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Jahre ohne Sommer

Europäische Künstler in Kälte und Krieg

AutorSteffen Bruendel
VerlagHerbig
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783776682434
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wann und wie entsteht große Kunst? Dichter und Maler aus ganz Europa setzten sich ausführlich mit dem Ersten Weltkrieg auseinander - zum Teil bejahend, zum Teil kritisch. In der enormen Diskrepanz zwischen anfänglicher Euphorie und späterer Depression liegt bis heute die kulturgeschichtliche Faszination. Besonders das Jahr 1916 war aufgrund der klimatischen Rahmenbedingungen außergewöhnlich. Ein Vulkanausbruch wenige Jahre zuvor veränderte die Atmosphäre und führte zu einem besonders kalten Sommer. Viele Künstler nutzten dies, um sich verstärkt ihrem Schaffen und der Verarbeitung des Krieges zu widmen. So wurde das Jahr 1916 zum Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Werken. Steffen Bruendel zeigt, wie die Schlachten von den intellektuellen Frontkämpfern erfahren, gedeutet und verarbeitet wurden.

Dr. Steffen Bruendel, Jahrgang 1970, ist Historiker und Direktor des Forschungszentrums Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuvor war er Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und als Wissenschafts- und Kulturmanager für Stiftungen und Unternehmen tätig. Er forscht und publiziert insbesondere zur Geschichte des Ersten Weltkriegs und der europäischen Nachkriegsordnung.

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Leseprobe

Prolog

1916 war ein kaltes und verregnetes Jahr. Jedenfalls war der Sommer deutlich kälter und nasser als gewöhnlich. Bisweilen gilt der eisige Winter zur Jahreswende 1916/17 sogar als »der kälteste seit Menschengedenken«.[1] Die deutliche Temperaturabkühlung ist auf einen Vulkanausbruch in Alaska vier Jahre zuvor zurückzuführen, der als Novarupta-Katmai-Eruption bekannt ist und als die größte Vulkanexplosion des 20. Jahrhunderts gilt.[2] Anfang Juni 1912, zwei Monate nach dem Untergang der Titanic, war der nordamerikanische Vulkan Novarupta ausgebrochen, was ab 1913 zu einer Trübung der Atmosphäre führte, die sich in den USA und in Mitteleuropa auf das Wetter auswirkte.[3]

Die klimatischen Folgen dieser Eruption waren 1916 am stärksten zu spüren. Auch wenn sie nicht ganz so verheerend waren, wie man im Rückblick vermuten könnte, erschwerte die Abkühlung auf der Nordhalbkugel die allgemeine Versorgungslage erheblich und stellte eine zusätzliche Belastung für die Krieg führenden Nationen dar. Heute weiß man, dass extreme Kälte für die Menschen weitaus gefährlicher ist als große Hitze.[4] Als sommerloses Jahr steht 1916 in einem scharfen Kontrast zum Jahr des Kriegsausbruchs, denn 1914 zeichnete sich durch einen langen, heißen Sommer aus. Das Jahr 1916 war allerdings nicht das einzige Jahr ohne Sommer, und der Winter 1916/17 war in der Tat nicht der kälteste ›seit Menschengedenken‹.

Ein Jahrhundert zuvor erlebten Europa und Nordamerika schon einmal einen außergewöhnlichen Kälteeinbruch. Auch damals war ein Vulkanausbruch die Ursache. Die Eruption des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 war eine der stärksten seit Tausenden von Jahren. Sie machte 1816 zum kältesten Jahr des 19. Jahrhunderts und führte zu einer Klimakatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Die emporgeschleuderte Asche verminderte die Sonneneinstrahlung auf der Erde so dramatisch, dass sich die Temperatur in Mitteleuropa und den USA für mehrere Jahre erheblich abkühlte. Heute sind die globalen Zusammenhänge des Weltklimas erforscht, aber vor 200 Jahren waren sie unbekannt, sodass sie erst Jahrzehnte später als solche identifiziert wurden.[5]

1816 trafen die unwirtlichen Wetterbedingungen die europäischen Nationen besonders hart, weil sie noch an den Nachwirkungen der napoleonischen Kriege (1804–1912) und an den Folgen des europäischen Befreiungskampfes gegen die Franzosen (1813–1915) litten. Die »Schrecken des Krieges«, die Europa wenige Jahre zuvor heimgesucht hatten, überlieferte der spanische Maler Francisco de Goya in seinem gleichnamigen, zwischen 1810 und 1820 geschaffenen Zyklus über die französische Invasion Spaniens (1807–1914). Er stellte geschundene Körper, zerstückelte Leichen, Berge von Toten und Halbtoten schonungslos dar, zeigte Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gestalt von Zerstörungen, Vergewaltigungen, Erschießungen und Massakern. Wer dieses irrationale Grauen überlebt hatte, den suchte 1816 die Klimakatastrophe heim: Überschwemmungen, eisige Kälte und Schneefall im Sommer zerstörten die Ernten und führten zu Hungersnöten und Verelendung.[6]

Hundert Jahre später, 1916, waren die Rahmenbedingungen des Katastrophenszenarios ähnlich. Während jedoch 1816 der Krieg schon vorbei war, als die Klimakatastrophe Europa ins Elend stürzte, tobte 1916 noch ein Krieg, der als industrialisierter Krieg die Schrecken der napoleonischen Kriege weit übertreffen sollte: der Erste Weltkrieg, der 1914 begann und bis 1918 andauerte.[7] Gerade die Schlachten des Jahres 1916 verwüsteten ganze Landstriche und forderten Millionen Tote. Hunderttausende starben bis Ende Januar 1916 auf der türkischen Halbinsel Gallipoli und noch viele mehr an der Westfront: nahe der französischen Stadt Verdun (Februar bis Dezember 1916) und auf den Schlachtfeldern an der Somme (Juli bis November 1916). Außerdem fand von Mai bis Juni 1916 die verlustreichste Seeschlacht dieses Krieges statt: in der Nordsee, am Skagerrak.[8]

Wiederum fast einhundert Jahre später beeinträchtigte erneut ein Vulkanausbruch das Leben auf der Nordhalbkugel. Die Eruption des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im Frühjahr 2010 führte zu einer bis dahin beispiellosen Behinderung des gesamten Luftverkehrs in Europa. Wegen der ausgespienen Vulkanasche musste der Flugverkehr in weiten Teilen Nord- und Mitteleuropas für mehrere Tage eingestellt und über Wochen stark eingeschränkt werden. Glücklicherweise reichten weder die vulkanischen Gase noch die Höhe der Eruptionssäule aus, um das Klima langfristig und über Ländergrenzen hinweg zu beeinträchtigen, da Asche und andere Partikel nur in begrenzten Mengen in die Stratosphäre gelangten. Gleichwohl verursachte der Vulkanausbruch die größte Störung des Luftverkehrs seit den Terroranschlägen in New York vom 11. September 2001.[9] Diese wiederum zogen den globalen, von den USA geführten ›Krieg gegen den Terror‹ nach sich, der bis heute andauert. Er brachte bisher unermessliches Leid für Zivilisten und Soldaten, führte zur Gründung neuer Terrororganisationen im Nahen und Mittleren Osten und löste Migrationsströme ungeahnten Ausmaßes aus, die gerade Europa vor enorme Herausforderungen stellen.

Ohne den Zusammenhang zwischen dem Vulkanausbruch und dem ›Krieg gegen den Terror‹ überstrapazieren zu wollen, ist es doch bemerkenswert, dass in Abständen von etwa einhundert Jahren – 1816, 1916 und 2010 – große Naturkatastrophen bzw. deren Folgen mit beispiellosen militärischen Auseinandersetzungen einhergingen. In allen drei Fällen wurden die dramatischen Folgen zu Themen der Literatur und der bildenden Kunst.[10] Somit lässt sich konstatieren, dass ein durch Kriege und Naturkatastrophen potenzierter Schrecken kulturell besonders intensiv verarbeitet wird.

Das Kriegs- und Schreckensjahr 1916 begünstigte die Entstehung literarischer und künstlerischer Werke ebenso wie das Jahr ohne Sommer hundert Jahre zuvor. Während aber 1816 der Dichter Lord Byron, sein literarisch ambitionierter Reisebegleiter John William Polidori und die Schriftstellerin Mary Godwin (später Shelley) den schrecklich-kalten Sommer jenes Jahres in den Schweizer Bergen verbrachten und dort in aller Abgeschiedenheit Weltliteratur produzierten – Byrons Gedicht »Finsternis«, Polidoris Kurzgeschichte »Der Vampyr« und Mary Shelleys Roman »Frankenstein«[11] –, befanden sich die Vertreter der literarischen und künstlerischen Avantgarden 1916 in den Schützengräben der europäischen Kriegsschauplätze, also mitten im Geschehen. Sie schilderten ihre Erlebnisse in Tagebüchern und Briefen, konnten sie künstlerisch aber nur in Gefechtspausen oder nach ihrer Entlassung aus dem Heeresdienst bzw. nach Kriegsende verarbeiten.

Die Namen bedeutender Künstler und Dichter sind mit den Schlachten des Jahres 1916 verbunden. Der britische Dichter Rupert Brooke verstarb auf dem Weg in den Kampf um die türkische Halbinsel Gallipoli. Vor Verdun kämpften der deutsche Maler Franz Marc, der dort im März 1916 fiel, der deutsche Schriftsteller Arnold Zweig und der französische Romancier Henri Barbusse, der sein literarisches Kriegstagebuch 1916 im Feldlazarett vollendete. Die Schlacht an der Somme erlebten der britische Dichter Siegfried Sassoon, der nachmalige deutsche Schriftsteller Ernst Jünger sowie der amerikanische Dichter Alan Seeger. Schließlich dienten die deutschen Schriftsteller Johann Wilhelm Kinau alias Gorch Fock sowie Hans Bötticher alias Joachim Ringelnatz bei der Kaiserlichen Marine, wobei Ersterer 1916 am Skagerrak den Tod fand.

Ihre Briefe und persönlichen Auszeichnungen zeigen uns heute, was sie fühlten und dachten, was sie antrieb oder resignieren ließ. Ihre im Krieg oder kurz danach geschaffenen Werke gehören mittlerweile zum europäischen Bildungskanon. Berühmt sind die Gedichte Siegfried Sassoons und Wilfred Owens sowie die autobiografisch geprägten Schriften von Henri Barbusse (»Das Feuer«, 1916) und Ernst Jünger (»In Stahlgewittern«, 1920). Nicht wenige Kriegsromane zählen zur Weltliteratur, wie beispielsweise Erich Maria Remarques 1929 erschienener Roman »Im Westen nichts Neues«. Andere sind heute vergessen wie Arnold Zweigs erst 1935 im Exil publizierter Roman »Erziehung vor Verdun«. Auch die bildende Kunst reagierte auf den Krieg. Exemplarisch seien die Maler Paul Nash und Franz Marc sowie der Bildhauer Wilhelm Lehmbruck genannt, deren Feldpostbriefe und Werke anschaulich vermitteln, was sie erlebten. Gemeinsam ist vielen Kriegsgedichten und -romanen sowie zahlreichen Gemälden und Skulpturen, dass sie den Krieg als technisierte militärische Auseinandersetzung erfassen, welche den einzelnen Soldaten zu bloßem Menschenmaterial herabstufte.

Viele der Künstler und Dichter, die 1916 an den Kriegsschauplätzen kämpften, hatten sich 1914 freiwillig gemeldet oder waren ihrer Einberufung mit Begeisterung gefolgt. Dies ist ein besonderes Phänomen des Ersten Weltkrieges, der schon den Zeitgenossen als Kulturkrieg bzw. als »Krieg der Geister«[12] – also als Auseinandersetzung der intellektuellen Eliten – erschien und gerade die künstlerischen Avantgarden mobilisierte. Oft lag Patriotismus jener Mobilisierungseuphorie zugrunde. Besonders ausgeprägt war dies bei Henri Barbusse. Zwar projizierte er seine Kriegsbegeisterung auf vorgeblich höhere Werte, folgte aber gerade darin der französischen Propaganda, ohne dies zu reflektieren.

Patriotismus allein erklärt allerdings nicht alles, denn Ernst Jünger hatte beispielsweise noch kurz vor Kriegsbeginn bei der französischen Fremdenlegion angeheuert, und Alan Seeger diente dort im Krieg als amerikanischer Staatsbürger. Abenteuerlust ist deshalb ein...

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