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E-Book

Inklusiver Fachunterricht in der Sekundarstufe

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl456 Seiten
ISBN9783170252042
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Die Diskussion um Inklusion findet gegenwärtig vor allem als bildungspolitische und programmatische Auseinandersetzung statt. Didaktisch-methodische Fragen der Unterrichtsgestaltung werden dabei kaum thematisiert, obgleich ihnen für die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems große Relevanz zukommt. Dies gilt insbesondere für einen inklusiven Fachunterricht in der Sekundarstufe, in dem Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten und geistiger Behinderung zieldifferent lernen: Wie kann Unterricht hier so gestaltet werden, dass er sowohl der Komplexität der Lerngegenstände als auch den Lernvoraussetzungen aller Schülerinnen und Schüler gerecht wird? Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen dieser Frage nach und entwerfen für 15 Unterrichtsfächer der Sekundarstufe (Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geografie, Geschichte, Sozialkunde, Ethik, Religion, Deutsch, Englisch, Kunst, Musik, Sport und Arbeitslehre) Perspektiven für inklusiven Fachunterricht. Die theoretische Reflexion wird dabei jeweils durch konkrete Ideen für die Unterrichtsgestaltung zu exemplarischen Themen ergänzt.

Dr. Judith Riegert und Dr. Oliver Musenberg sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Rehabilitationspädagogik der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Leseprobe

2          Inklusion und Lehrerbildung – Forschungsdesiderata


Vera Moser & Stefan Kipf


Mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland sind gravierende Veränderungen im Bildungssystem verbunden, da nunmehr ein Wahlrecht für die inklusive Beschulung in allen Bundesländern besteht. Demzufolge haben die Bundesländer für den Aufbau inklusiver Schulen Anpassungen der Schulgesetze vorgenommen und Modellregionen entwickelt – Grundlage hierfür ist u. a. die Empfehlung der Kultusministerkonferenz (2011) »Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen«. Im Folgenden soll knapp skizziert werden, welche Bereiche in der Lehrerbildung mit Blick auf Inklusion beforscht werden und wo Forschungsdesiderata festzuhalten sind – hierzu zählt als ein zentrales Feld auch die Fachdidaktik.

2.1        Kompetenzmodelle


Aus der Perspektive der Kompetenzforschung leiten sich Fragen nach Professionsmodellen ab, die für den inklusiven Unterricht relevant sind. In diesen Bereich gehört die Entwicklung von Kompetenzstrukturmodellen sowie auf dieser Basis Kompetenzmodellierungen zur Evaluation der Qualität unterrichtlichen Handelns. Im Bereich der Lehrerbildungsforschung sind bisherige Ausbildungsmodelle auf die zugrundeliegenden Professionsmodelle zu prüfen und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu evaluieren (dies betrifft insbesondere Studieninhalte, die thematisch als ›Inklusion für alle Lehrämter‹ und ›crosskategoriale (fachrichtungsübergreifende) sonderpädagogische Ausbildungsmodelle‹ angelegt sind). Weiterhin sollten Studienmotivationen und Einstellungen im Bereich der Lehrerbildung mit Blick auf ihre Effekte für den Unterricht in inklusiven settings untersucht werden.

Bisher sind eher allgemeine Strukturmerkmale für das Gelingen integrativen Unterrichts beschrieben worden, so hat u. a. die Hamburger Untersuchung der Integrativen Regelklassen mit der Analyse integrativer settings begonnen und Hinweise auf Professionsmerkmale vorgelegt: In Anlehnung an Dumke (1991) wurde eine detailliertere Deskription des integrativen Unterrichts anhand von Beobachtungsprotokollen vorgenommen. Hier wurden u. a. Teameffekte und Veränderungen des Unterrichts zwischen den Altersstufen beschrieben (zunehmende Lehrersteuerung bei Abnahme der Differenzierungsmaßnahmen, zunehmende Bewertungs- gegenüber abnehmenden Beratungstätigkeiten) (vgl. Schuck, 1999; Hinz et al., 1998, 70ff.) sowie Typisierungen von Lehrertätigkeiten herausgearbeitet: Co-Lehrer, Ergänzungslehrer, Assistent, Unterrichtende, Individuallehrer (Hinz et al. 1998, S. 49ff.). Des Weiteren liegen Einzelstudien zu Kooperationsmerkmalen und Beratungen vor (z. B. Feuser & Meyer, 1987; Lütje-Klose & Willenbring, 1999; Werning, Urban & Sassenhausen, 2001; Katzenbach & Olde, 2007; Werning & Arndt, 2013; vgl. zusammenfassend auch Heinrich, Urban & Werning, 2013), die (mit Ausnahme Greiten, 2014a) jedoch in der Regel nicht systematisch zwischen den beteiligten Professionen unterscheiden.

Differenziertere, kompetenzbezogene Untersuchungen sind bislang noch nicht vorgelegt worden, Beschreibungen der benötigten Kompetenzen liegen lediglich auf normativer Ebene vor (auch Weiß, Kollmannsberger & Kiel, 2013): Beratung, Diagnostik, Förderung, Kooperation und Unterricht (zusammenfassend Moser, Schäfer & Jakob, 2010). Da diese allerdings keine Spezifika gegenüber Lehrkräften in regulären Unterrichtssettings darstellen (vgl. Standards für die Lehrerbildung der Kultusministerkonferenz, 2004), kommt es darauf an, diese für inklusive settings zu präzisieren und hier möglicherweise auch berufsgruppenspezifische Unterschiede herauszuarbeiten. Dies trifft insbesondere auch auf Fragen der Platzierung sonderpädagogischer Lehrkräfte zu. In den Integrationsforschungen der 1980er und 1990er Jahre blieb es unklar, inwieweit sonderpädagogische Kompetenzen als ›gesonderte‹ im täglichen Handeln ausgewiesen werden sollten oder eher als ›Transferwissen‹ allen Beteiligten zur Verfügung stehen sollten. Dies war begleitet von einer eher normativ aufgeladenen Debatte um das Verhältnis sogenannter ›Generalisten‹ und ›Spezialisten‹ (vgl. u. a. Bernhard & Coradi, 2005). Untersuchungen zur Aufgabenverteilungen liegen bei Lütje-Klose (1997) sowie bei Lütje-Klose, Urban, Werning & Willenbring (2005) vor. Aktuell arbeiten zwei weitere Forschungsarbeiten (Moser & Kropp, 2014; Melzer & Hillenbrand, 2013) an dieser Thematik.

Die Untersuchung von domänenübergreifenden Einstellungen der beteiligten Professionellen in inklusiven settings war, insbesondere auch im internationalen Raum, auf die Rekonstruktion pro-inklusiver Einstellungen beschränkt (vgl. z. B. Avramidis, Bayliss & Burden, 2000; Cook, Semmel & Gerber, 1999; Tait & Purdie, 2000; Santiuste, Vicente, Miras & Padilla, 2009). Erst in jüngerer Zeit werden hier Differenzierungen (z. B. bezogen auf die Kategorie Behinderung, vgl. Jordan, Schwartz & McGhie-Richmond, 2009) bzw. Korrelationen zu Selbstwirksamkeitsüberzeugungen vorgenommen (vgl. Grosche & Grünke, 2008) und berufsbezogenen Beliefs erhoben (Kuhl, Moser, Schäfer & Redlich, 2013).

Bezüglich der Effekte von Ausbildungen mit Blick auf Inklusion gibt es derzeit zwei Forschungsfelder: Einerseits werden Studienwahlmotivationen in Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale und relevante Vorerfahrungen untersucht (König, Rothland, Darge, Lünnemann & Tachtsoglou, 2013; Lerche, Weiß & Kiel, 2013), andererseits Wirkungen spezifischer Ausbildungsinhalte (z. B. Werner & Drinhaus, 2012), wobei beide Forschungsbereiche hinsichtlich sonderpädagogischer Expertise für die Inklusion noch kaum entwickelt sind. Innerhalb der Studienwahlforschung wurde bei Sonderpädagogikstudierenden die höchste »adressatenbezogene Motivation« gegenüber allen anderen Lehramtsstudierenden nachgewiesen sowie ein vergleichsweise geringes fachspezifisches Interesse (Kiel, Weiß & Braune, 2012, S. 194) und – in gleichem Umfang wie Grund- und Hauptschullehramtsstudierende – ein Interesse, begabte wie auch lernschwache Schüler zu fördern (ebd.). Weiterhin befänden sich Sonderpädagogikstudierende (Lehramt) mit »mehr als 40 Prozent in der Gruppe der Idealisten« (ebd., S. 198).

2.2        Unterrichtsentwicklung und -gestaltung


In diesem Bereich sind Forschungen zu entwickeln, die auf die Ausbildung adaptiver Lehrerkompetenzen, förderlicher Einstellungen zum Umgang mit heterogenen Lerngruppen, kognitiver Aktivierung inkl. Bereitstellung differenzierter Lernumgebungen und geeigneter Kooperationsformen (Teamarbeit) zielen.

Zudem sind Kooperationen mit den Fachdidaktiken anzustreben, um differenzierte Kompetenzmodelle als Grundlage der Unterrichtsgestaltung in die universitäre Ausbildung aller Lehrkräfte einschließlich der Einbeziehung der Dimensionen sonderpädagogischer Förderung (z. B. Berücksichtigung von Sinnesbeeinträchtigungen, psychischen, geistigen Behinderungen und motorischen Einschränkungen) zu implementieren. Angesichts der Tatsache, dass sich die meisten Fachdidaktiken im Bereich sonderpädagogischer Förderung im Fachunterricht vor völlig neue Forschungs- (und Lehr)aufgaben gestellt sehen, muss es in einem ersten Schritt darum gehen, in den Fachdidaktiken Expertise zu grundlegenden Fragen der sonderpädagogischen Förderbedarfe und daraus abzuleitender Forschungsfragen aufzubauen. Dies kann nur in enger Zusammenarbeit mit den entsprechenden Expertinnen und Experten der sonderpädagogischen Fachrichtungen erfolgen. Da auch an den Schulen in Zukunft multiprofessionelle Teams aus Lehrkräften allgemeinbildender und sonderpädagogischer Fächer zusammenarbeiten werden, muss dies auch für künftige Forschungsvorhaben einer inklusiv ausgerichteten Fachdidaktik gelten. Realistisch betrachtet braucht es hierzu jedoch einen langen Atem, der im Gegensatz zum hohen Tempo der Bildungspolitik steht: Erfahrungen mit der fachdidaktischen Implementation einer vergleichbar anspruchsvollen Querschnittsaufgabe etwa im Bereich durchgängiger Sprachbildung bzw. von Deutsch als Zweitsprache zeigen ganz deutlich, dass man auch hier von einem relativ langwierigen Prozess wird ausgehen müssen (Ahrenholz, 2010), um über gemeinsame Projekte zu verwertbaren Forschungsergebnissen zu gelangen. Eine zusätzliche Herausforderung für alle Formen der Kooperation stellt nicht nur die bisher weitgehend fehlende sonderpädagogische Expertise der Fachdidaktiken, sondern auch ihre...

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