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E-Book

Islam ist Hingabe

Eine Entdeckungsreise in das Innere einer Religion

AutorRalf K. Wüstenberg
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl270 Seiten
ISBN9783641189297
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
War Calvin ein Dschihadist?
Am Muslim College in Cambridge trifft Ralf Wüstenberg auf einen Islam, der so gar nicht in das Bild von der dunklen Religion passen will. Er begegnet Muslimen, deren Hingabe und Ernst ihn neugierig machen. Sind sie in Glauben, Gottesbild und Weltverständnis uns Christen vielleicht gar nicht so fern? Im Werk des arabischen Theologen und Mystikers al-Ghazali findet Wüstenberg einen Begleiter in das Innere des Islam. Er entdeckt: Islamisches Denken ist in manchem dem der Reformatoren verblüffend nahe.
  • Von den Gleichklängen des Denkens in Islam und Christentum
  • Denkanstöße für ein vertieftes Gespräch zwischen den Religionen


Ralf K. Wüstenberg, geboren 1965, Dr. theol., ist Professor für Evangelische Theologie an der Europa-Universität Universität Flensburg und Senior Research Associate des von-Hügel-Institute der Universität Cambridge (UK). Er ist Sprecher der Abteilung Dialog der Religionen an der Europa-Universität und des trilateralen Graduiertenkollegs »European Wasatia Graduate School for Peace and Conflict Resolution«. Seit 2018 Botschafter des »House of One Berlin« in Berlin.

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Leseprobe

1. VON DER »SEHNSUCHT« NACH GOTT – ABŪ-ḤĀMID AL-GHAZĀLĪ ALS EINSTIEG IN DIE ISLAMISCHE THEOLOGIE

Den ersten Denkanstoß für den christlichen Glauben erhielt ich über einen beiläufigen Hinweis, den mir der britische Islamwissenschaftler Timothy Winter beim Lunch gab. »Lesen Sie doch mal al-Ghazālīs Buch über die Liebe!« Zugegebenermaßen musste ich mir den Namen »al-Ghazālī« buchstabieren lassen. Mir war nicht bekannt, um welch bedeutenden Theologen es sich hier handelt!

Als ich jenes Buch aus der Bibliothek entlieh, war ich erst etwas verwundert. Der volle Titel des Bandes lautet: »Die Gottesliebe, die Sehnsucht nach Gott, die Vertrautheit und die Zufriedenheit.«13 Verwundert war ich, weil mir sofort Assoziationen kamen: Kann man mit Gott »vertraut« sein? Was hat es mit der »Sehnsucht nach Gott« auf sich? Gebannt las ich von der »Sehnsucht nach der Begegnung mit Gott«, von der »Lust der Anschauung seines teuren Antlitzes«14, vom »Genuss der Gebetszwiesprache«15, ja, von einem »Verlangen« nach Gott, das in der zum Teil mystisch getränkten Sprache selbst in englischen und deutschen Übersetzungen noch intime Züge trägt – alles Anstöße zum Nachdenken, zumal, da ich bisher angenommen hatte, dass im Islam Gott eher als die unnahbare und absolute Autorität gilt, als der ganz Ferne bzw. Andere.

Ein »Verlangen nach Gott«, eine »Sehnsucht«, wie sie so eindringlich beschrieben wird, wurzelt in einer bestimmten Vorstellung von der Beziehung zwischen Gott und Mensch. »Woran kann denn der Mensch erkennen, dass Gott ihn liebt?« Al-Ghazālī meint, man könne darauf schließen und verweist auf ein überliefertes Prophetenwort: »Wenn Gott einen Menschen liebt, sucht er ihn heim, und wenn er ihn mit starker Liebe liebt, macht er ihn sich zu eigen.«16

Die höchste Form der Sehnsucht nach Gott findet, wie wir noch im Einzelnen entdecken werden, in dem Konzept »Islam« selbst ihren Ausdruck. Thetisch vorwegnehmend, kann man sagen: Glauben bedeutet »Islam«, nämlich völlige Hingabe, sich Gott anheimstellen, sich seinem Willen ergeben, woraus Dankbarkeit gegenüber Gott, Zufriedenheit mit sich selbst und Großzügigkeit dem Mitmenschen gegenüber erwachsen. So wird uns der Begriff Islam in diesem Buch selbst zum Denkanstoß werden; die Religion wird nicht nach ihrem Stifter oder einer ethnischen Gruppe genannt, sondern nach der in ihr wirksamen Gottesbeziehung: Islam als hingebungsvoller Gehorsam gegenüber dem einen Gott – Allāh bedeutet wörtlich übersetzt schlicht der Gott –, verwirklicht in der gewissenhaften Beachtung der fünf ›Pfeiler‹, nämlich Glaubensbekenntnis, Ritualgebet, Fasten, Mildtätigkeit und Pilgerfahrt. Wir werden auch nach dem Charakter dieser bedingungslosen Hingabe zu fragen haben. Geht es um ein resignatives Sich-Ausliefern an ein übermächtiges Schicksal? Oder meint Islam die Hingabe an eine von Allāh kommende Zuteilung und versteht diese als göttliche Fügung, der man voller Vertrauen begegnet, gerade auch dann, wenn es Rückschläge zu verkraften gilt?

Für al-Ghazālī bedeutet Islam schlicht, einen Koranvers mit Leben zu erfüllen. »Wende Dich von ganzem Herzen Gott zu« (Sure 73,8). Dieser Koranvers erinnert in sich an die biblische Aufforderung aus dem 5. Buch Mose, nämlich Gottes Gesetze zu befolgen und ihn zu lieben »von ganzem Herzen und mit all deiner Kraft« (Dtn 6,4). In seiner Koranerklärung erläutert al-Ghazālī: »Sich Gott völlig widmen, wird dadurch erleichtert, dass man sich abwendet von allen Dingen, die nicht Gott sind. Dies vermittelt der Korantext: ›Es gibt keinen Gott außer ihm. Darum nimm ihn dir zum Sachverwalter (Sure 73,9).‹«17 Das islamische Glaubensbekenntnis (aš-šahāda) ist direkt verwoben mit dieser Vorstellung von Islam als Hingabe: »Es ist kein Gott außer ihm« (Sure 2,255). Man wendet sich einem Gott zu, der in sich selbst Bestand hat (nicht in etwas anderem). »Sein Wesen ist absolute Souveränität, Autorität und Befehl, was impliziert, dass ihm nichts zugesellt werden kann. Er ist also im wahrsten Sinne der ganz andere.«18 Große Bereiche der Koranauslegung, Theologie und Ethik al-Ghazālīs beschäftigen sich mit den Aufgaben, die auf Muslime zukommen, wenn sie Islam als gläubige Hingabe praktizieren: »Die Beharrlichkeit, sich Gott immer wieder zu erinnern; das sich Abwenden von allem, was nicht Gott ist, wird dadurch erreicht, dass man der Leidenschaft zu widerstehen versucht, dass man sich reinigt von allen Mühseligkeiten dieser Welt und das Herz von ihnen reinhält. Die Folge davon ist das Heil, wie der Koran sagt: ›Selig ist, wer sich rein hält, des Namens seines Herrn gedenkt und das Ritualgebet verrichtet (87,14-15)‹.«19 Um die innere Beziehung zwischen dem Menschen, der Gott sucht, und Gott, der gesucht wird, zum Ausdruck zu bringen, bedient sich al-Ghazālī – wie auch Paulus und Augustin20 – eines Bildes: dem Gleichnis des Spiegels. Wenn ein Spiegel, der in der Antike aus poliertem Kupfer gefertigt wurde, schmutzig und angelaufen ist, kann er kein Spiegelbild geben. Ist der Spiegel aber gereinigt, kommt das Bild zum Vorschein. Nicht die Bewegung des Spiegels, sondern die Reinigung ist das Wesentliche. Auf den Gottsucher übertragen, bedeutet das: »Du hast keine Verpflichtung, als dass du das Auge des Herzens reinigst von seinem Schmutz und seine Pupille kräftigst. Und wenn dies der Fall ist, dann scheint Gott in das Herz wie ein Bild in den Spiegel, so dass wenn Gott dich plötzlich ergreift in seiner Offenbarung in dem Spiegel des Herzens, wirst du dich beeilen zu sagen, dass Gott wahrlich im Herzen ist und dass die menschliche Natur sich mit der göttlichen Natur bekleidet hat.«21Warum al-Ghazālī? Warum gerade dieser Theologe aus dem Frühmittelalter? Inwiefern ist er repräsentativ für den Islam? Timothy Winters Empfehlung bedeutete, wie sich schnell herausstellte, auf einen Schatz hingewiesen worden zu sein. Abū-āmid al-Ghazālī gilt als der »große islamische und humanistische Denker« (Muʼallafat22), als »interessantester Vertreter seines philosophischen Zeitalters« (Obermann23), ja, als »einer der allergrößten in der Geschichte der Religionen« (Bouman24). Er wird als Thomas von Aquin der islamischen Theologie gerühmt (Küng25), auch wegen seiner Tugendlehre (Renard)26 sowie mit Augustin (Bouman), Descartes (Elschazli) oder Kant (Obermann) verglichen. Wer auch nur einige der vierzig Bücher seiner ›Summa Theologica‹, die er die »Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften« nannte (und die teilweise in deutscher, vollständig in englischer Sprache vorliegen27), studiert, wird schnell Urteile wie diese teilen: »Beeindruckend ist sein fester Glaube an Gott und die Bestimmung des Menschen im Jenseits. Großartig ist sein durchdringender Blick in die Eitelkeiten und den Neid dieser Welt, und mit scharfsinniger psychologischer Analyse hat er die Schwächen und guten Möglichkeiten der Menschenseele durchschaut.«28 Vergleiche mit Augustin, aber auch mit seinem Pariser Zeitgenossen Peter Abaelard, für die, je auf ihre Weise, die Liebe zentraler Inhalt ihrer Theologien war, werden unsere Beschäftigung mit dem faszinierenden Islaminterpreten anreichern und zu ersten Denkanstößen für den christlichen Glauben führen.

EINE BEWEGENDE BIOGRAPHIE

Doch wer war eigentlich al-Ghazālī, über den wir exemplarisch den Einstieg in die islamische Theologie sunnitischer Prägung wählen? Abū-āmid Muammad b. Muammad al-Ghazālī29 wurde 1058 n.Chr. als älterer von zwei Söhnen eines Wollspinners in Tus im heutigen Iran geboren. Sein Vater verstarb früh, stellte aber vor seinem Tod die Erziehung seiner Söhne in die Obhut eines in der Literatur unbekannten Mystikers, der sie zu tiefer Gottesliebe erzog. Der Bruder wurde dann ein berühmter Prediger, allerdings übertraf Abū-āmid al-Ghazālī ihn in Ansehen und Gelehrsamkeit. Er studierte bei den berühmtesten Lehrern seiner Zeit Rechtswissenschaft30 und Mystik und sollte schnell die zeitgenössischen islamischen Schulrichtungen der Rechtsphilosophie, der Theologie, der Philosophie und der Kunst der Dialektik beherrschen.

Vieles zu seinem Leben erfahren wir aus einer Art Autobiographie, die al-Ghazālī einige Jahre vor seinem Tod (1111) verfasst hat. Dieses kleine Büchlein31, das im arabischen Original gerade einmal vierundvierzig handschriftliche Seiten umfasst, ist mit Augustins weitaus umfassenderen »Bekenntnissen« verglichen worden.32 Wie in den »Confessiones« Augustins führt der Weg auch bei al-Ghazālī von der Glaubenskrise zur Glaubensgewissheit. Dieser Weg ist in beiden Selbstdarstellungen bildreich beschrieben. Verbindungslinien von Leben und Glauben werden jeweils gezeichnet. Ein Ereignis im Leben al-Ghazālīs gleicht einem Räubermärchen und hatte unmittelbar Auswirkungen auf seine theologische Arbeitsweise. Im Alter von zwanzig Jahren geriet er auf dem Rückweg nach Tus tatsächlich unter Räuber. Ihm wurden seine Bücher, Glossare und Schriften genommen. In seinen Erinnerungen notierte er: »Ich...

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