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Japan - Abstieg in Würde

Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt - Ein SPIEGEL-Buch

AutorWieland Wagner
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641216979
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Was passiert, wenn ein ganzes Land in Rente geht
Seit den neunziger Jahren ist die einst als unbesiegbar geltende Wirtschaft Japans in einer Abwärtsspirale gefangen. Sie wird auch dadurch beschleunigt, dass Japans Bevölkerung so schnell altert wie kaum eine andere: In den vergangenen fünf Jahren verlor das Land knapp eine Million Menschen, ganze ländliche Regionen sterben gleichsam aus. Japans Beispiel zeigt, was passiert, wenn ein Land die Grenzen des Wachstums erreicht und sich tiefgreifenden Reformen - insbesondere der konsequenten Öffnung der Wirtschaft für Frauen und Einwanderer - verweigert. Wieland Wagner, Asien-Korrespondent des SPIEGEL, beschreibt in seinem Buch eindrucksvoll, wie die jahrzehntelange Stagnation den Alltag der Menschen verändert und welche Lehren wir in Deutschland aus dem Vergreisen dieser Wohlstandsnation ziehen sollten.

Wieland Wagner, geboren 1959, studierte Geschichte und Germanistik in Freiburg, London und Tokio. Seine Dissertation über Japans frühe Expansionspolitik in Ostasien wurde mit dem Gerhard-Ritter-Preis ausgezeichnet. Von 1990 bis 1993 arbeitete Wagner als Korrespondent für die Nachrichtenagentur Vereinigte Wirtschaftsdienste (VWD) in Tokio. Bis 1995 war er Wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Seit 1995 berichtet Wagner für den SPIEGEL aus Asien, bis 2004 zunächst mit Sitz in Tokio, anschließend in Shanghai, ab 2010 in Peking, ab 2012 in Neu-Delhi und von 2014 bis 2018 wieder in Tokio. 2018 erschien »Japan - Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt«.

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Leseprobe
Einleitung
Eine Art Heimkehr

»O kaeri nasai!« – »Willkommen zurück!« Mit diesen freundlichen Worten begrüßte mich der Beamte der Einwanderungsbehörde Ende Mai 2014 am Flughafen Narita bei Tokio. Ich war mit dem Nachtflug von Neu-Delhi, meinem vorigen Einsatzort als Korrespondent für den SPIEGEL, gelandet. Tatsächlich kam ich mir vor wie einer, der heimkehrt. Als der Beamte mir meinen Ausländerausweis mit der Aufenthaltsgenehmigung ausstellte, spürte ich so etwas wie Erleichterung: Nach zehn Jahren Abwesenheit – sechs davon in Shanghai, zwei in Peking und dann noch mal fast zwei in Neu-Delhi – würde ich nun wieder in Japan leben und arbeiten.

Schon auf dem Weg vom Flughafen nach Tokio sog ich alles ein, was ich an Japan vermisst hatte: die Höflichkeit der Menschen, die Pünktlichkeit der Züge, die Sauberkeit. Der Alltag funktionierte hier so bequem und reibungslos wie nirgendwo sonst in Asien. Selbst das Wetter kam mir schöner vor, kein Smog verschleierte die Aussicht. Und das japanische Essen! Nachdem ich im Zentrum der Stadt angekommen war, kehrte ich in einen Stehimbiss ein, er sah für japanische Verhältnisse etwas heruntergekommen aus. Doch so gut wie hier hatte mir schon lange keine Nudelsuppe mehr geschmeckt.

Zunächst schien alles angenehm vertraut. Doch je länger ich durch Tokio streifte, desto öfter hatte ich den Eindruck, dass sich etwas verändert hatte in meiner alten, zweiten Heimat. Ich konnte es anfangs nicht konkret fassen, aber ich fühlte es immer deutlicher: Die relative Ruhe, die penible Ordnung der Alltagsabläufe, die ich zunächst als so wohltuend empfunden hatte, erschienen mir zunehmend als Lethargie. Wenn ich in die Gesichter der Menschen sah, auf den Straßen, in den S- und U-Bahnen, in den Läden und in den Kneipen, kam Japan mir plötzlich alt und müde vor.

Klar, ich war vorbereitet darauf, dass Japan nicht mehr das gleiche Land war, das ich ein Jahrzehnt zuvor verlassen hatte. Die Nation hatte ein kollektives Trauma erlitten, das fortwirkte: Drei Jahre zuvor, im März 2011, waren ganze Küstenregionen in Nordostjapan von dem verheerenden Erdbeben und dem darauf folgenden Tsunami verwüstet worden. Rund 20 000 Menschen waren dabei umgekommen. Durch den Tsunami wiederum war die Reaktorkatastrophe von Fukushima ausgelöst worden, die dann weite Landstriche radioaktiv verseuchte. Auch in Tokio war zeitweise deutlich erhöhte Strahlung gemessen worden. Von Peking, wo ich damals lebte und arbeitete, war ich sogleich nach Japan geflogen, um über das Desaster und seine Folgen zu berichten.

Und natürlich wusste ich, dass dieses Japan, das mir nun müde und erschöpft vorkam, mit einer weiteren Herausforderung kämpfte: Es vergreiste so schnell wie keine andere führende Industrienation. Gerade auch um zu erkunden, wie die Gesellschaft mit ihrem demografischen Wandel und seinen Folgen zurechtkam, war ich jetzt als Korrespondent noch einmal nach Tokio zurückgekehrt.

Innerlich war ich also darauf gefasst, dass Japan in mehrfacher Hinsicht gealtert war. Mit dem Ausmaß der Vergreisung aber, das ich nach meiner Rückkehr wahrnahm, hatte ich nicht gerechnet, ihre Wucht erstaunte mich. Allenthalben sah ich hoch betagte Menschen, die arbeiteten, oft noch spätabends: an der Hotelrezeption, in den Taxis, in den Supermärkten. Was mich indes fast noch mehr berührte: Selbst viele Junge sahen alt und müde aus. Sie lebten offensichtlich im Wohlstand, aber ihnen fehlte, was ich in China und in Indien selbst bei den Ärmsten der Armen oft noch beobachtet hatte – Lebensfreude und Hoffnung.

Ich hatte mir eingebildet, Japan zu kennen, auch weil ich die Landessprache fließend beherrsche. Nun aber merkte ich, dass ich teilweise wieder von vorne anfangen müsse, das Land zu entdecken und einigermaßen zu begreifen.

Zwar gilt nach wie vor: Japan ist ein ökonomischer Gigant. Aber gemessen an einstigen Erfolgen ist die 125-Millionen-Nation dabei, auf ein Normalmaß zu schrumpfen; in vielen Bereichen zehrt sie von ihrer Substanz. Anfang der Neunziger trug sie noch rund 16 Prozent zur globalen Wirtschaftsleistung bei, fast so viel wie das heutige China. Mittlerweile ist der japanische Anteil auf unter sechs Prozent gesunken. Japan ist zum Paradebeispiel einer Volkswirtschaft geworden, für die der Ökonom und frühere US-Finanzminister Lawrence Summers die Diagnose »säkulare Stagnation« abgegeben hat. Gemeint ist damit eine Art Dauerflaute, in der eine Wirtschaft kaum noch wächst, und wenn, dann nur noch zäh und schleppend.

Das Ende des ungehemmten Wachstums in hoch industrialisierten Ländern wie Japan kann man bedauern. Man kann es aber auch als Chance begreifen für ein längst fälliges Umdenken – hin zu einer Gesellschaft, die sparsamer und nachhaltiger mit ihren Resourcen umgeht. Das alternde Japan könnte das erste führende Industrieland sein, in dem sich der Nachkriegs-Kapitalismus, wie wir ihn in Grundzügen auch im Westen kennen, verabschiedet und – notgedrungen – einer neuen Art des Wirtschaftens Platz macht. Doch wie könnte diese aussehen?

Japan ist weit entfernt davon, eine neue, eigene Vision für das sogenannte postindustrielle Zeitalter zu präsentieren. Es tut sich vielmehr besonders schwer damit, sich von seinem überkommenen Erfolgsmodell zu verabschieden, sich zu erneuern und seine Wirtschaft umzubauen. Dass die japanische Gesellschaft an ihren ungelösten Herausforderungen gleichwohl nicht zerbricht, lässt sich vor allem auf kulturelle Ursachen zurückführen: Die Japaner legen seit jeher Wert auf Konsens und Harmonie. Anders als in Europa oder in den USA wird in dieser Gesellschaft wenig gestritten, die Menschen fügen sich in ihr Schicksal. Sie erwarten wenig vom Staat. Sie leiden meist für sich, still und geduldig.

Das ist Japans Stärke, aber es ist auch Japans Schwäche.

Von dieser durchaus widersprüchlichen Befindlichkeit handelt dieses Buch. Es ist aus der langjährigen persönlichen Beschäftigung mit Japan entstanden und aus der aktuellen Berichterstattung für den SPIEGEL: Es soll eine – zugegebenermaßen subjektive und zwangsläufig auch selektive – Bestandsaufnahme der Herausforderungen liefern, mit denen Japan sich konfrontiert sieht. Es will dabei helfen, die Frage zu beantworten: Wie konnte es dazu kommen, dass Asiens einstige Nummer eins innerhalb weniger Jahre so stark an Glanz verlor? Und wie gehen die Japaner mit ihrem Abstieg um?

Als ich nach Japan zurückkehrte, wurde mir bewusst, wie relativ die Wahrnehmung eines Landes ist. Wie stark sie beeinflusst wird von den Erfahrungen und Erwartungen des jeweiligen Beobachters. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mein neues altes Gastland mit China verglich, mit der aufstrebenden asiatischen Weltmacht, die Japan 2010 als zweitgrößte Industrienation nach den USA abgehängt hatte. Und auch mit Indien, dem anderen großen Schwellenland, das zwar technologisch noch weit hinter Japan hinterherhinkt, aber zumindest in einem Punkt optimistisch in die Zukunft blicken kann: Die Bevölkerung ist dort durchschnittlich erst 27 Jahre alt.

Japan wirkte auf mich dagegen zutiefst verunsichert und zunehmend neurotisch – trotz der großen Vorteile, die das Land nach wie vor genoss: die kulturelle Raffinesse, die hoch entwickelte Infrastruktur, die gesellschaftliche Stabilität. Es verfügte über ein Maß an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das zwar längst nicht immer westeuropäischen Vorstellungen entsprach, aber im Vergleich zu den meisten asiatischen Ländern eine Errungenschaft darstellte. Gleichwohl kam Japan mir zunehmend vor wie ein Auslaufmodell, ein Land, das seine besten Zeiten hinter sich hatte.

Rund drei Jahrzehnte zuvor, bei meinem allerersten Aufenthalt, hatte ich Japan ganz anders kennengelernt. Damals, im Herbst 1985, kam ich direkt aus Deutschland, als Doktorand der Geschichte. Japan wurde weltweit als Asiens Nummer eins bewundert. Schon am Morgen nach meiner Ankunft in Tokio, als ich – ganz der naive Anfänger – völlig allein auf Wohnungssuche ging, staunte ich über die Geschäftigkeit meiner neuen Mitmenschen. Japan glich einer einzigen großen Firma zu Zeiten des Auftragsbooms. In den Straßen und auf Bahnhöfen fand ich nirgends ein Plätzchen zum Ausruhen. Sitzbänke, wie sie in deutschen Fußgängerzonen üblich sind, gab es fast nicht. Europa wirkte im Vergleich dazu, als sei es unter Valium gesetzt worden.

Damals begann die sogenannte Japan-Blase. Kaum jemand bezeichnete sie allerdings so, und kaum jemand schien daran zu zweifeln, dass es immer nur aufwärtsgehen würde mit dem Land. Der Exportgigant forderte Europa und Amerika in vielen Branchen und mit vielen Produkten heraus: von Microchips über Videorekorder bis zu Autos. Japan schien unbesiegbar. An der Börse von Tokio kletterten die Aktienkurse höher und höher. An der Universität, an der ich mich eingeschrieben hatte, tauschten meine japanischen Kommilitonen Anlagetipps aus. Ich müsse unbedingt Aktien von NTT, dem privatisierten Telekom-Riesen, kaufen, riet mir ein Freund, deren Kurs steige gerade in die Höhe. NTT war an der Börse damals zeitweise mehr wert als Daimler, Siemens, Allianz, Deutsche Bank, Krupp, Thyssen, BMW, Bayer, Hoechst und BASF zusammen.

Mit Aktien spekulieren? Dafür reichte mein monatliches Stipendium, das mir der DAAD, der Deutsche Akademische Austauschdienst, gewährte, nicht. Ich hatte schon Schwierigkeiten, meine Miete zu bezahlen, die durch den ungünstigen Wechselkurs des Yen zur D-Mark absurd teuer war. Ich wohnte in einem winzigen Apartment aus...

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