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E-Book

Ingeborg Kaiser

Porträts, Lesarten und Materialien zu ihrem literarischen Werk

VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783743171411
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Porträts, Widmungen, Würdigungen, Gedichtinterpretationen, Aufsätze, Essays über Ingeborg Kaiser (Basel)

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Leseprobe

Katja Fusek


An Ingeborg

2016

Du schreibst: November oder später, die Herbstfarben der Laubbäume dunkeln mit der frühen Dämmerung, das grelle Gelb des Gingkobaumes widersteht am längsten. Die Frau am Fenster sieht dem Verlöschen zu, nichts verlässlicher als der Wechsel der Jahreszeiten.

1980er Jahre

Täglich, acht Jahre lang, in jeder Jahreszeit, führte mich mein Schulweg an deinem Haus vorbei. Damals wusste ich noch nicht, dass es dein Haus ist. Es steht etwas versetzt vom Gehsteig, zurückgezogen im Garten. Still wie die meisten Häuser in dieser Strasse, aus denen nur wenige Lebenszeichen nach aussen dringen und in denen die Bewohner wie in geschlossenen Nussschalen leben. Damals wusste ich noch nichts von dir, Ingeborg, aber zweifellos habe ich dich auf meinen Schulwegen bemerkt. Vielleicht arbeitetest du im Garten, standst am Fenster, öffnetest die Haustür und trugst schwere Einkaufstaschen hinein. Ich glaube, mich daran zu erinnern, dir einmal an deinem Briefkasten begegnet zu sein. Du wirst vor dem Mittagessen Post geholt haben, gingst auf dem Gartenweg, eine zierliche Frau, die meinen Kinderaugen alt erschien. Dabei hattest du dasselbe Alter, das ich heute habe, und ich fühle mich noch jung. Sicherlich habe ich, als wohlerzogenes Mädchen, dich am Briefkasten gegrüsst. Und sicher hast du zurückgegrüsst, freundlich und unaufgeregt, wie es bis heute deine Art ist.

Nach meinem Wegzug aus dem Elternhaus bin ich lange nicht in deine Strasse gekommen, habe dein Haus vergessen, auch dich, seine nur flüchtig wahrgenommene Bewohnerin. Du warst damals noch nicht von Belang in meinem Leben. Hast du mich je wahrgenommen? Ein heranwachsendes Kind unter deinen Fenstern, wenn du aus deinem Nussschalenhaus auf die Strasse geblickt hast? Du – eine erfolgreiche Schriftstellerin und ich – ein Kind, das davon träumte, Bücher zu schreiben. Unsere inneren Welten verwandt, auch räumlich waren wir uns ganz nah und doch getrennt durch die Lebenszeit und die äusseren Verhältnisse. Und was ich mich heute frage: Gab es die Katze bereits damals?

2016

Du schreibst: Das spärliche Licht der Laterne über der Strasse erhellt kaum den Gehsteig, unwirklich das Kind, das wie vom Lichtkegel eingekreist verharrt, in seinen übergrossen Stiefeln zu versinken scheint. Aufmerksam schaut sie zum Kind, das in seinem kurzen Röckchen kalt haben könnte, lässt es nicht aus dem Blick. Als komme es aus einer anderen Zeit, sei von dort ausgerissen oder aus dem Fotoalbum gefallen. (…) Möglich, dass das Kind zu ihrem Fenster schaut, man könnte einen Faden vom Kind zu ihr ziehen, doch ihr Fenster lichtlos wie geschwärzt. Vielleicht gibt es den Faden, sie denkt sich eine Fadenspule und eine Hand, die sie abrollt, öffnet einen Fensterflügel, möchte dem Kind näher sein, aber es ist verschwunden, weg wie ein kurzer Einfall.

Und ich stelle mir vor: Wenn ich jetzt wieder Kind wäre, das Schulkind von damals, und an diesem späten Novembernachmittag nach dem Unterricht durch deine Strasse ginge … Es dunkelt früh, die Bäume stehen feucht und schwarz in den Gärten, einzig der gelbe Gingkobaum strahlt. Die Strassenlampen leuchten fahl, wirklich hell sind nur einige Fenster der stillen Häuser. Sie strömen Zuversicht aus in den beklemmenden Abend, sie geben Mut, den ich schöpfe vor dem mittleren Stück des Heimwegs, das gleich hinter deinem Haus beginnt. Ein Wäldchen, das ich zügig durchlaufen werde, bloss nicht hören auf die seltsamen Geräusche im welken Laub und in den knackenden Ästen, nicht schauen in die dunklen Ecken, ins kahle Unterholz, hinter die Baumstämme, wo unheimliche Gestalten lauern könnten, aufatmen erst bei der Alterssiedlung, wo die Häuser und geteerte Strassen wieder beginnen und der Wald hinter mir ist. Jetzt ist er aber noch vor mir, also: Atem holen, ein erleuchtetes Fenster finden, Zuversicht schöpfen. Dein Haus ist das vorletzte vor dem Waldstück. Eine Frau steht am Fenster. Ich erkenne nur die feinen Umrisse ihrer dunklen Gestalt auf dem erhellten Hintergrund. Als ich den Blick vom Haus wende, taucht plötzlich ein Kind vor mir auf. Es ist jünger als ich und seltsam gekleidet, viel zu leicht für einen Novemberabend, dennoch scheint es nicht zu frieren. Es verharrt ruhig im Lichtkegel der Strassenlampe und sieht ebenfalls zu deinem erleuchteten Fenster hinauf. Ob das Kind auch Mut schöpft vor dem Gang durch das unheimliche Wäldchen? Vielleicht könnten wir zusammen gehen? Ich nähere mich dem Kind. Ein dünnes Mädchen mit einem dunklen Lockenschopf, in viel zu grossen Stiefeln und einem sonderbaren Kleidchen, das wie auf den alten Fotos im Album meiner Grossmutter wirkt.

»Hast du nicht kalt?«, frage ich.

Das Kind schüttelt den Kopf.

»Wer bist du?« frage ich weiter.

Das Kind lächelt keck und sagt: »Ich bin Ingeborg.«

»Ingeborg?«

»Die Frau da oben am Fenster, das bin ich.«

»Aber du bist doch hier und ein Kind. Wie könntest du zu dieser alten Frau geworden sein?«, will ich wissen.

»Ganz einfach«, sagt das Kind. »Ich bin erwachsen geworden, habe geheiratet, bin aus einem anderen Land nach Basel gezogen, bin Mutter geworden, Schriftstellerin, bin alt geworden und …«

»Das meine ich nicht«, unterbreche ich das Kind. »Wieso bist du ein Kind und gleichzeitig eine alte Frau? Und sieht sich die alte Frau gleichzeitig als Kind? Das ist kompliziert.«

Das Kind schüttelt wieder nur die dunklen Locken, lacht und zeigt auf das Gartenmäuerchen. Dort sitzt eine Katze. Prächtiges helles Fell, ein schwarzer Kopf mit einem weissen Fleck und mit Augen, die in den Abend funkeln. Das Kind geht in die Hocke, öffnet die Arme. Die Katze springt vom Mäuerchen, geht majestätisch auf die Kleine zu, lässt sich streicheln, schmiegt das Köpfchen kurz an das schmale Gesicht das Mädchens, das selbstvergessen lächelt, und dann huscht sie weg. Bald sehe ich sie auf dem Fenstersims neben der alten Frau sitzen und sich mit anmutigen Bewegungen das Fell putzen. Die Frau streckt die Hand aus und die Katze schmiegt ihren Kopf hinein.

»Als die Katze gestorben ist, hat es ihr fast das Herz gebrochen«, sagt das Kind. »Die Katze stand ihr sehr nah, sie haben ein ähnliches Wesen.«

»Aber die Katze ist doch da«, staune ich. »Wie kann sie gestorben sein?«

»Sie ist ein Geschöpf deiner Fantasie, weil du nun Ingeborg besser kennst. Auch ich lebe nur in deiner Fantasie. Und in ihrer.« Das Kind zeigt nach oben. »In ihrer Fantasie und ihrer Erinnerung. Auch die Katze. Es gibt kaum einen Tag, an dem sie nicht an das Tier denkt. Und dann ist es wieder lebendig und da.«

»Ist sie so einsam?«, frage ich.

Das Kind zuckt die Schultern.

»Sie ist fremd hier«, sagt das Mädchen. »Sie hat aber ihre eigenen Welten.«

Ich nicke. Das Fremdsein und die Versuche, diesem Gefühl zu entfliehen, kenne ich nur allzu gut.

Das Kind schaut weiter zum Fenster. Die Katze ist verschwunden. Die alte Frau öffnet einen Fensterflügel und beugt sich hinab. Sieht sie uns nicht? Sie richtet sich auf, schliesst das Fenster, entfernt sich in das Zimmer, verlässt es, löscht das Licht. Die Scheibe ist nun schwarz.

»Ich bin zu der Frau da oben geworden, aber sie ist auch noch ich«, sagt das Kind. »Sie braucht mich. Ihre Flügel und ihre Rettungsinsel – das bin ich.«

»Wie meinst du das?«, frage ich.

»Hörst du sie?«, fragt das Kind zurück.

»Wen?«

»Die Stille.«

Ich horche. Ich weiss, dass die Stille nie still ist. Sie hat immer so viel zu erzählen. Das Kind nickt, es weiss es auch. »Ich lausche der Stille«, sagt das Mädchen. »Und sie«, es zeigt wieder nach oben zum dunklen Fenster. »Sie gibt ihr die Sprache. Sie ist Meisterin der Form.«

Du schreibst: neugierig was

die stille zu

sagen habe

lagern die worte

windgewaschen

treibt es die

katze jagt sie

vor die tür

Und du schreibst: Lange steht sie und starrt in den leeren Lichtkegel der Strassenlampe, meint, dass das Kind wiederkomme, wenn sie genug Geduld aufbringe. Sie könnte es nicht erklären, nur ihre Unruhe schildern, die das Kind ausgelöst hat. Als hätte es etwas angestossen, in Bewegung gebracht und sie müsste nur noch den Faden aufnehmen … Aber das Kind lässt sie nicht aus dem Gedächtnis, sie kann es abrufen, dann steht es wieder im Lichtkreis, in den zu grossen Stiefeln, dem Röckchen oder eher Schürzchen, macht sie munter wie schon lange nicht, vielleicht glücklich, meint sie, glücklich mit dem Kind, das sie auch einmal war.

Es vergehen zwei Jahrzehnte seit meinem täglichen Schulweg durch deine Strasse, bis wir uns wirklich begegnen – als Schriftstellerinnen. Unsere Bücher erscheinen im selben Verlag. Natürlich erkenne ich in dir nicht die Frau, die...

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