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Individualisiertes Lernen als Strategie zum Umgang mit Heterogenität in der beruflichen Bildung

AutorBoris Wesemann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl241 Seiten
ISBN9783640960231
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Pädagogik - Berufserziehung, Berufsbildung, Weiterbildung, Note: 2,0, Universität Hamburg (Instituts für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Hamburg), Sprache: Deutsch, Abstract: Lerngruppen sind während der letzten Jahrzehnte in sämtlichen Schulformen immer heterogener geworden. In dieser Feststellung decken sich die Alltagserfahrungen von Lehrern mit den Ergebnissen bildungssoziologischer Studien. Die Ursache dafür sind gesellschaftliche Entwicklungen: Infolge von Globalisierung, internationaler Migration, Pluralisierung familiärer Lebensformen und gesellschaftlicher Individualisierungstendenzen werden traditionelle Lebenszusammenhänge weitgehend aufgelöst und durch sehr vielfältige Lebensweisen ersetzt. Soziokulturelle Heterogenität zeichnet unsere Gesellschaft aus: 'Man lebt als Einzelkind oder mit Geschwistern, mit arbeitslosen oder beruflich völlig überlasteten Eltern, mit der deutschen, der russischen, der türkischen Familiensprache, in Armut oder im Überfluss, behütet oder verwahrlost.' Entsprechend groß sind die Unterschiede in den Lernhaltungen, Kompetenzen, Erwartungen und Interessen der Schüler einer Klasse. Dieser Heterogenität muss Schulunterricht pädagogisch produktiv begegnen. Das gilt insbesondere für die berufliche Bildung. Wie keine andere Schulform des deutschen Bildungssystems sind berufsbildende Schulen durch eine markante Heterogenität in der Vorbildung ihrer Schüler geprägt. In der Berufsvorbereitung beispielsweise bilden Schulabgänger mit und ohne Bildungsabschluss von Haupt-, Real- oder Förderschulen einen Klassenverband. In Berufsschulklassen werden Auszubildende unterrichtet, die in verschiedenen Betrieben mit sehr unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen ausgebildet werden. Das formal zertifizierte Bildungsniveau innerhalb einer Lerngruppe variiert dabei nicht selten vom Hauptschulabschluss über das Abitur bis hin zu einer bereits abgeschlossenen Berufsausbildung und vorhandener Berufserfahrung. Die Berufspädagogik ist angesichts der vielschichtigen Strukturen in der Gesellschaft und im Klassenraum herausgefordert, Unterrichtsmethoden verstärkt zu individualisieren. Die Erfahrungen mit individualisierender Didaktik sind in der beruflichen Bildung jedoch sehr gering. Individualisierende Unterrichtsformen werden zwar zunehmend in den Unterrichtsalltag an berufsbildenden Schulen integriert, es finden sich jedoch kaum evaluierte Konzepte oder empirische Untersuchung. Trotz oder gerade wegen des Forschungsdefizits setzt sich diese Arbeit mit individualisierten Lernprozessen an berufsbildenden Schulen und ihrer Bedeutung für den Lernerfolg der Schüler auseinander.

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Leseprobe

3. Individualisiertes Lernen


 

„Mir ist alles verhasst, was mich bloß belehrt

, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben

Johann Wolfgang von Goethe

 

Individualisierende Lehr-Lern-Konzepte orientieren sich an den unterschiedlichen Lernhaltungen, Kompetenzen, Erwartungen und Interessen der einzelnen Schüler einer Klasse. Sie sind demnach ebenso heterogen wie die Schülergruppen, denen sie versuchen gerecht zu werden. In der einschlägigen Literatur lässt sich keine einheitliche Definition von individualisierenden Unterrichtsarrangements finden. Die Forderung nach einer stärkeren Individualisierung des Lernens in der schulischen Praxis, als Inhalt von Fortbildungen oder als Teilaspekt der Lehrerausbildung, wird zunehmend präsenter. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und konsequenterweise in der praktischen Umsetzung an Schulen werden unter Individualisierung jedoch ausgesprochen unterschiedliche Verfahren subsumiert.[50]

 

Individualisiertes Lernen wird als programmatische Kennzeichnung von vielen so genannten „neuen“ oder „erweiterten Lernformen“ in Anspruch genommen. In Freiarbeit, im offenen Unterricht, in der Wochenplanarbeit, in Projekten oder auch im handlungsorientierten Unterricht bezeichnet die Individualisierung des Lernens auf unterrichtlicher Ebene eine besonders konsequente Umsetzung der inneren Differenzierung. Unter innerer Differenzierung werden Maßnahmen verstanden, die Klassenverbände zeitweilig in verschieden starke Gruppen einteilen. Die einzelnen Gruppen oder Partner können dann während einer Unterrichtseinheit ihren Voraussetzungen entsprechend verschiedene Aufgaben bearbeiten, im selbstgewählten Lerntempo voranschreiten oder in ihren Zielen, Anforderungen und Lernwegen differieren. Beim individualisierten Lernen werden dabei die spezifischen Fähigkeiten jedes einzelnen Schülers stärker beachtet, wodurch die Einbeziehung der individuellen Persönlichkeit jedes Gruppenmitgliedes ermöglicht wird.[51]

 

Durch verschiedene Lernformen, die als wichtige Instrumente der Individualisierung angesehen werden, ergibt sich insgesamt ein vielfältiges Verständnis und teilweise widersprüchliches Spektrum individualisierender Lehr-Lern-Methoden.[52]

 

Diese definitorischen Schwierigkeiten basieren auf dem Mangel an einem theoretisch und empirisch plausiblen Modell wesentlicher Elemente individualisierenden Unterrichts: Individualisiertes Lernen kann nur anhand verschiedener konkreter Realisierungsformen analysiert werden. Diese setzen sich aus unterschiedlichen Kombinationen verschiedener didaktischer Bausteine zusammen.[53]

 

Als Beitrag zur Begriffsklärung lassen sich jedoch verschiedene Grundbausteine hervorheben, die in den unterschiedlichen Formen der Individualisierung immer wieder auftauchen:[54]

 

Lerndiagnosen und Potentialanalysen: Durch Kompetenzanalysen sollten die konkreten Stärken oder Defizite von Schülern in spezifischen Teilbereichen eruiert werden, um darauf eine individuelle Förderung aufbauen zu können.

 

Passgenaue Lernaufgaben: Durch flexible Unterrichtsformen sollte es den Schülern ermöglicht werden, zeitgleich an unterschiedlichen Aufgaben zu arbeiten, die eine Passung von Lernvoraussetzungen und Lernzielen ermöglichen.

 

Unterschiedliche Ziele und Lernverträge: Individualisierender Unterricht ist auch durch unterschiedliche Lernziele charakterisiert. Dabei sollte festgelegt sein, welche Ziele grundlegend sind und welche Aufgaben es darüber hinaus erlauben, spezielle Interessen und Begabungen einzelner Schüler zu berücksichtigen. Die individuellen Ziele sollten dabei durch verbindliche Abkommen zwischen Lernberater und den einzelnen Schülern dokumentiert werden.

 

Feedback: Inhaltsreiche und ermutigende Rückmeldungen an die Schüler, die diese für weiteres Lernen motivieren.

 

Leistungsportfolio: Es ist eine Form der Leistungsbeurteilung notwendig, die individualisierten Lernwegen nicht widerspricht und dennoch ökonomische Systeme der Leistungsdokumentation zulässt. Sie sollte den Lehrern erlauben, den Lernstand, die Fördermaßnahmen und Diagnosen festzuhalten. Daneben sollte sie den Schülern dazu dienen, die eigenen Lernwege reflektieren zu können.

 

Lernfähigkeit: Stärker als im konventionellen Unterricht soll dabei das divergente Denken der Schüler entwickelt werden. Ebenso wichtig wie Lernergebnisse sind im individualisierten Lernen die intellektuellen Operationen, die zu ihnen geführt haben.

 

Im Hinblick auf die spezifischen Anforderungen der beruflichen Bildung soll dieser Arbeit Werner Habels Verständnis des individualisierten Lernens zugrunde gelegt werden. Neben den dargestellten Elementen der Individualisierung betont Habel die Notwendigkeit der Selbsttätigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Schüler in individualisierten Lernprozessen.

 

Um jedem Schüler passgenaue Möglichkeiten zu bieten, sein motorisches, intellektuelles und emotionales Potential zu nutzen und damit seine Persönlichkeit zu entwickeln, bedingt individualisiertes Lernen nach Werner Habel die besondere Berücksichtigung der Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit sowie die Reflexion der Sozialität des Lernprozesses durch die Schüler. Er versteht individualisiertes Lernen als Unterrichtsprozess, „in dem Schüler (curricular) gesetzte Sachzusammenhänge mehr oder minder selbsttätig erarbeiten. [...] Individualisiertes Lernen ist selbstbestimmtes, selbsttätiges, (selbst-)reflexives und sozial eingebundenes Lernen“.[55]

 

Selbstbestimmung bedeutet in diesem Zusammenhang, die Eigenständigkeit der Schüler in der Wahl der Themen, Aufgabenstellung und Zielsetzung.

 

Selbsttätigkeit bezieht sich auf die Form der Aufgabenbewältigung - die Wahl der Methoden und Techniken zur Planung und Durchführung von Lernprozessen.

 

(Selbst-)Reflexivität bezeichnet die dokumentierte Vergewisserung und Reflexion der im Rahmen der Aufgabenerfüllung durchlaufenden Arbeits-, Lösungs- und Entwicklungsschritte.

 

Soziale Eingebundenheit oder Sozialität des Lernens bezieht die Verständigung über Ziele, Niveau und Standards der Aufgabenerfüllung innerhalb der Lerngruppe und mit dem Lehrer in den Lernprozess mit ein.[56]

 

Eine Fassung von individualisiertem Lernen, die Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit, Sozialität und Reflexivität in ein ausgewogenes Verhältnis setzt, unterstützt die emanzipatorischen Bemühungen der Schule und begünstigt die Entwicklung zur Selbstständigkeit und Mündigkeit der Schüler, indem die Entscheidungs- und Urteils-

fähigkeit entwickelt und das „Lernen des Lernens“[57] im Sinne Humboldts berücksichtigt wird.[58]

 

Abbildung 3: Zentrale Komponenten individualisierten Lernens nach Habel[59]

 

 

Karin Bräu beschreibt die Selbsttätigkeit und Selbstbestimmtheit der Schüler ebenfalls als unabdingbare Elemente des individualisierten Lernens in Gruppen. Sie weist jedoch auf die unterschiedlichen Perspektiven in der Betrachtung von individualisierten und selbstorganisierten Lernprozessen hin. Diese werden am ehesten deutlich, wenn man die Gegenmodelle betrachtet: „Das Gegenbild von individualisiertem Lernen ist Lernen im Gleichschritt sowie zielgleiches Lernen. Das Gegenbild von selbstständigem Lernen sind genaue Anleitungen und kleinschrittige Vorgaben.“[60] Individualisierende Lehr-Lern-Methoden betrachten die einzelne Person, das Individuum. Beim selbstständigen Lernen liegt der Fokus auf der Ausgestaltung der objektiven Lernprozesse.

 

Dass individualisiertes Lernen die spezifischen Persönlichkeitsmerkmale der Lernenden und deren individuelle und selbstgewählte Lernstrategien gleichermaßen berücksichtigt, sieht Habel in der Entwicklung des Lehr-Lern-Konzepts aus der reformpädagogischen Tradition begründet.

 

3.1. Individualisierung im Reflex des didaktischen Denkens


 

Der Bildungsbegriff ist in Deutschland unweigerlich mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verbunden. Nach Humboldt soll Bildung vor allem durch die ganzheitliche Ausbildung der Künste zur Herausbildung von Individualität und Mündigkeit führen und somit der Menschwerdung dienen - unabhängig von Fragen der Verwertbarkeit des erlernten Wissens.[61] Seine bildungstheoretische und didaktische Favorisierung des individualisierten Lernens spielte in der praktischen Schulentwicklung des 19. Jahrhunderts jedoch eine ebenso geringe Rolle wie die didaktischen Individualisierungstendenzen in den Theorien Johann Friedrich Herbarts.

 

Abbildung 4: Individualisiertes Lernen in Theorie und Praxis[62]

 

 

Wenngleich Herbart in der „Verschiedenheit der Köpfe“ das zentrale Problem des schulischen Unterrichts ausmachte, berücksichtigte er die Differenzen zwischen den Schülern in seinen Theorien zum „Erziehenden Unterricht“. Dennoch sind sein Name und die Lehrmethoden des 19. Jahrhunderts mit dem Herbartianismus verbunden, welcher hinsichtlich von 30 bis 40 Schülern pro Klasse die Gleichtaktung der Vorstellungsverknüpfungen unterstellte und die Aneignung...

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