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E-Book

Integrativer Unterricht in der Praxis

Erfahrungen - Probleme - Analysen

AutorSusanna Bews
VerlagStudienverlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783706558198
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Praxisnahe Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Schulalltag einer Volksschul-Integrationsklasse gibt Susanna Bews in diesem Buch weiter, fundierte Informationen, wie die neuen Aufgaben gemeinsam bewältigt werden können. Ihr positives Resümee: Die individuellen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten aller Beteiligten werden herausgefordert - Lernen mit hohem persönlichen und sozialen Nutzen kann erfolgreich stattfinden.

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Leseprobe

2


Schuleingangsphase


Vor dem ersten Schultag richteten wir die beiden nebeneinanderliegenden Klassenräume, die uns zugeteilt wurden, ein und schmückten die Klassenzimmer und den Gang bunt. Die Tische stellten wir in Gruppen auf, legten ein kleines Geschenk auf jeden Platz und warteten gespannt auf den ersten Schultag.

Aus meinem Protokoll:

Erster Schultag - Spannung und Aufregung liegt in der Luft, der Klassenraum der Volksschüler (!) ist gerammelt voll. Eltern und manche Großeltern sind unserer Einladung gefolgt. Manche Kinder sehen uns LehrerInnen zum ersten Mal, sind verschreckt an ihre Muttis geklammert, andere wiederum wollen nach unserer Begrüßung nicht nach Hause gehen. Wir geleiten die Kinderschar bis zum Schultor. Ein aufgewecktes Mädchen sagt bei der Verabschiedung: “Ich bleib noch bei dir, du mußt mir doch Lesen und Schreiben zeigen”. Ein anderes Kind versteckt sich weinend hinter dem Rücken der Mutter.

Die Kindergruppe war, wie in anderen ersten Klassen auch, bunt und sehr unterschiedlich. Erst später wurde mir selbst bewußt, daß die behinderten Kinder überhaupt nicht aufgefallen waren und keiner von ihnen bewußt Notiz genommen hatte. Das blieb auch in den nächsten Tagen so. Der Zufall wollte es, daß in unsere Klasse ein schwarzes Kind eingeschrieben wurde. Dieser Bub erregte die Aufmerksamkeit und Neugier der anderen Kinder viel mehr, die äußerliche Auffälligkeit lenkte den Blick der Großgruppe viel eher auf den schwarzen Buben als auf die als behindert eingeschulten Kinder. Wir versuchten von Anfang an, den kurzen Tagesablauf “normal” zu gestalten, also so, wie wir es immer in ersten Klassen gewohnt waren. Wir spielten oft und lange, ließen die Kinder dafür von zu Hause Spielsachen mitbringen, machten viele Kennenlern- und Kontaktspiele. In dieser jungen Anfangsphase kam es zu keinen Auseinandersetzungen zwischen den Kindern, weder in der ganzen Gruppe noch mit den behinderten Kindern. Es erhob sich die Frage: “Fallen die behinderten Kinder einfach nicht auf, oder gehen die Kinder einer Konfrontation unbewußt aus dem Weg?”

Aus meinem Tagebuch:

3. Schulwoche: Ich bin bei einem Kinderfest meiner Freundin zu Besuch. Der Sohn Peter besucht ebenfalls eine Integrationsklasse in einem anderen Bezirk als Schulanfänger. Er weiß nicht, daß ich Lehrerin in “so einer” Klasse bin. Auf meine Frage, wie es ihm in der Schule gefalle, meint er: “Ich habe zwei Frau Lehrerinnen, und bei uns sind vier behinderte Kinder. Ich habe aber erst zwei davon bemerkt.”

Diese Aussage zeigt, wie anders Kinder an die Konfrontation mit Neuem herangehen. Ich - als Erwachsene - richtete meine Beobachtungen vor allem auf die Kinder mit Behinderungen und wartete auf Reaktionen aus der Klasse. Für die Kinder selbst war die neue Situation des Schuleintrittes allgemein so beanspruchend, daß sie die behinderten Kinder nur zum Teil wahrgenommen hatten. Peters oben zitierte Aussage öffnete mir dahingehend die Augen, daß meine, wie auch immer gelagerten Erwartungen und Vorinformationen meinen Blick in eine bestimmte Richtung lenken ließen. Ein Rückblick auf diese Eingangsphase zeigt, wie unsicher mein eigenes Verhalten gegenüber den behinderten Kindern und ihrer Stellung in der Großgruppe war. Ich mußte selbst erst lernen, einen natürlichen Umgang mit der ganzen Gruppe zu entwickeln, was den Kindern teilweise viel besser gelungen war.

In der dritten Schulwoche tauten die Kinder auf, sie kannten sich inzwischen gut genug, um ihre anfänglichen Hemmungen fallen lassen zu können, sie kannten sich im Schulhaus aus, und das Schulleben wurde zu einer gewissen Routine. In dieser Phase kam es auch zu den ersten Konflikten unter den Kindern. Streitereien um Spielsachen und andere Materialien waren an der Tagesordnung. Dazu kam, daß wir Lehrerinnen keine Basis finden konnten, wie wir mit solchen Situationen umgehen sollten. Betonen möchte ich, daß diese Auseinandersetzungen der Kinder sicherlich in jeder Klasse geschehen, wir aber mit unserem Anspruch, vor allem das soziale Verhalten der Kinder prägen zu wollen, diese überforderten. Wir konnten es nicht zulassen, daß sich die Kinder untereinander Konflikte ausmachen sollten, und konnten ihre Abgrenzungsversuche gegenüber einzelnen Kindern nur langsam akzeptieren.

Aus meinem Protokoll:

4. Schulwoche: Wir erarbeiten einen Buchstaben im offenen Stationenbetrieb. Einige Kinder arbeiten gerade mit Plastilin. Ein Bub mit einer Behinderung reißt einem Mädchen das Material aus der Hand und wirft es durch die Klasse. Das Mädchen weint. Meine Kollegin nimmt den Buben an der Hand und verläßt mit ihm den Raum.

Wir Lehrerinnen waren auf so eine Situation nicht vorbereitet und konnten darauf spontan nicht anders reagieren. Der Weg des kurzen Herausnehmens aus der Großgruppe erschien uns in diesem Moment als beste Lösung. In unserem anderen Klassenzimmer versuchten wir Martin dann zu erklären, daß er so etwas nicht tun dürfe, und erkannten nicht, daß dieses Auf-ihn-Einreden gar nichts lösen würde und wir ihn der Möglichkeit beraubt hatten, einen Konflikt innerhalb der Gruppe, in der es zum “Ausbruch” kam, aufzuarbeiten. Rückblickend betrachtet wollten wir nur die aggressive Reaktion des Buben “abstellen”, ohne genau auf die Ursachen einzugehen. Dabei stießen wir aber an unsere Grenzen, die zusätzlich von Zeitmangel und unzureichender Ausbildung in Konfliktverarbeitung geprägt waren.

Immer wieder reagierte das eine oder andere Kind mit Zornausbrüchen oder aggressiver Verweigerung, und wir konnten zu diesem Zeitpunkt nur mit einem Zugeständnis zur Auflösung der Großgruppe antworten. In Gesprächen zwischen uns Lehrerinnen wurde nun immer deutlicher, daß dieser Weg des Trennens der Kinder in zwei Gruppen für meine Kollegin immer mehr zum gangbaren Weg wurde. Die objektiv erscheinende Entlastung führte zu einer eingeschränkten Sichtweise in bezug auf die ursprüngliche Idee. Ich konnte noch nicht eingestehen, daß mir diese Lösungsstrategie falsch erschien, weil eine echte Aufarbeitung der Wurzel aggressiven Verhaltens nicht gegeben war, und es gelang mir nicht, meinen Anspruch an integrative Arbeit zu artikulieren.

Diese Erlebnisse prägten jedoch unsere weitere Arbeit zusehends. Immer öfter trennten wir die Kindergruppen, ohne die Auswirkungen dieses Vorgehens zu hinterfragen, und es gelang anfangs sehr gut, daraus folgende Konsequenzen zu verdrängen. Sicherlich wurde dieses - nun nach außen ruhig erscheinende - Vorgehen unserer Arbeit von einem permanenten Erfolgsmeldezwang begünstigt. Dazu kam die große Unsicherheit, da wir in bezug auf integratives Arbeiten keinerlei Unterstützung erhielten und somit ganz auf uns selbst gestellt waren. (Zu diesem Zeitpunkt bestand noch keine Supervisionsmöglichkeit oder eine begleitende Unterstützung des Schulversuches.)

Immer tiefer rutschten wir in eine Sackgasse, die Auseinandersetzung mit problembehafteten Situationen wurde von uns nicht als notwendiger Schritt auf dem Weg zur effizienteren Kooperation erkannt, wir konnten nichts Positives daraus ableiten. Unser Weg wurde zu einem linearen Geschehen, der keine Abweichungen mehr zuließ und deshalb stabilisierend auf unsere Trennung und unsere schlechte Arbeitsbeziehung wirkte. Dies sei im folgenden Kapitel verdeutlicht.

Meine Geschichte mit Elvira –
Der Versuch, am Mißerfolg zu wachsen


Elvira kam drei Wochen nach Schulbeginn der 1. Klasse zu uns. Sie ist ein zartes, kleines Mädchen, das sehr schnell und offen auf andere Menschen zugeht. Sie ist sprachlich sehr gut gefördert, kann daher alles sprechen, sich verbal sehr gut ausdrücken und ist immer für Späße aufgelegt. Sie kam von einer privat geführten Sonderschuleinrichtung für schwerstbehinderte Kinder zu uns in die Integrationsklasse, nachdem die Eltern von der gemeinsamen Erziehung und Bildung nichtbehinderter und behinderter Kinder erfahren hatten. Den weiten Schulweg für ihr Kind nahmen sie gerne in Kauf. Wir wußten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß der Schulwechsel auch deshalb vollzogen wurde, weil Elviras Eltern mit dem Unterricht der privaten Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder nicht zufrieden waren. Elvira kam mit Down-Syndrom zur Welt und hat mehrere Geschwister.

Wir alle, Erwachsene und Kinder, nahmen uns um Elvira sehr an, beschäftigten uns lange Zeitabschnitte des Vormittags eingehend mit ihr, da wir die wichtige Einschulungs- und Kennenlernphase fast abgeschlossen hatten und wir nicht wollten, daß sie aufgrund ihres späteren Schuleintrittes Nachteile erleben sollte. Elvira wurde von allen Kindern der Klasse sehr lieb aufgenommen und bald als voll zugehörig erlebt. Das Mädchen war uns nun als viertes behindertes Kind anvertraut worden, und damit war die Schülerhöchstzahl in unserer Klasse erreicht, wir konnten also beruhigt weiter am Aufbau der Gruppenzusammengehörigkeit arbeiten, ohne damit rechnen zu müssen, daß unerwartete weitere Einschulungen auf uns zukommen würden (siehe auch Kap. 6, Rahmenbedingungen).

Die Sonderschullehrerin bemühte sich sehr um Elvira, sicher auch deshalb, weil man mit dem Mädchen viel sprechen konnte und die...

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