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E-Book

Jeder Mensch hat seinen Abgrund

Spurensuche in der Seele von Verbrechern

AutorNorbert Nedopil
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641197322
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Wie Verbrecher ticken: faszinierende Einblicke
in die Welt der forensischen Psychiatrie

Prostituiertenmörder, Briefbombenleger, Kinderschänder, Akteure im NSU-Prozess: Schon viele Menschen haben Norbert Nedopil einen tiefen Einblick in ihre Seele gewährt. Ein grundlegendes Interesse an der menschlichen Psyche lässt den bekanntesten forensischen Psychiater Deutschlands auf Spurensuche gehen: Welche Faktoren führen dazu, dass ein Verbrechen geschieht? Wann muss ein Täter ins Gefängnis, wann in die Psychiatrie? Was passiert nach dem Strafvollzug? Pointiert entschlüsselt Nedopil die gesellschaftlichen und psychologischen Dimensionen des Verbrechens und gibt Einblicke in seine spektakulärsten Fälle.

Professor Doktor Norbert Nedopil, Jahrgang 1947, leitete mehr als 20 Jahre die Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Klinik der Universität München. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge und Fachbücher und legt nun mit »Jeder Mensch hat seinen Abgrund« sein erstes Sachbuch vor.

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Leseprobe

Die Erforschung der Täterpersönlichkeit

Wer ist schuld daran, wenn ein Mensch zum Mörder wird? Gibt es ein Täter-Gen? Sind Eltern für die kriminelle Laufbahn ihrer Kinder verantwortlich? Oder gibt die Umwelt, in der ein Mensch lebt, den Ausschlag? Die Meinungsvielfalt durch die Jahrhunderte ist beachtlich. Aktuell gehen wir von einem Zusammenspiel aller Faktoren aus, die gemeinsam das Bedingungsgefüge für die spezifische Entwicklung eines Menschen bilden: genetische Disposition, Erziehung und Umwelt machen uns zu dem Menschen, der wir sind. Es ist also nicht so einfach, wie es vor gut einhundert Jahren erschien, als die Wissenschaft der Physiognomik ihre Blütezeit erlebte. Sie ist eng verknüpft mit dem italienischen Arzt und Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie, Cesare Lombroso (1835–1909). Er entwickelte ein System, nach dem man Verbrecher an ihrem Äußeren identifizieren sollte. Vorstehende Schneidezähne, wenig Bartwuchs und eng zusammengewachsene Augenbrauen gehörten zu den Kennzeichen für Verbrecher. Ach ja, nach Lombroso war deren Haarfarbe öfter schwarz als blond. Und Betrüger erkannte man an ihren Locken. Heute mögen wir über solch eine Einfalt schmunzeln, wissen wir doch längst, dass ein Krimineller sehr attraktiv, dicht bebartet und blond sein kann. Und doch lassen wir uns von Äußerlichkeiten blenden: Wider besseres Wissen, dass das Aussehen eines Menschen nichts über seine kriminellen Aktivitäten auszusagen vermag, ganz im Gegenteil, diese sogar verschleiern kann, beeinflusst das visuelle Erscheinungsbild unsere Meinung. Wenn der ehemalige US-Präsident George W. Bush nach seinem ersten Treffen mit Vladimir Putin feststellt, »ich blickte in seine Augen und sah, dass er ein guter Mensch ist«, weiß ich, dass eine Korrelation zwischen Aussehen und Charakter nicht möglich ist.

Im Warteraum meiner Abteilung an der Universitätsklinik in München sitzen Strafgefangene, Polizisten in Zivil, die die Häftlinge begleiten, andere Patienten und Besucher. Niemand könnte allein vom Äußeren feststellen, wer der Polizist, wer der Strafgefangene, wer der Patient – oder beides – ist. Und schon gar nicht sollten wir uns auf eine solche Einschätzung verlassen. In vielen Studien wurde nachgewiesen, dass wir dazu neigen, Menschen mit ebenmäßigen Gesichtern und einem sympathischen Erscheinungsbild schneller zu vertrauen. Was Betrüger wie Heiratsschwindler weidlich auszunutzen wissen. Hilfreicher als der Blick auf das Erscheinungsbild eines Menschen ist die Analyse seiner Entwicklung.

Die Entwicklungspsychologie ist hier zu einer Reihe interessanter Ergebnisse gekommen. Besonders aufschlussreich waren Studien, die ganze Geburtskohorten – Kinder, die im gleichen Jahr geboren wurden – vom Kindergarten bis in ihr Erwachsenenleben begleitend untersuchten, um festzustellen, welche Kinder im Beruf Erfolg haben, welchen soziale Beziehungen gelingen, welche scheitern und insbesondere, welche dissozial und kriminell werden. Als dissozial bezeichnet man Menschen, die kontinuierlich die Regeln des sozialen Zusammenlebens missachten. Das kann sich in Verwahrlosung, Streitsucht, Aggression oder Kriminalität äußern. Man kann unterscheiden zwischen einer Dissozialität aus Stärke, bei der diese Regeln missachtet werden, weil der Betreffende glaubt, daraus Vorteile zu ziehen, zum Beispiel andere zu dominieren, finanziellen Gewinn zu erzielen oder der eigenen Lust zu frönen, und einer Dissozialität aus Schwäche, in der ein Mensch verwahrlost und in Bedrohungs- und Belastungssituationen übergriffig wird.

Die Daten solcher Studien werden verglichen mit genetischen Untersuchungen, mit Informationen über die Eltern, mit Schulbeurteilungen und vielen anderen Faktoren. Daraus werden Entwicklungspfade errechnet, die erkennen lassen, welche Einflüsse einen Menschen in die eine oder andere Richtung gelenkt haben. Bevor ich näher auf solche Erkenntnisse eingehe, bitte ich Sie zu berücksichtigen, dass die Schlussfolgerungen der Wissenschaft auf statistischen Daten und deren Verrechnung beruhen. Das bedeutet, dass sie sehr wohl einen allgemeinen Trend abbilden, die Ergebnisse in Einzelfällen jedoch in die Irre führen können. Und damit sind wir bei der berühmten Ausnahme, die Sie bei den folgenden Beispielen bedenken mögen. Nicht jedes Kind mit schlechten Startbedingungen wird kriminell, nein. Aber ein solches Kind läuft eher Gefahr, eine kriminelle Laufbahn einzuschlagen als ein anderes mit besseren Startbedingungen. Das ist bitter. Aber es wäre falsch, es zu verschweigen. Denn wenn wir wissen, was Kriminalität befördert, können wir dem entgegenwirken. Und genau darin liegt der Sinn solcher Studien, die nicht nur unseren Kenntnisstand über Kriminalität erweitern, sondern ihr vorbeugen und potenzielle Täter aus einer scheinbaren Sackgasse herausführen und ihnen Hilfen anbieten sollen, die sie vor dem sozialen Abseits bewahren.

Ein krimineller Lebenslauf

P. wurde Ende der 1950er-Jahre geboren, sein Vater war Alkoholiker und verbüßte mehrere Haftstrafen, unter anderem wegen gewalttätiger Übergriffe auf P.s Mutter. Sie arbeitete als Zugehfrau und betreute zudem eine ältere Dame. Als P. fünf Jahre alt war, galt er in seiner Entwicklung als retardiert und wurde von der Einschulung zurückgestellt. Zwischenzeitlich hatte er einen Bruder bekommen. Kurz nachdem sein Vater wieder einmal aus der Haft entlassen worden war, verübte dieser einen Einbruch bei der alten Dame, die P.s Mutter betreute, er wurde gefasst und kam erneut in Haft. P. und seine Mutter wechselten den Wohnort. Sie war überfordert von ihren beiden Söhnen, vor allem von P., der in dem so genannten Problemviertel einer Großstadt sozialisiert wurde. Mit neun Jahren war er häufig in Raufereien verwickelt, beging Fahrraddiebstähle und machte anderen wegen seiner körperlichen Stärke und seiner Furchtlosigkeit Angst. P.s Mutter erkannte die Schwierigkeiten und zog abermals um, diesmal in ein anderes Viertel, in dem viele Ausländer wohnten. Auch dort verschaffte sich P. durch seine Unerschrockenheit und Durchsetzungsfähigkeit Respekt. Es kamen Ladendiebstähle hinzu, und er wurde von Mitschülern, die schlauer waren als er, als Schläger eingesetzt, der sich in ihrem Auftrag prügelte.

Mit fünfzehn Jahren stand er zum ersten Mal vor einem Jugendrichter, der ihm wohlgesonnen war und ihn an einen Reiterhof zur Ausbildung vermittelte. Dort führte er sich eine Zeitlang gut, begann aber vermehrt, Alkohol zu trinken, weil es ihm langweilig wurde.

Mit sechzehn Jahren kam er zum ersten Mal in den Jugendarrest – er hatte auf dem Reiterhof geklaut und war fristlos gekündigt worden. Mit siebzehn Jahren wurde er wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt, in der Folge wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und weiteren Körperverletzungsdelikten. Die ausgesprochene Bewährung war längst widerrufen. P. knackte nun auch Autos, steuerte sie ohne Fahrerlaubnis und wurde wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt. Mit zweiundzwanzig Jahren kam er wegen Einbruchdiebstahls zum ersten Mal in den Erwachsenenvollzug. Und so ging es weiter. Wenn P. nicht gerade einsaß, hielt er sich vorwiegend in Kneipen auf. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde er zum ersten Mal mit einem großen Delikt auffällig: einem bewaffneten Tankstellenüberfall, bei dem er unter Bedrohung mit einem Fleischermesser mehrere Tausend DM erbeutete. Er wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, unternahm während eines Hafturlaubs einen weiteren Einbruch und wurde erneut verurteilt. Im Alter von knapp dreißig Jahren war seine Strafe verbüßt. Dann hörte die Polizei knapp zwanzig Jahre nichts von ihm. Doch in der Bearbeitung alter Fälle mit neuen technischen Methoden wie der DNA-Analyse wurde entdeckt, dass P. im Alter von einundzwanzig Jahren einen Wohnungseinbruch begangen und die siebenundachtzigjährige Mieterin mit einer Holzlatte getötet hatte. Er wurde vor Gericht gestellt und berichtete seinen in Anbetracht seiner bisherigen beruflichen und kriminellen Karriere ungewöhnlichen Lebenslauf:

In der Haft hatte er eine Lehre zum Maschinenbauer abgeschlossen. Nach seiner Entlassung machte er den Lkw-Führerschein und arbeitete als Lkw-Fahrer. Mit einunddreißig Jahren kaufte er mittels Kredits bei guter Auftragslage einen eigenen Transporter und arbeitete als Subunternehmer. Mit zweiunddreißig Jahren heiratete er eine psychisch kranke Frau. Mit dreiunddreißig wurde er Vater einer Tochter. Mit vierunddreißig adoptierte er die erste Tochter seiner Ehefrau, die dadurch aus dem Waisenhaus zu ihrer Mutter zurückkehren konnte. Mit fünfunddreißig kaufte er sich einen zweiten Transporter, wurde in diesem Jahr aber wegen Steuerhinterziehung angezeigt. Er konnte die Strafe und seine Schulden von 120 000 DM bezahlen, ohne sich weiter zu verschulden. Mit sechsunddreißig Jahren wurde seine zweite Tochter geboren, mit achtunddreißig ein Sohn, mit knapp vierzig Jahren war er schuldenfrei und saß im Elternbeirat des Kindergartens. Dann wurde er aus seinem bürgerlichen Leben heraus erneut verhaftet – die Vergangenheit holte ihn ein. Allein sein Lebensweg und die späte Tatentdeckung bewahrten ihn vor einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen des Mordes an der alten Frau. Wegen guter Führung wurde er nach zwei Dritteln der Haftzeit entlassen. Schon während der Haft hatte er sich eine neue Arbeit als Hausverwalter gesucht. P. wurde nie wieder straffällig.

Dieser Lebenslauf stellt die Ausnahme von der Regel dar. Doch genau um diese Ausnahmen geht es. Sie müssen wir suchen und fördern. Zu erwarten wäre es, dass ein Mensch mit einer solch kriminellen Karriere bis ins hohe Alter niemals Fuß fasst in einem sozialen Leben. Allerdings sind solche lebenslangen kriminellen Karrieren selten....

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