Wie soll man also eine Existenz beschreiben, die sich ständig macht und die sich weigert, in eine Definition eingeschlossen zu werden? Schon die Bezeichnung „Freiheit“ ist gefährlich, wenn dabei mitgemeint sein soll, dass das Wort auf einen Begriff verweist, wie es Wörter gewöhnlich tun. Undefinierbar und unbenennbar, wäre die Freiheit also unbeschreibbar? (SN 761)
Wer eine allgemeine Definition von Freiheit bei Sartre sucht, wird nicht fündig. Freiheit ist nicht definierbar, sondern bloß beschreibbar. In seiner Begründung dieser Aussage beleuchtet Sartre drei Aspekte: Die Wesenlosigkeit der Freiheit, die Freiheit als Erfahrung und die Freiheit als „Nichtung“. In der Wesenlosigkeit der Freiheit liegt die Begründung dafür, dass diese nicht definiert werden kann. In den Aspekten der Erfahrung und der Nichtung liegt die eigentliche Beschreibung der Freiheit. Die Beschreibung ist jedoch keine Aufzählung von Eigenschaften, sondern eher eine „Ortung“ der Freiheit im menschlichen Bewusstsein. Sartre gibt nicht primär Auskunft darüber, was Freiheit ist, sondern erklärt uns, wo sie zu finden ist.
Freiheit ist wesenlos
Die Freiheit aber hat kein Wesen. Sie ist keiner logischen Notwendigkeit unterworfen; von ihr müsste man sagen, was Heidegger vom Dasein schlechthin sagt: In ihr geht die Existenz der Essenz voraus […]. (SN 761)
Die Freiheit lässt sich weder greifen, fassen, noch definieren. Sie hat keine Substanz, keine materielle Einheit und lässt sich nicht auf einen konkreten Begriff reduzieren. Laut Sartre hat sie kein Wesen, genauso wie der Mensch kein Wesen hat. Deshalb gilt bei ihr dasselbe wie beim Menschen: Die Existenz geht der Essenz voraus. Sie ist da, präsent, unkontrolliert und unkontrollierbar. Alles, was ein Wesen hat, setzt jemanden oder etwas voraus, welcher oder welches eben dieses Wesen konstituiert hat. Die Idee des Brieföffners setzt den Handwerker voraus, sie zu denken; das Wesen des Menschen, wenn er denn eines hätte, setzte einen Gott voraus, es festzulegen. In der Handlung beispielsweise liegt ein Wesen, welches von der Freiheit konstituiert ist. Hätte die Freiheit selbst ein Wesen, müsste dieses wiederum konstituiert sein. Dies würde, blieben wir dem Glauben an die Nicht-Existenz Gottes treu, zu einem infiniten Regress führen:
Wenn wir auf die konstitutive Potenz zurückgehen wollen, müssen wir alle Hoffnung fahren lassen, für sie ein Wesen zu finden. Dieses verlangte ja eine neue konstitutive Potenz und so weiter bis ins Unendliche. (SN 761)
Um der Beschreibung von Freiheit näher zu kommen, müssen wir folglich nicht ihr Wesen, sondern die Freiheit als „das Existierende selbst in seiner Einzelnheit“ betrachten (SN 761). Hier sind wir gezwungen, uns ganz auf eine persönliche und subjektive Ebene einzulassen; denn „ich kann gewiss nicht eine Freiheit beschreiben, die dem andern und mir selbst gemeinsam ist“ (SN 761). Die Freiheit ist keine eigenständige Grösse mit selbständigen Eigenschaften und Merkmalen. Sie hat kein Wesen, sondern ist „Grundlage aller Wesenheiten“ (SN 762), allem voran Grundlage aller Handlung. Genauso wenig wie ein eigenständiges Wesen ist die Freiheit jedoch eine Wesenseigenschaft des Menschen. Mit der Aussage „Der Mensch ist Freiheit“ (EH 155) meint Sartre nicht etwa, dass die Freiheit bloss eine Eigenschaft des Menschen sei. Sie ist weit mehr als das. Mit den Worten Christa Hackeneschs:
Der Begriff der Freiheit repräsentiert keine Essenz des Menschen als eines denkenden Wesens, er steht einzig für die Wirklichkeit der Existenz des Einzelnen […]. Freiheit ist jenseits des Wesens.[10]
Die Freiheit ist mit der Existenz des Menschen gleichzusetzen. Das Sein des Menschen, das Material, aus dem es besteht, ist Freiheit:
[…] Freiheit […] ist keine hinzugefügte Qualität oder Eigenschaft meiner Natur, sie ist ganz genau der Stoff meines Seins […]. (SN 762)
Die Wesenlosigkeit der Freiheit hindert uns jedoch nicht daran, diese wahrzunehmen. Der direkteste Weg dazu ist die Erfahrung.
Freiheit als Erfahrung
Doch es handelt sich in Wirklichkeit um meine Freiheit. Ebenso übrigens konnte es sich bei meiner Beschreibung des Bewusstseins nicht um eine gewissen Individuen gemeinsame Natur handeln, sondern nur um mein einzelnes Bewusstsein, das wie meine Freiheit jenseits des Wesens ist […]. (SN 761)
Die subjektive Ebene, auf die wir uns begeben haben, kommt in Sartres Vergleich zwischen Freiheit und Bewusstsein besonders deutlich zum Ausdruck. Freiheit ist eine persönliche Erfahrung; kein Ereignis, das uns von Außen widerfährt, sondern ein tägliches, inneres Erleben. In meinem Bewusstsein erfahre ich nur mich selbst. Ich kann niemanden daran „anschließen“ und niemals in das eines anderen eindringen. Ich erkenne mich zwar selbst im anderen wieder und muss daraus schließen, dass auch er „bewusst“ ist; wird mir jedoch die Aufgabe zuteil, das Bewusstsein zu beschreiben, kann ich nur auf mein eigenes zurückgreifen. Dasselbe gilt für die Freiheit, welche meinem Bewusstsein Zugrunde liegt. Sartre greift hier auf Descartes’ „Cogito, ergo sum“[11] zurück:
An das Cogito werden auch wir uns wenden, um die Freiheit als Freiheit, die unsere ist, zu bestimmen, als blosse faktische Notwendigkeit, das heisst als ein kontingentes Existierendes, das aber zu erfahren ich nicht umhinkann. (SN 762)
„Ich denke, also bin ich“ wird bei Sartre zu der Idee „Ich denke, als bin ich frei“. Solange ich Bewusstsein von mir selbst habe, bin ich mir auch meiner Freiheit bewusst. Dieses Bewusstsein meiner eigenen Freiheit kann ich nicht umgehen. Ich erfahre meine Freiheit notwendigerweise und bin ihr bedingungslos ausgeliefert. Alle Versuche, dies zu leugnen, zeugen gemäss Sartre von Unaufrichtigkeit, Selbstbetrug oder Feigheit. Das Bewusstsein von Freiheit zu leugnen heisst, sich selbst auf ein Objekt zu reduzieren.[12] Sartres elementarer Begriff von Freiheit rechtfertigt diese klare Haltung insofern, als Freiheit wesentlich weiter gefasst wird als eine blosse menschliche Eigenschaft oder ein „Denkmodus“. Wäre Freiheit nicht mehr als das, so könnte sie vielen Menschen abgesprochen werden. Doch die Freiheit betrifft den Menschen ist seiner einzelnen Existenz[13], ihn umfassend und bedingend.
Freiheit ist jedoch nicht nur eine innere Bewusstseinserfahrung, die sich jenseits des äusserlich Erkennbaren abspielt. Sie findet sich in jeder konkreten Situation des Handelns und Entscheidens wieder. Erst durch meine Handlungen erfahre ich das volle Ausmass meiner Freiheit:
Ich bin nämlich ein Existierendes, das seine Freiheit durch seine Handlungen erfährt […]. (SN 762)
In der Handlung vollzieht und offenbart sich die Freiheit. Sie „macht sich [selbst] zu Handlung“ (SN 761), indem sie deren Motive, Antriebe und Zwecke ordnet und aus ihnen heraus eine Entscheidung fällt. Das ganze handelnde Wesen besteht somit aus Freiheit und wird von ihr konstituiert. Die Beschreibung der Freiheit ist gleichsam die Beschreibung des handelnden Menschen. Die Welt ist der Raum seiner Freiheit[14] und setzt seinen äusseren Möglichkeiten Grenzen. Sie konstituiert die „conditio“ (EH 166), die grundlegende Situation, in der sich der Mensch befindet und die ihn beschränkt. Die absolute Freiheit befähigt ihn nicht dazu, jede Handlung auszuführen. Sie befähigt ihn jedoch dazu, jede Handlung nicht auszuführen, die ihm offen steht; „Nein“ zu sagen. Sagt er zu allem „Nein“, selbst zur Erhaltung seines Lebens, so wählt er den Tod. Die Erfahrung der Freiheit führt ihn dann sogar über das Leben hinaus.
Wir erfahren die Freiheit, die unserem Handeln Zugrunde liegt, denn auch am stärksten, wenn sie uns an unsere eigenen Grenzen führt. Stehe ich am Ufer eines reissenden Flusses, so wird mir bewusst, dass nur meine eigene Freiheit, die freie Entscheidung, am Ufer stehen zu bleiben, mich daran hindert, hineinzustürzen.[15]
Freiheit als Nichtung
Um die Freiheit „in ihrem Kern zu erreichen“ (SN 763), ist ein noch tieferes Verständnis ihrer Struktur unumgänglich. Sartre versucht, uns dieses zu ermöglichen, indem er einen dritten Aspekt der Freiheit beleuchtet. Dieser widerspiegelt und vereint wesentliche Elemente seiner existentiellen Philosophie und führt uns zu den Grundgedanken seiner Freiheitstheorie.
Grundlage ist wiederum die Fähigkeit des Menschen, von sich selbst und der objekthaften Welt Abstand zu nehmen. Durch diese Distanzierung teilt sich der Mensch in das „Für-sich“ und das „An-sich“; er ist der, der Abstand nimmt und beobachtet, gleichzeitig jedoch der, von dem Abstand genommen und der beobachtet wird. In dieser Teilung entsteht ein Bruch, ein „Nichts“. Und die Möglichkeit des „Für-sich“, diesen Bruch zu vollziehen, nennt Sartre die Möglichkeit, das „An-sich“ zu „nichten“. Wenn das „Für-sich“, das bewusste „Ich“, diese Möglichkeit in Anspruch nimmt und die besagte Distanz zu sich selber herstellt, so begibt es sich in seine wahre Bestimmung. Erst dann vollzieht es den Vorgang, der es als Mensch vom Tier unterscheidet und zur „Person“ macht; erst dann ist es:
Sein ist für das Für-sich das An-sich, das es ist, nichten. (SN 763)
Die Nichtung grenzt den Menschen von sich selbst...