft, oder in kollektiven Erwartungen [...] voneinander unterscheiden.' Diese Aussage knüpft an Naucks (1995) Feststellung an, dass staatliche sozialpolitische Anreize nur in Kombination mit unterschiedlichen, in regionalen Milieus verbreiteten Leitbildern der Lebensführung wirken und somit jeweils unterschiedliche Effekte auf die Familiengründung oder -erweiterung haben beziehungsweise zuweilen sogar wirkungslos sein können. Nauck kritisiert in seiner Untersuchung über regionale Milieus von Familien in Ost- und Westdeutschland die theoretischen Annahmen bisheriger Erklärungen national unterschiedlicher Geburtenraten als 'struktur-funktionalistisch', da sie sich eindimensional auf historische Unterschiede zwischen den politischen Systemen West- und Ostdeutschlands und deren pfadabhängige Wirkung konzentrieren. Regionale Unterschiede im Fertilitätsverhalten in Deutschland beschränken sich, so Nauck, dagegen nicht nur auf Ost-West-Unterschiede und damit auf den Einfluss früherer politischer und ökonomischer Systeme. Tatsächlich bestehen innerhalb Ost- und Westdeutschlands deutlich größere Unterschiede in den Fertilitätsraten als zwischen Ost- und Westdeutschland.6 Nauck weist bei der Erklärung regionaler Unterschiede von familiärer Lebensführung deshalb auf die Wichtigkeit räumlicher sozialer Kontexte hin.
Für andere Aspekte der Lebensführung wurde der Einfluss regionaler sozialer Kontexte bereits nachgewiesen. Kearns und Parkinson (2001) etwa stellen einen Einfluss sozialer Milieus auf die physische Gesundheit ihrer Mitglieder fest. Auch das Armutsrisiko (Friedrichs 1998), das Wahlverhalten (Schäfer 2012) sowie die Tendenz zu kriminellen Verhaltensweisen (Oberwittler 2010) werden durch den sozialen Kontext beeinflusst. Ergänzend zu den genannten strukturellen Unterschieden könnten subnationale Fertilitätsunterschiede in Deutschland also mit kulturellen Unterschieden umfassender erklärt werden. Angesichts dessen und in Fortführung von Naucks Analyse regionaler sozialer Milieus wird in dieser Arbeit die These überprüft, dass regionale soziale Milieus einen Beitrag zur Erklärung regionaler Unterschiede der Geburtenzahlen leisten. Eine hinreichende Erklärung für diese Unterschiede kann danach nur gegeben werden, wenn nicht nur strukturelle regionale Bedingungen und die soziostrukturelle Zusammensetzung der Bevölkerung betrachtet werden, sondern auch deren Übersetzung in individuelle Handlungsorientierungen, die vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit eines Individuums zu einem sozialen Handlungskontext stattfindet.7 Eine solche Erklärung verknüpft dabei sowohl unterschiedliche Vorstellungen von Raum und Räumlichkeit als auch unterschiedliche methodische Vorgehensweisen miteinander, wie ich im Folgenden darstelle.
Um regionale Geburtenunterschiede zu erklären, wird in der demografischen Forschung häufig auf die regionale soziostrukturelle Zusammensetzung der Bevölkerung und die regionale Struktur verwiesen. Die implizite Annahme, zumeist unter Bezugnahme auf die familienökonomische Theorie (Becker1981), ist, dass Individuen auf ähnliche regionale Strukturen in gleicher Weise reagieren. Somit kann fast schon deterministisch eine bestimmte Verhaltensreaktion aus einem regionalen Einflussfaktor abgeleitet werden. Regionen, die sich in ihrer regionalen Struktur und der soziostrukturellen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung ähneln, sollten danach eine regional ähnlich hohe Fertilitätsrate haben. Dabei wird angenommen, dass die Fertilitätsrate das Ergebnis individueller Entscheidungen ist, die wiederum auf individuellen Merkmalen basieren.8 Der Raum als eigenständige Größe, in dem historisch gewachsene Regionalkulturen in sozialen Praktiken ständig reproduziert werden, und der Mensch als kulturelles Lebewesen spielen in diesem Konzept kaum eine Rolle. Löw (2001: 224) betrachtet den Raum dagegen als 'relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen an Orten'. Nicht der Raum selbst als 'physisches Substrat', sondern 'die einzelnen sozialen Güter und Lebewesen weisen Materialität auf', so Löw (ebd.: 229). Diese Idee von Raum ist Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung.
Während raumungebundene Erklärungsmodelle eher Gemeinsamkeiten zwischen Regionen beleuchten, helfen nur Erklärungen, die Raum und Zeit einbeziehen, dabei, regionale Unterschiede zu erklären.9 Gerade weil sie die Rolle des Raums unterschiedlich betrachten, stehen beide Herangehensweisen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Methodisch drückt sich das darin aus, einerseits quantitative Analysen derselben Faktoren an einer Vielzahl von Regionen durchzuführen oder andererseits wenige Regionen mit ihren spezifischen historischen Hintergründen detailliert zu betrachten. Im vorliegenden Fall soll eine Verschränkung beider Herangehensweisen versucht werden. Wo der quantitative Ansatz mit seinen räumlich ungebundenen einheitlichen Erklärungsansätzen keine weiteren Erkenntnisse mehr liefert, wechselt die Perspektive zur detaillierten qualitativen Untersuchung einzelner Regionen, um weitere Erklärungen für regionale Unterschiede von Geburtenraten zu finden. Dies ermöglicht es, zusätzlich zur regionalen Struktur auch die jeweilige regionale Kultur zu untersuchen. Umgesetzt wird dieses Vorhaben durch die Identifikation zweier Landkreise, deren Fertilitätsraten in einer quantitativen Analyse nur unzureichend erklärt werden. Diese sind Waldshut und Fürth. Während Fürth eine höhere Fertilitätsrate hat als in der quantitativen Analyse erwartet, ist diejenige von Waldshut deutlich niedriger als erwartet. Diese Diskrepanz stellt den Ausgangspunkt der qualitativen Analyse in beiden Landkreisen dar.
Ziel dieser Arbeit ist es, die bisher in der Forschung bestehende Konzentration auf strukturelle und sozioökonomische Einflussfaktoren zu überwinden und um eine kulturelle Erklärung zu erweitern. Bei der Betrachtung des Zusammenspiels dieser Einflüsse werden auch Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen, vielmehr explizit anerkannt. Ausgangspunkt ist ein Raumkonzept, das unterschiedliche geografische Räume nicht ausschließlich durch Merkmale wie Größe und Dichte, sondern auch als soziale Kontexte definiert. Durch die Betrachtung sozialer Regionalkontexte ist es möglich, Erklärungen für Handlungsorientierungen von Individuen zu geben, die durch die bisherigen Herangehensweisen nicht gegeben werden können, denn: 'Money or education per se does not make children or does not inhibit any birth' (Lutz 2013: 17). Bisherige Erklärungen regionaler Fertilitätsunterschiede fußen auf dem zeitlich-linearen Denkkonzept der Moderne (zum Beispiel Rinderspacher 1985) und nehmen implizit die Konvergenz regionaler Fertilitätsunterschiede an. Diese Grundannahme von Modernisierungstheorien, gleichzeitig auch Grundlage vieler Arbeiten zu regionalen Unterschieden der Fertilitätsraten, wird hier durch ein Denkmodell der Stabilität sozialer Handlungskontexte ersetzt.
Den Hintergrund für die detaillierte qualitative Betrachtung beider Regionen bildet das Konzept regionaler Milieus, das bekanntlich schon Nauck (1995) in seiner Untersuchung über regionale Unterschiede familiärer Lebensführung in Ost- und Westdeutschland aufgreift. Nach Hradil (2006: 4) werden soziale Milieus als 'Gruppen Gleichgesinnter [verstanden], die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen'. In der Literatur werden sie als wandelbar angenommen, sie ändern sich jedoch annahmegemäß nur langsam. Der Einfluss von Milieus ist über längere Zeit gewachsen und damit recht stabil über die Zeit. Das Konzept eignet sich für diese Studie, da es regionale Unterschiede der Lebensführung sowohl durch sogenannte objektive Faktoren in der Sozialstruktur, die sich regional bündeln beziehungsweise überzufällig häufig gemeinsam auftreten, als auch durch eine kulturelle Dimension erklärt. Letztere lässt sich empirisch anhand einer Bündelung von Werten in regionalen sozialen Milieus beobachten (Hradil 2006: 4). Eine Analyse regionaler Milieus setzt also die Untersuchung
'subjektiver' Indikatoren wie individueller Einstellungen, Handlungspräferenzen, Normen und Werte voraus. Wo die Erklärungen regionaler Geburtenzahlen durch bekannte Indikatoren keinen Erklärungsbeitrag mehr leisten, ergänzt sie eine Erklärung auf Basis des Konzepts sozialer Milieus. Da unabhängig von Einkommen und Bildungsniveau seit Jahrzehnten eine zunehmende Variation von Lebensstiltypen zu beobachten ist, eignet sich dieses Konzept auch für die Untersuchung regional unterschiedlicher Muster der Familienbildung.10 Gleichzeitig erfasst das Konzept überindividuelle Einflüsse auf individuelles Verhalten. Stoll (2012) weist daraufhin, dass durch die Mitgliedschaft in sozialen Milieus erklärt werden kann, warum sich Individuen nur unter bestimmten Umständen (zweck-)rational entscheiden.
Das Forschungsvorhaben basiert auf der Annahme, dass Individuen auch Entscheidungen über Lebensereignisse wie die Geburt eines Kindes in Relation zu ihrem sozialen Umfeld treffen.11 Entscheidungen werden unter Einbeziehung der in sozialen Milieus verbreiteten normativen Muster und institutionalisierten Lebensverläufe getroffen, wie Elder, Johnson und Crosnoe (2003: 8) im Folgenden beschreiben:
Social pathways are the trajectories of education and work, family and residences that are followed by individuals and groups through society. These pathways are shaped by historical forces and are often structured by social institutions. Individuals generally work out their own life course and trajectories in relation to institutionalized pathways and normative patterns. (Elder/Johnson/Crosnoe 2003: 8)
Das hier angewandte Milieukonzept grenzt sich von Definitionen ab, die Milieus als räumlich ungebunden ansehen. In diesem Sinn entwirft etwa Schulze (1992) fünf Wahlmilieus. Stattdessen wird in unserem Fall ein räumlicher Bezug sozialer Milieus angenommen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine Annahme über ihre räumliche Größe zu treffen. Soziale Milieus gelten üblicherweise als kleinräumig verwurzelt; allerdings wurden bisher keine konkreten Vorschläge für ihre Größe gemacht.12 Vorgeschlagen wird als räumliche Größe in unserem Fall die Wohnumgebung von Individuen. Das soziale Umfeld in diesen kleinen räumlichen Einheiten, in denen ein Individuum einen Großteil seiner Lebenszeit verbringt, beeinflusst Individuen auf vielfältige Weise, so die Annahme.
In dieser Arbeit wird gezeigt, dass Milieus direkt und indirekt Einfluss auf ihre Mitglieder ausüben. Indirekt, da sich die gegebenen regionalen Bedingungen für Familien, etwa die Ausgestaltung von Kinderbetreuungsangeboten, zwischen sozialen Milieus unterscheiden. So wie sich die Ausgestaltung von Kinderbetreuungsangeboten aufgrund von regionalen Leitbildern der Familie unterscheidet, beeinflussen Leitbilder der Familie auch die Anzahl an verfügbaren Krippen- und Kindergartenplätzen.13 Einen Teil der elterlichen Betreuungsaufgaben unter Bedingungen fortschreitender Vermarktlichung auf den Staat zu übertragen, erscheint demnach regional unterschiedlich leicht umsetzbar. Die Mitglieder eines sozialen Milieus werden durch ihr soziales Milieu direkt beeinflusst, indem den Leitbildern nicht entsprechendes Verhalten durch andere Milieumitglieder negativ und umgekehrt entsprechendes Verhalten positiv sanktioniert wird.
Regional verbreitete Leitbilder stellen den Bezug zwischen sozialen Milieus und regional unterschiedlichen Aggregatmerkmalen wie einer unterschiedlich hohen regionalen Geburtenhäufigkeit her. Der Handelnde passt sich nicht nur an regionale Strukturen an, sondern er orientiert sich in seinem sozialen Handeln an den Erwartungen anderer und damit an den ihn umgebenden, sozial vorstrukturierten Situationen. Diese Erklärung widerspricht dem bereits genannten, weitverbreiteten Strukturalismus in den gängigen Erklärungen fertilen Verhaltens, der sich beispielsweise darin äußert, es als erklärbar durch die regional unterschiedliche Anzahl an Kinderbetreuungsplätzen oder die Wirkung sozialpolitischer Maßnahmen zu betrachten. Eine solche Sicht ignoriert, dass einheitliche familienpolitische Maßnahmen regional unterschiedliche, zuweilen ungewollte Folgen haben, welche sich aus dem kreativen Umgang der regionalen Akteure mit diesen Institutionen ergeben. Laut Streeck und Thelen (2009) sind Institutionen Systeme sozialer Interaktion, die erst in der kontinuierlichen Interaktion zwischen Akteuren definiert werden. So werden immer neue Interpretationen einer Regel entdeckt, erfunden, vorgeschlagen, zurückgewiesen oder übergangsweise angenommen. Auch Leitbilder spielen in diesen Interpretationen eine Rolle, da sinnvolle Handlungsorientierungen von den Akteuren unter Bezugnahme auf Leitbilder entwickelt werden und nicht allein aus regionalen Strukturen abzuleiten sind.
Eine bedeutende Eigenschaft sozialer Milieus sind somit die in ihnen verbreiteten Familienleitbilder. Diese sind für die empirisch beobachteten regionalen Unterschiede in Familienmustern relevant. Deren Muster haben sich regional als Folge des seit Langem beobachteten Trends zur Individualisierung und Pluralisierung ausdifferenziert (Brüderl 2004). Giesel (2007: 52) geht davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzen wird.
Ein zentrales Ergebnis dieser Analyse beider sozialer Milieus ist, dass sich Mitglieder desselben Milieus insbesondere in den von ihnen vertretenen Familienleitbildern ähneln. Durch den Vergleich von zwei in ihren Fertilitätsraten untypischen Landkreisen kann gezeigt werden, dass in regionalen sozialen Milieus vorherrschende Familienleitbilder einen Einfluss darauf haben, wie viele Kinder in diesen Landkreisen geboren werden. Ausgangspunkt der Untersuchung ist, dass die tatsächlichen Fertilitätsraten der Landkreise Waldshut und Fürth von den in einer quantitativen Analyse erwarteten Fertilitätsraten abweichen und in ihnen gleichzeitig unterschiedliche soziale Milieus bestehen. Während das modernisierte Milieu in Fürth eine höhere Geburtenzahl kennzeichnet als aufgrund der bisherigen Erklärungen erwartet, stellt sich der Sachverhalt im traditionalen Milieu in Waldshut genau umgekehrt dar. Der Vergleich von Waldshut und Fürth macht darüber hinaus deutlich, wie unterschiedlich dieselben politischen Maßnahmen in unterschiedlichen sozialen Milieus wirken können. So sind Kinderbetreuungsangebote vor dem Hintergrund unterschiedlicher Familienleitbilder unterschiedlich ausgestaltet. Auch werden sie von den Eltern in unterschiedlichem Ausmaß in Anspruch genommen. Eine Betrachtung der regional verfügbaren Anzahl an Kinderbetreuungsplätzen sagt demnach wenig über das tatsächlich bestehende Angebot aus. Das regionale Kinderbetreuungsangebot kann somit nur durch Einbeziehung seiner konkreten Ausgestaltung bewertet werden.14 Dieses Ergebnis erklärt regional unterschiedliche Effekte von familienpolitischen Maßnahmen wie dem Ausbau öffentlicher Kinderbetreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren (BMfSFJ 2010), der durch Bund, Länder und Kommunen im Jahre 2008 beschlossen wurde.
Die in der demografischen Forschung verbreitete Annahme der familienökonomischen Theorie, dass individuelle Rationalität reproduktives Handeln leitet, wird in der Arbeit (regional-)kulturell konzeptualisiert. Generatives Handeln ist von den in sozialen Milieus verbreiteten Leitbildern beeinflusst. Diese unterscheiden sich unter anderem im akzeptierten Umfang, in dem individuelle Rationalität bei der Entscheidung für Kinder eine Rolle spielen sollte. Anders als von der familienökonomischen Theorie angenommen, sind Präferenzen von Akteuren regionalkulturell beeinflusst und können deswegen regional unterschiedlich sein. Die Berücksichtigung regionaler sozialer Milieus in der Erklärung regionaler Fertilitätsunterschiede verdeutlicht außerdem, dass allgemein akzeptierte Zusammenhänge wie der negative Zusammenhang von Frauenerwerbstätigenrate auf die Geburtenrate nur in bestimmten sozialen Milieus gelten. Eine Pluralisierung der Lebensformen ist demnach genauso nicht per se familienfeindlich, wie das male breadwinner model ('Ernährermodell') nicht per se familienfreundlich ist. Zudem wird das in der Forschung übliche einheitliche Bild des ländlichen Raums infrage gestellt. Die Studie verdeutlicht anhand der Untersuchung von zwei in ländlichen Regionen gelegenen sozialen Milieus, dass der ländliche Raum in Deutschland über den bekannten Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Regionen hinaus regionalkulturell heterogen ist. Ländliche Regionen unterscheiden sich voneinander nicht nur hinsichtlich der soziostrukturellen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung, sondern auch hinsichtlich ihrer Regionalkultur.
Die in der Literatur bekannte Umkehrung des Zusammenhangs von Geburtenrate und Modernisierungsgrad von Ländern (Castles 2003) lässt sich in dieser Studie auch subnational beobachten und wird durch eine Mikrofundierung ergänzt. Wurden im traditionalen Milieu vor einigen Jahrzehnten noch mehr Kinder als im modernisierten Milieu geboren, hat sich dies nun umgekehrt. Subnational ist zu beobachten, dass diese Umkehrung regional nur in
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