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Inklusion von Menschen mit schwerstmehrfachen Beeinträchtigungen

Wie Selbstbestimmung, Integration und Leiblichkeit durch die Teilnahme an einem 'alternativen' Spielfest gefördert werden können

AutorMirko Kraft
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl209 Seiten
ISBN9783668078680
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Bachelorarbeit aus dem Jahr 2011 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,4, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik), Sprache: Deutsch, Abstract: Menschen mit schwerstmehrfachen Beeinträchtigungen wurden bislang durchgängig bei der Konzeption und Durchführung von Sport- und Spielfesten nicht ausreichend mitgedacht und damit von einer Teilnahme weitestgehend ausgeschlossen. Es gibt zum Beispiel bereits integrative Spielfeste, welche in Abhängigkeit vom Adressatenbezug sowie regional und situativ unterschiedlicher Bedingungen differenzierte Ansätze erkennen lassen, aber selbst sie bieten häufig nur den Menschen mit geringeren oder leichteren Beeinträchtigungsformen einen Zugang zu spielerischer und sportlicher Betätigung, und darüber hinaus eine Begegnungsstätte zu anderen Spielern. Vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, dass Menschen, die einen höheren oder sehr schweren Beeinträchtigungsgrad aufweisen, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, eine Teilnahme an einem integrativen Spielfest erschwert oder mitunter verhindern wird. Doch nicht nur im Freizeitbereich, wo scheinbar Spielfeste mit ihren Spiel-, Sport- und Bewegungsangeboten verortet werden können, sondern auch in anderen Lebensbereichen erfährt die Personengruppe Ausgrenzung und Fremdbestimmung und wird dadurch u.a. in ihren Lebensäußerungen (zum Beispiel am Spielen) und Selbstbestimmung ge- und behindert. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Personengruppe lässt erkennen, dass es sich um eine sehr heterogene mit unterschiedlichen Bezeichnungsvorschlägen nicht klar abzugrenzende Personengruppe handelt, die je nach Ausmaß, der Art und der Schwere der Beeinträchtigung, sowie der individuellen Entwicklung, einer adäquaten Unterstützung, Begleitung und Hilfe in ihren Lebensalltag bedarf. Gleichzeitig ist aber augenscheinlich, dass Menschen mit schwerstmehrfacher Beeinträchtigungen bislang kaum Möglichkeiten haben, sich allein und selbstbestimmt spielerische Freiräume zu verschaffen, und deshalb darauf angewiesen sind, Spielumwelten im Sinne einer indirekten Förderung des Spiels gemeinsam mit einer körpernahen Assistenz zu gestalten. Bis heute sind solche Spiel- und Sportfestkonzepte zur Thematik Selbstbestimmung, Leiblichkeit und Integration bei Menschen mit schwerstmehrfachen Beeinträchtigungen im Lebensbereich Freizeit selten und empirisch unzureichend erforscht.

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Leseprobe

2. Theoretische Grundlagen


 

2.1 Annäherung an die Personengruppe, Menschen mit schwerstmehrfachen Beeinträchtigungen


 

In dem vom Kapustin zitierten „Praxisfeld der Bewegungserziehung“ (Kapustin, 2002, 6) setzen sich Wissenschaftler, Betreuer und Pädagogen mit der Bewegungserziehung von Menschen mit schwerstmehrfachen Beeinträchtigungen auseinander. Dabei stehen sie vor, der Herausforderung verlässliche Aussagen über die Personengruppe treffen zu müssen. Die auf dieser Grundlage einmal getroffenen Merkmals­zuschreibungen fungieren wiederum zur Initiierung weiterer Entscheidungsprozesse und der Unterbreitung individueller Bewegungs- und Spielangebote (vgl. ebd., 6).

 

Die Vielzahl unterschiedlicher Definitionsversuche lässt erkennen, dass das Vorhaben, Menschen mit schwerstmehrfachen Beeinträchtigungen kategorisieren zu wollen, nicht ohne weiteres gelingt. Der Zugang zu ihnen selbst wird häufig durch eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten erschwert und bleibt nach Aussage von Kapustin bislang unzulänglich.

 

Die Schwierigkeit für diesen Sachverhalt wird von ihm darin gesehen, als dass unsere „gemeinsame Welt“ von jeder Person unterschiedlich erlebt wird und deshalb eine individuelle, für uns nur schwer greifbare und vorstellbare Bedeutung in sich birgt (vgl. ebd., 6).

 

Aktuellere Entwicklungen greifen diesen Gedanken zunehmend auf, indem sie auf die Leistungsfähigkeit der Personengruppe abzielen und ihnen mehr Kompetenzen zutrauen. Neuere wissenschaftliche Ansätze verfolgen das Ziel, den Menschen nicht auf seine Schwächen und Mängel zu reduzieren. Ihr Anliegen äußert sich darin, den Menschen zuallererst als Subjekt, das an seiner Umwelt teilhaben möchte und von ihr beeinflusst wird, in seiner Ganz – und Gesamtheit wahrzunehmen (vgl. Klauß, 2005, 9, Klauß, 2011, 14).

 

So gesehen muss der Versuch zu definieren, was unter schwerstmehrfacher Beeinträchtigung verstanden werden kann, das Wissen beinhalten, dass Menschen beeinträchtigt sein können, nicht aber behindert sind.

 

Aus diesem Grund wird in der Arbeit der Begriff: „Menschen mit schwerstmehrfachen Beeinträchtigungen“ verwendet, die durch eine Vielzahl von Faktoren „behindert“ werden. Das heißt, der Mensch soll zunächst an erster Stelle stehen und dann erst seine Beeinträchtigung. Zum besseren Verständnis der Personengruppe sollen, trotz der Gefahr einer damit verbundenen Stigmatisierung, Begriffe „schwere“ und

 

„mehrfache“, sowie „schwerste“ Beeinträchtigung definiert werden.

 

2.1.1 Begriffsannäherung „schwere Beeinträchtigung“


 

Aktuell gelten über 7,1 Millionen Menschen vor dem Gesetz (SGB) als schwerbeeinträchtigt, wobei über die Hälfte der Personen über 65 Jahre und 25% zwischen 55-65 Jahre sind. Aufgrund der hohen Anzahl dieser Personengruppe kommt Tinter zu dem Schluss, dass es sich, in Ergänzung zu Fornefeld, um ein gesellschaftliches „Massenphänomen“ (Tinter, 2011, 10) handelt.

 

Klauß nähert sich der „schweren Beeinträchtigung“, indem er zunächst auf medizinische Klassifikationssysteme, wie z.B. die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Mitte des 20. Jahrhunderts aufgestellte International Classifikation of Diseases (ICD) verweist, die zwischen den Beeinträchtigungsformen leichter und schwerster Intelligenzminderung unterscheidet (vgl. Klauß, 2011, 12; Nicklas-Faust, 2011, 61):

 

 

Abbildung 1 Klassifikationssystem der Behinderung (vhl. Klauß, 2011, 12)

 

Anhand der Tabelle wird ersichtlich, dass die Zuordnung einer Person zu einem Beeinträchtigungsgrad, der vorab durch den Einsatz verschiedener Diagnoseverfahren ermittelt wurde, mit der Hilfe des Intelligenzquotienten erfolgt. Nach Klauß ist jedoch dieses Vorgehen in Frage zu stellen, da sich die IQ-Werte eher, im Gegensatz zur modernen Intelligenzdiagnostik, auf Basis des Lebens- und Entwicklungsalters ermitteln lassen (vgl. Klauß, 2011, 12).

 

Vor diesem Hintergrund kommt er zu dem Ergebnis, dass die Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten einer Person mit Vorsicht zu bewerten ist und nicht ohne weiteres vorgenommen werden kann. Außerdem wendet er ein, dass sich darüber nur unzureichend die individuellen Entwicklungs- und Lebensbedingungen sowie der Grad einer Beeinträchtigung ableiten lassen (vgl. ebd., 12).

 

Ein kürzlich von Müller-Erichsen, in Anlehnung an die Bundesvereinigung Lebenshilfe, aufgestellter Definitionsversuch der Menschen mit schwerer Beeinträchtigung beinhaltet eine solche soziale Perspektive und stellt sich wie folgt dar (vgl. Müller-

 

Erichsen, 2005, 11):

 

 Unter (ihnen) verstehen wir Personen mit geistiger Behinderung mit hohem und sehr hohem Hilfebedarf in wesentlichen Lebensbereichen, kombiniert mit einem oder mehreren der nachfolgenden Merkmale:

 

 Erhebliche zusätzliche Beeinträchtigungen

 

(z.B. körperliche Behinderungen, Sinnesschädigungen, Epilepsie, Hyperaktivität, psychische und organische Erkrankungen)

 

 Spezifisches Ausdruckverhalten

 

(z.B. selbstverletzendes oder fremdgefährdetes Verhalten, Angstzustände, Schreien, Stereotypien, Kontaktabwehr, Passivität, Rückzug, autistische Symptome);

 

 Spezifisches eingeschränktes Kommunikationsverhalten (überwiegend nonverbal)

 

 Häufig instabiler, bisweilen lebensbedrohlicher Gesundheitszustand

 

Anhand der von Müller-Erichsen (2005) aufgestellten Definition und Merkmalszuschreibung lassen sich Menschen mit einer geistigen und/oder körperlichen Beeinträchtigung der Personengruppe zuordnen, die als schwerbeeinträchtigt gelten.

 

Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit der „Mehrfachbeeinträchtigung“ und dient dem Aufzeigen der engen Verknüpfung zwischen ihr und der schweren Beeinträchtigung.

 

2.1.2 Begriffsannäherung „Mehrfachbeeinträchtigung“


 

Das gemeinsame Auftreten mehrerer Beeinträchtigungsformen bei einem Menschen wird unter dem Begriff „mehrfache Beeinträchtigungen“ zusammengefasst. Klauß et al. wiesen 2006 in einer Studie nach, dass im Bundesland Baden-Württemberg bei fast annähernd allen Förderschülern, die als schwerbeeinträchtigt eingeschätzt worden waren, weitere Beeinträchtigungsformen festzustellen sind (vgl. Klauß, 2011, 12f.). Am häufigsten korrelieren, laut den Untersuchungsergebnissen, geistige Beeinträchtigungen mit signifikant ausgeprägten Beeinträchtigungen im Sprachbereich und bei der Stimme. Mit ca. 77,4% folgen schwere Körperbeeinträchtigungen und danach signifikante Beeinträchtigungen im Bereich des Sehens und Hörens. Fast die Hälfte (47,5%) der Personen mit schweren Beeinträchtigungen sind auf eine medizinische Behandlung angewiesen oder weisen Beeinträchtigungen innerer Funktionen auf (36,3%) (vgl. ebd., 13).

 

Solarova benennt in Zusammenhang mit solchen Ergebnissen drei wesentliche Ursachen für die Entstehung und Ausprägung einer „Mehrfachbeeinträchtigung“ (Solarova, 1975):

 

 Mehrfachbehinderung durch schicksalhafte Kumulierung ("Sekundärschädigung") z.B. ein Gehörloser wird durch einen zufälligen Unfall zusätzlich körperbehindert

 

 Mehrfachbehinderung als Folge eines Schädigungssyndroms ("multipler primärer Defekt") z.B. eine cerebrale Bewegungsstörung bewirkt eine

 

Körperbehinderung, zusätzlich aber oft auch eine Sprach- und Lernbehinderung

 

 Mehrfachbehinderung als Folgebehinderung ("konsekutive Verbildungen") -Obligate Folgebehinderungen (konnte als Folge nicht verhindert werden) z.B. Sprachbehinderung als Folge von Gehörlosigkeit

 

 Nicht obligate Folgebehinderungen (deren Auftreten u.a. durch ungünstige psychosoziale Umstände begünstigt wird) z.B. Verhaltensstörungen als Folge einer Sprachbehinderungt

 

Ein anders Wort für „Mehrfachbeeinträchtigung“ stellt der Begriff „Komplexe Behinderung“ dar (vgl. Klauß nach Fornefeld, 2011, 14). Er wird von Mönch-Kalona et al. folgendermaßen beschrieben:

 

Treten mehrere Behinderungen gemeinsam auf, können diese unabhängig voneinander bestehen oder sich in ihren Auswirkungen gegenseitig überschneiden und verstärken (Mönch-Kalina, 2007, 45, 8).

 

In der Sonderpädagogik wird eine Verbindung aus „schwerer“ und „mehrfacher“ Beeinträchtigung unter Verwendung des Begriffes der „schwerstmehrfachen“ oder der

 

„schwersten“ Beeinträchtigung zusammengefasst. In der Literatur wird damit auch eine Steigerung des spezifischen Förderbedarfs assoziiert (vgl. Fröhlich, 1991, 11).

 

„Schwerste“ Beeinträchtigung nimmt Bezug auf den höchsten, von der Gesellschaft zu vergebenen, Beeinträchtigungsgrad und soll im folgenden Unterpunkt eingehend vorgestellt werden.

 

2.1.3 Begriffsannäherung „Schwerste“ Beeinträchtigung


 

Der...

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