In diesem Kapitel sollen zunächst die verschiedenen Formen von Behinderung dargestellt und erläutert werden, um den Begriff Behinderung für die Ausführungen dieser Arbeit zu klären. Besondere Beachtung erfahren die unterschiedlichen Arten seelischer Behinderung, da sich der empirische Teil dieser Arbeit explizit mit dieser Behinderungsform beschäftigt. In einem zweiten Teil dieses Kapitels werden in verkürzter Form die Kritik am Behindertenbegriff sowie gewisse Abgrenzungsprobleme skizziert.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet bei ihrer Definition von Behinderung (1980) in der „International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps“ (ICIDH) drei Begrifflichkeiten: impairment, disability und handicap. Als Schädigung (impairment) wird demnach ein beliebiger Verlust (oder eine Normabweichung) von psychischen, physiologischen oder anatomischen Funktionen oder Strukturen aufgrund eines Unfalls, einer Erkrankung oder einer angeborenen Schädigung bezeichnet. Diese Schädigung wiederum führt zu einer funktionalen Beeinträchtigung der Aktivitäten und Fähigkeiten der Betroffenen, was die WHO als disability definiert. Der Begriff des handicap richtet seinen Fokus auf die soziale Benachteiligung, welche aus der Schädigung resultiert. Diese kann sich in gesellschaftlichen, familiären und auch persönlichen Konsequenzen äußern, da die Erfüllung von alters- und geschlechtsspezifischen sowie kulturellen und sozialen Aktivitäten verhindert oder eigeschränkt werden (vgl. WHO 1980, S.27ff).
Seit dem Jahr 2001 existiert eine neue Einteilung der WHO (International Classification of Functioning, Disability, and Health), welche sich durch internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ins Deutsche übersetzen lässt. Auch die ICF geht von einer Dreigliedrigkeit der Behinderung aus, jedoch wurden die Begriffe funktionale Beeinträchtigung (disability) und soziale Benachteiligung (handicap) durch die Begrifflichkeiten Aktivitätsbeeinträchtigung auf der individuellen Ebene und Partizipationseinschränkung auf der gesellschaftlichen Ebene ersetzt. Bei der Ermittlung der ICF wird ein sehr umfangreicher und vielschichtiger Fragenkatalog angewendet. In jeder Kategorie wird eingeteilt, ob die jeweilige Behinderung auf diesen drei Ebenen kein Problem, ein geringes, gemäßigtes, schweres oder vollständiges Problem für den/die Betroffenen/Betroffene darstellt. Als Maßstab gelten die Beeinträchtigungen von Menschen ohne Behinderung, was bei der Behindertenbewegung sehr bemängelt wird (vgl. WHO 2001, deutsche Fassung u.a. Vernooij 2007, S.13ff).
Während die ICIDH eine tendenziell defizitorientierte und aufs Individuum bezogene Sichtweise zum Ausdruck brachte, konzentriert sich die ICF nun verstärkt auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem sich Menschen mit Behinderung befinden sowie ihre Möglichkeiten auf aktive und selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (vgl. Cloerkes 2007, S.6).
Cloerkes (1988) betont den dauerhaften und sichtbaren Charakter einer Behinderung und die daraus resultierende soziale Reaktion. Die negative Bewertung einer Andersartigkeit ist jedoch nicht zwangsläufig mit einer entsprechend negativen Reaktion auf einen Menschen mit dieser Andersartigkeit verbunden. Wichtig ist demnach, eine Behinderung nie als absolut, sondern immer in Relation zu betrachten (vgl. Cloerkes 1988, S.87).
Das SGB IX liefert eine allgemeine und weniger defizitorientierte Definition auf Grundlage der oben beschriebenen Klassifikation der WHO und berücksichtigt daher die individuelle Fähigkeit zur uneingeschränkten Teilhabe an den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Demnach gelten Menschen als behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, ihre geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ (§2 Abs. 2 SGB IX).
Diese Dreiteilung der Formen von Behinderung wird auch in der Eingliederungshilfe- Verordnung[14] in den §§1-3[15] fortgesetzt. Die Verordnung regelt unter anderem Leistungen zur Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wie Hilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges, zur Versorgung mit Körperersatzstücken, orthopädischen oder anderen Hilfsmitteln oder Leistungen für die Ausbildung und Eingliederung in das Arbeitsleben. Diese Dreiteilung soll Grundlage für die folgenden Ausführungen sein.
Gemäß §1 der Eingliederungshilfe-Verordnung sind diejenigen Personen von einer körperlichen Behinderung betroffen und somit in ihrer Teilhabefunktion eingeschränkt, (1) „deren Bewegungsfähigkeit durch eine Beeinträchtigung des Stütz- oder Bewegungssystems in erheblichem Umfange eingeschränkt ist“, (2) die mit „abstoßend wirkenden Entstellungen vor allem des Gesichts“ konfrontiert sind, (3) „deren körperliches Leistungsvermögen infolge Erkrankung, Schädigung oder Fehlfunktion eines inneren Organs oder der Haut in erheblichem Umfange eingeschränkt ist“, (4) „bei denen [...] Störungen der Sehfunktion von entsprechendem Schweregrad vorliegen“, (5) „die gehörlos sind oder denen eine sprachliche Verständigung über das Gehör nur mit Hörhilfen möglich ist“ sowie (6) „die nicht sprechen können“ oder von „erheblichen Stimmstörungen“ betroffen sind (stark stammeln, stark stottern oder stark unartikulierte Sprache) (§1 der Verordnung nach §60 SGB XII Nr.1-6).
Trotz dieser umfassenden und differenzierten Definition von Menschen mit körperlicher Behinderung wird das Fehlen einer sozialpsychologischen Dimension oft kritisiert. Schönberger (1974) hingegen beachtet diese Komponente von körperlicher Behinderung in seiner Definition:
„Körperbehindert ist, wer [...] so stark beeinträchtigt ist, daß er jene Verhaltensweisen, die von Mitgliedern seiner wichtigsten Bezugsgruppen in der Regel erwartet werden, nicht [...] zeigen kann und daher zu einer langfristigen schädigungsspezifisch individuellen Interpretation wichtiger sozialer Rollen finden muß“ (Schönberger 1974, S.209).
Aufgrund der Wichtigkeit der sozialpsychologischen Dimension soll in dieser Arbeit die Definition der Eingliederungshilfe-Verordnung mit der Definition von Schöneberger ergänzt werden.
Aus medizinisch-psychiatrischer Perspektive leidet ein Mensch mit geistiger Behinderung unter einem „angeborenen oder früh erworbenen Intelligenzmangel“ (Wagner 2001, o.S.). Hensle (1988) ist jedoch der Meinung, dass die Termini der psychiatrischen Klassifikation teilweise mit so starken negativen Inhalten verbunden seien, dass sie als diskriminierend bezeichnet werden könnten (vgl. Hensle 1988, S.108).
Bach 1988 definiert geistige Behinderung aus einer psychologischen Sichtweise. Seiner Auffassung zufolge können
"Personen, deren Lernverhalten wesentlich hinter der auf das Lebensalter bezogenen Erwartung zurückbleibt und durch ein dauerndes Vorherrschen des anschauendvollziehenden Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhalten und eine Konzentration des Lernfeldes auf direkte Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet ist, was sich in der Regel bei einem Intelligenzquotienten von unter 55/60 findet" (Bach 1972, S.92),
als von einer geistigen Behinderung betroffen bezeichnet werden (vgl. Bach 1972, S.92).
Um auf die einseitig am Intelligenzquotienten orientierten Definitionen zu reagieren, betonten Michel und Novak (1991) den groben Orientierungscharakter von IQ-Werten, da die verwendeten Test für Menschen ohne Behinderung erarbeitet wurden, deren Leitungen sich qualitativ kaum mit Menschen mit Behinderung vergleichen lassen (vgl. Michel/Nokak 1991, S.126).
Abschließend soll die weniger defizitorientierte Definition der Eingliederungs-Verordnung vorgestellt werden, welche diejenigen Personen als von einer wesentlichen geistigen Behinderung betroffen benennt, die „infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind“ (§2 der Verordnung nach §60 SGB XII). Wie auch schon in §1 der EingliederungshilfeVerordnung bleibt auch hier der sozialpsychologische Aspekt von geistiger Behinderung unberücksichtigt.
Anders als körperliche Behinderung ist die seelische Behinderung nicht gleichermaßen eindeutig zu definieren. Allein bei den unterschiedlichsten, analog zu verwendenden Begrifflichkeiten wie psychische Behinderung, psychische Erkrankung, seelische Erkrankung oder auch psychische Störung wird deutlich mit welcher Komplexität diese Thematik behaftet ist. Der Begriff der ,Behinderung‘ wird von den Betroffenen und auch den Fachkräften jedoch meistens vermieden, da er von ihnen als stigmatisierend empfunden wird. Oft sprechen sie daher von ,Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung‘ (vgl. Gimbel et al. 2010, S.9).
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