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Intime Memoiren

AutorGeorges Simenon
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl1376 Seiten
ISBN9783455004052
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Eine Autobiographie wie sein Werk: gewaltig, spannend, maßlos, über 1000 Seiten lang. Und überaus menschlich. Wer das Geheimnis Simenon verstehen will, muss die Intimen Memoiren lesen. Hunderte von Romanen, Tausende von Frauen, Schlösser, Villen, Luxuswagen ... Georges Simenons Leben und Werk ist von einer Üppigkeit und einem Reichtum, von denen die allermeisten Schriftsteller heutzutage nur träumen können. Und dennoch: Trotz seines immensen literarischen Vermächtnisses, ist das Bild, das er in seinen Memoiren von sich zeichnet, nicht nur das eines Menschen, der das Leben in seiner ganzen Fülle erleben wollte, und eines manischen Schriftstellers, sondern auch das eines Familienvaters, dem seine Kinder das Wichtigste sind. Und so sind die Intimen Memoiren neben einer ergreifenden Lebensbeichte auch das schonungslose Selbstbekenntnis eines Vaters, der versucht, mit dem Selbstmord seiner Tochter ins Reine zu kommen.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

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Leseprobe

Intime Memoiren


1


Samstag, 16. Februar 1980

Mein kleines Mädchen,

ich weiß, dass du tot bist, und dennoch ist es seitdem nicht das erste Mal, dass ich dir schreibe. Du wärst lieber unauffällig fortgegangen, ohne irgendjemanden zu stören. Nun, dein Tod hat ein ganzes juristisches Räderwerk in Gang gesetzt, und noch heute bemühen sich Notare und Anwälte, Probleme zu lösen, die der Starrsinn deiner Mutter aufwirft und über die früher oder später vielleicht die Gerichte entscheiden werden.

 

Doktor Martinon, unser lieber Freund aus Cannes, mit dem du am Freitag, den fünfzehnten, eine telefonische Verabredung hattest, war es, der Alarm schlug. Dein Telefon läutete vergebens. Martinon rief ununterbrochen bei dir an und brachte schließlich in Erfahrung, dass der Anschluss abgestellt war. Bei Tagesanbruch rief er Marc an, denjenigen deiner Brüder, der am nächsten bei Paris wohnt. Marc und Mylène eilten zu den Champs-Élysées und fanden deine Wohnung von innen verschlossen vor. Da der Concierge keinen Zweitschlüssel besaß, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Kommissar des Viertels anzurufen, der sogleich kam und einen Spezialisten alarmierte.

In deiner Wohnung herrschte tadellose Ordnung, und sie war sauber, als hättest du, bevor du fortgingst, eine gewissenhafte Reinigung vorgenommen, einschließlich des Waschens und Bügelns deiner Kleider und deiner Wäsche. Alles war an seinem Platz, und du lagst auf deinem Bett, ein kleines rotes Loch in der Brust.

Woher kam auf einmal die .22er Pistole? Wer hatte die Patronen gekauft?

 

Eine gerichtliche Untersuchung begann – Gerichtsmedizin, Staatsanwaltschaft, Erkennungsdienst –, und ich schaute von meinem kleinen Haus in Lausanne aus auf das Durcheinander, das ich so oft in meinen Romanen beschrieben habe. Als die Ermittlung an Ort und Stelle abgeschlossen war, wurde dein Leichnam ins gerichtsmedizinische Institut gebracht. Ich konnte dir die Autopsie ersparen, bat aber den Kommissar telefonisch, deine beiden Türen amtlich zu versiegeln.

Die Siegel sind vor fast einem Monat für einige Stunden entfernt worden, um eine amtliche Inventarisierung durch einen staatlichen Auktionator zu ermöglichen, in Anwesenheit eines Notars, eines Gerichtsvollziehers, des Kommissars, des Anwalts deiner Mutter und desjenigen, der uns vertrat, sowie deiner drei Brüder, schließlich deiner Mutter und Aitken, die an meiner statt da war, weil ich nicht mehr reisen kann; und alle bewegten sich um dein Bett herum, das noch so war, wie man es vor fast zwei Jahren vorgefunden hatte.

Danach wurden die Siegel wieder angebracht, und ich weiß nicht, wann sie endgültig entfernt werden. Es ist ein wenig so, als wäre dein Leichnam noch warm, nach fünfhundertsechs Tagen!

Da ich es nicht persönlich tun konnte, setzte sich Aitken neben den Fahrer des Leichenwagens und brachte dich nach Lausanne zurück, wie du es dir gewünscht hattest. Dort nahm ich dich in Empfang, und du wurdest im Beerdigungsinstitut der Stadt aufgebahrt, wo ich niedergeschmettert fast eine Stunde allein mit dir verbrachte.

Ich habe deinen letzten Willen, der auf deinem Bett gefunden wurde, peinlich genau befolgt. Keine Trauerfeier. Am nächsten Tag standen nur wenige Personen an deinem Sarg, während der Organist leise Johann Sebastian Bach spielte, den wir beide liebten. Blumen im Überfluss. Von mir Unmengen weißen Flieders, der in meinen Augen dem kleinen, fröhlichen Mädchen entsprach, das ich gekannt habe.

In der ersten Reihe links Schulter an Schulter vier Männer: deine drei Brüder, Marc, Johnny und Pierre, und ich neben dem schmalen Gang.

Auf der anderen Seite deine Mutter und eine Dame, die ich nicht kannte.

Hinter deinen Brüdern und mir Mylène, Boule und Teresa, dahinter zwei oder drei deiner Freunde, die einzuladen du mich gebeten hattest.

Zwanzig Minuten Stillstand und Musik. Nachdem ich mich für den nächsten Tag mit deinen Brüdern verabredet hatte, ging ich auf das Zeichen des Zeremonienmeisters hin als Erster hinaus. Draußen traf ich wieder auf Teresa, die mich nach Hause brachte. Ich war wie betäubt, als wäre ich plötzlich ein sehr alter Mann geworden.

Als wir am Kamin saßen, wussten wir, dass in eben diesem Augenblick dein Leichnam im Krematorium eingeäschert wurde. Da du mich mit Nachdruck darum gebeten hattest, hatte ich dafür gesorgt, dass der goldene Ring dir nicht abgenommen würde, den ich dir auf dein Flehen hin gekauft hatte, als du acht Jahre alt warst, und den du mehrmals hattest erweitern lassen.

Am Tag darauf brachte uns der Vertreter des Beerdigungsinstituts frühmorgens die Schatulle, die deine Asche enthielt, und als wir allein waren, erfüllte ich deinen letzten Wunsch: die weiße Asche in dem kleinen Garten unseres rosa Hauses zu verstreuen.

 

Ein wenig später kamen deine Brüder. Die Sonne schien hell, das Gras war von einem satten Grün.

Zum letzten Mal bewegte ich mich wie der Schlafwandler, der ich als Kind gewesen war, aber als ich den Garten betrachtete, machte der heftige Schmerz, der mich während dieser langen Woche des Wartens niedergedrückt hatte, einem Gefühl von Zärtlichkeit Platz. So empfinde ich noch immer jedes Mal, wenn ich den Garten und die dort herumpickenden Vögel sehe, was wegen der Position meines Sessels, den du so gut kennst, hundertmal am Tag vorkommt.

Ich habe die Gewohnheit angenommen, dir einen guten Morgen zu wünschen, wenn die Fensterläden geöffnet werden, und einen guten Abend, wenn sie geschlossen werden, auch habe ich mir angewöhnt, in Gedanken mit dir zu sprechen.

Es hat lange gedauert, bis ich mich wieder daran gewöhnt habe, so wie alle anderen zu leben.

 

Später standen auf dem weißen Bücherregal neben meinem Schreibtisch, aneinandergereiht und sogar gestapelt, dicke Ordner aus Karton, wie man sie bei Notaren sieht, darin Hunderte von deinen und meinen Briefen, deine ersten Schulaufsätze, deine Tagebücher und unzähligen Fotos, deine Notizbücher, Entwürfe, persönlichen Aufzeichnungen. Vor mir lag alles, was von meiner kleinen Marie-Jo geblieben war, und ich wartete auf den Moment, in dem ich in der Lage sein würde, daran zu rühren.

Es dauerte beinahe zwei Jahre, bis ich mich stark genug fühlte, in deine Vergangenheit, in dein ganzes Leben und dadurch auch in meine Vergangenheit einzutauchen, in der du – was ich dabei mehr denn je spürte – einen so wichtigen Platz einnimmst.

 

Deine Geheimnisse, die du mir anvertraut hast, als wir einander gegenübersaßen, jeder in seinem Sessel, als du mir deine verwirrenden Gedichte vorgelesen hast, als du mir, dich selbst auf der Gitarre begleitend, Lieder zu Melodien vorgesungen hast, die wir mochten und für die du den Text auf Englisch verfasst hattest, und die letzten Kassetten, die du mir geschickt hast, von denen einige mir das Herz zerrissen – all das, was dein bewegtes Leben im Kern ausmachte, habe ich endlich verstanden, mein kleines Mädchen. Und ebenso deinen Wunsch, dass diese Zeugnisse deiner leuchtenden Existenz, deiner dunklen Stunden, deiner Kämpfe nicht auseinandergerissen werden oder verschwinden.

Ich habe dir einmal gesagt, ich glaube sogar, es geschrieben zu haben, dass ein Mensch nicht ganz und gar stirbt, solange er im Herzen eines anderen Menschen lebendig bleibt. Nun, du bist lebendig in mir, so lebendig, dass ich dir schreibe und zu dir spreche, so als würdest du mir etwas vorlesen oder mich hören und mir antworten, Vertrauen und Liebe in deinem Blick.

Je länger ich mich in deinen Gedanken bewege, desto mehr habe ich die Gewissheit, dass du ein außergewöhnlicher Mensch warst, von seltener Hellsichtigkeit, angetrieben von einem beinahe grausamen Willen, deine Wahrheit zu entdecken. So war dein Tod ein gleichsam heroischer Akt, und – du weißt es sehr wohl und hast es mir zaghaft zu verstehen gegeben – all das kann nicht umsonst gewesen sein.

Aus diesem Grund beginne ich heute, nachdem ich lange darüber nachgedacht und meine Kräfte eingeschätzt habe, deine Geschichte zu schreiben, mit der Hand und in Hefte, die deinen sehr ähnlich sehen und die ich eigens dafür bestellt habe, die Geschichte eines Menschen, den ich über alles liebe und der für niemanden mehr tot sein wird.

 

Einst im Jahre 1941, in einem großen Renaissanceschloss, das ich in der Vendée gemietet hatte, stellte mir ein Arzt eine falsche Diagnose. Er gab mir höchstens noch zwei Jahre zu leben, und das auch nur, wenn ich nicht arbeiten, mich zahllose Stunden auf meinem Bett ausruhen, nicht rauchen und sexuell enthaltsam leben würde. Ich war achtunddreißig Jahre alt. Dein Bruder Marc war zwei. Ich begab mich in die Schreibwarenhandlung der nahe gelegenen Kleinstadt und begann für ihn, wenn er erwachsen sein würde, die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben, seiner Eltern, seiner Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen.

Mit derselben kleinen Handschrift wie heute schrieb ich vier Hefte voll, die André Gide lesen wollte. Ich vertraute ihm eine Kopie des Manuskripts an, und nachdem er es gelesen hatte, riet er mir, nicht in der ersten Person fortzufahren und die Geschichte wie einen Roman mit der Maschine zu tippen. So ist »Pedigree« (Stammbaum) entstanden. Was die Hefte betrifft, so sind diese unter dem Titel »Je me souviens« (den ich nicht gewählt habe) erschienen.

 

Nun beginne ich einen neuen »Stammbaum«. Nicht mehr meinen,...

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