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E-Book

Jehovas Gefängnis

Mein Leben bei den Zeugen Jehovas und wie ich es schaffte, auszubrechen

AutorOliver Wolschke
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783745301151
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Jahrzehntelang ist Oliver Wolschke ein vorbildlicher Zeuge Jehovas: Er lebt seinen Glauben, feiert weder Weihnachten noch Geburtstage, betet täglich und erzieht seine Kinder nach den Richtlinien der Gemeinschaft. Doch eines Tages beginnt er, an den Glaubenslehren zu zweifeln. Er fängt an, sich mit den Hintergründen der Gemeinschaft zu beschäftigen, und stößt auf immer mehr Ungereimtheiten. Wie oft kann die Organisation das Datum der endzeitlichen Entscheidungsschlacht Harmagedon noch nach hinten verschieben, bevor die Anhänger misstrauisch werden? Wieso wird die Sexualität so vehement unterdrückt? Und wie kommt die Gemeinschaft an ihre vielen Immobilien? Mit 31 Jahren tritt Oliver Wolschke aus. Nach seinem Austritt gelten er und seine Frau als Abtrünnige, verlieren nicht nur Freunde, sogar Familienangehörige wenden sich von ihnen ab. Sie müssen sich ein neues Leben aufbauen. In diesem ergreifenden Buch berichtet Oliver Wolschke von seiner Zeit bei den Zeugen Jehovas sowie von seinem harten Weg in ein neues Leben.

Oliver Wolschke, geboren 1985 in Berlin, war mehr als 20 Jahre lang Mitglied der Zeugen Jehovas. Seit seinem Ausstieg im Jahr 2017 widmet sich der Suchmaschinenexperte, der bei der Zeitung Der Tagesspiegel tätig ist, ehrenamtlich der Aufklärung über Bewusstseinskontrolle in Sekten. Auf seinem Blog oliverwolschke.de verfasst er mit anderen Autoren regelmäßig Artikel über die Zeugen Jehovas und twittert unter @oliwol. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Süden Berlins.

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Leseprobe

»Aber ein Mensch kann nicht ändern, was er ist. Er kann andere
überzeugen, dass er jemand anderes ist, aber niemals sich selbst.«

Die üblichen Verdächtigen (1995)

ERWACHT!


Wir beteten als Familie meist vor dem Essen. Das Gebet durfte nur ich sprechen, da ich das Haupt der Familie war. Unsere Kinder falteten ihre Hände, senkten ihren Kopf und warteten darauf, dass Papa zu Gott sprach.

Als Zeuge Jehovas spricht man keine auswendig gelernten Bitten, wie das Vaterunser, eher sagt man, was einem gerade einfällt und wofür man dankbar ist. Kurz vor dem Essen machte ich mir ein paar Gedanken, was ich sagen würde, schließlich aßen wir täglich, und ich wollte mich nicht wiederholen oder das Gebet als lästige Gewohnheit hinter mich bringen. Meinen Kindern wollte ich zeigen, wie man betete und dass es mir eine ernste Angelegenheit war.

An jenem Tag im März 2017 fiel es mehr schwer zu beten. Ich war gerade »erwacht«. Mir kam es mit einem Mal so vor, als hätte ich die Jahre zuvor nur mit mir selbst geredet, und nur meine Familie hätte mir zugehört – niemand sonst. Ich hatte erhebliche Zweifel, was meinen Glauben betraf, und fühlte mich innerlich zerrissen. Trotzdem wollte ich mir nichts anmerken lassen, also betete ich. Ich hatte über die Jahre einige Satzbausteine entwickelt, die ich nun einfach aneinanderkettete. Es war ein merkwürdiges Gefühl, meiner Familie etwas vorzumachen, und ich dachte: »So kann es nicht weitergehen!«

Es war das letzte Gebet, das ich sprach.

Einige Monate zuvor hatte ich im Internet etwas gelesen, dass meine »Firewall« – ein über Jahre innerlich aufgebauter Schutz vor Kritik – nachhaltig zersetzte. Eine Glaubensschwester lud mich in eine Face-book-Gruppe ein, die von Anhängern der Zeugen Jehovas gegründet worden war. Dort diskutierte man angeregt über die Frage, ob Haustiere das bevorstehende »Ende« – Harmagedon – überleben würden. Einige meinten, dass die Chancen für ein Überleben von Susi und Strolch recht hoch seien, immerhin habe Gott bei der Sintflut mithilfe der Arche die Tiere ja vor dem sicheren Ertrinken beschützt.

Viele Anhänger sind eher liberal und in ihren Ansichten gemäßigt. Sie machen sich keine Gedanken über belanglose Dinge, etwa ob Haustiere den Eingriff Gottes überleben werden. Andere hingegen könnte man als fanatisch bezeichnen, besessen davon, auf alles eine Antwort zu finden.

Ich gehörte zur ersten Gruppe, daher nahm ich die Diskussion nicht sonderlich ernst. Aber ein Kommentar machte mich stutzig. Die Frage, die eine Frau dort äußerte, war einfach und logisch, und trotzdem war sie mir nie in den Sinn gekommen: »Wie viele Kinder hat Gott mit in die Arche genommen?«

Ich weiß nicht, ob es der Umstand war, dass ich inzwischen der Vater von zwei Kindern war – ob deshalb diese Frage so einiges in mir auslöste. Warum war ich nie zuvor auf den Gedanken gekommen, dass Gott damals hatte Kinder ertrinken lassen? Dass er womöglich wieder Kinder sterben lassen würde?

Die Frage ließ mir keine Ruhe. Ich durchsuchte die Publikationen der Zeugen Jehovas, um herauszufinden, wie die Organisation zu diesem Thema stand. Und was ich las, machte alles nur noch schlimmer: dass nämlich den Menschen, die während der Sintflut umkamen, keine Auferstehung im zukünftigen Paradies auf der Erde zuteil würde, da sie ja von Gott persönlich bestraft worden waren. Und die Kinder zahlten eben für die Sünden ihrer Eltern.

Ich stellte mir in Gedanken meine zwei Söhne vor. Zu dem Zeitpunkt, als Noah die Tiere in die Arche führte, waren sie in meiner Vorstellung drei und fünf Jahre alt. Ihre Eltern glaubten nicht an die Warnungen Noahs. Meinen Kindern war es egal, ob Mama und Papa über Noah lachten. Sie verstanden die Zusammenhänge noch nicht. Meine Söhne fanden es aber sehr spannend, dass von überall Tiere herkamen, die sie noch nie gesehen hatten, und sie spielten mit ihnen, streichelten sie, lachten und hatten eine Menge Spaß. Mit einem Mal fing es an zu regnen. Meine Jungs freuten sich zunächst über die Pfützen, sprangen hinein und plantschten herum. Sie lachten und waren glücklich. Dann stieg das Wasser immer höher, bis zu ihren Hälsen. Sie schrien, sie verstanden nicht, was geschah, sie riefen nach Mama und Papa. Sie konnten nicht schwimmen und hielten sich an den Händen. Plötzlich verloren sie den Boden unter ihren Füßen. Sie wollten nach Luft schnappen, stattdessen drang Wasser in ihre Lungen.

Ich erinnerte mich an ein Bild, dass ich schon als Kind in meinem Kinderbuch der Zeugen Jehovas zu sehen bekam, auf dem eine Frau versuchte, sich vor den Wassermassen auf eine Bergspitze zu retten und in ihrem Arm ein Neugeborenes hielt – dessen Ende jedoch besiegelt war.

Auf einmal kam mir alles so grausam vor. »Warum hat Gott so etwas getan?«, fragte ich mich.

In den nächsten Wochen begann ich, die Geschichten der Bibel näher zu untersuchen. Vor allem die Lehren, mit denen ich aufgewachsen war, unterzog ich einer kritischen Betrachtung. Etwas, das mir zuvor nicht in den Sinn gekommen wäre. Mir wurde bewusst, dass die Hauptlehre der Zeugen Jehovas auf einer historischen Berechnung aufbaute, die mittlerweile komplett widerlegt worden war – dazu später mehr. Jedenfalls fiel mit dieser Erkenntnis das Kartenhaus allmählich in sich zusammen. Denn alles, was meinen Glauben ausmachte, war von dieser einen, widerlegbaren Lehre abhängig.

Ich fragte mich, ob vielleicht das, wovon ich seit Jahren überzeugt gewesen war, wonach ich mein Leben ausgerichtet hatte, worauf ich wöchentlich enorm viel Zeit aufwandte und wofür ich sogar den Tod in Kauf genommen hätte, auf Fehlinformationen und falschen Annahmen beruhte. Ich überlegte, warum es zum Beispiel auch heute noch Menschen gab, die daran glaubten, dass die Erde eine Scheibe wäre. Klar, sie taten damit niemanden weh, aber trotz aller Beweise waren sie überzeugt, die Wahrheit zu kennen. Ich dachte darüber nach, warum sich Menschen in religiösen Sondergemeinschaften wohlfühlten und nicht bemerkten, dass sie auf selbst ernannte Führer hereinfielen, nur weil diese ihnen ihr Seelenheil versprachen. Warum merkten die Menschen nicht, was mit ihnen geschah? War ich vielleicht selbst auf eine solche Gruppe hereingefallen? Woran würde ich das erkennen?

Die Zeugen Jehovas glauben wie so viele andere Gruppierungen auch, dass sie und nur sie die Wahrheit erkannt hätten. Alle anderen Menschen sind fehlgeleitet.

Als ich mich mit der Geschichte der Zeugen Jehovas befasste, wurde mir klar, dass die Ansichten der Gründungsmitglieder den heutigen Anhängern größtenteils vorenthalten oder in gemäßigter Form präsentiert werden. Das betrifft zum einen die Weltuntergangsvorhersagen durch die spirituelle Leitung der Zeugen Jehovas – die leitende Körperschaft –, aber auch die kruden Ansichten über Bluttransfusionen, Organtransplantationen oder Impfungen, welche man allesamt mit dem Hinweis auf Kannibalismus oder die schlechten Charaktereigenschaften ablehnte, die dadurch übertragen werden könnten. Während die Organisation damals noch die Exkommunikation der katholischen Kirche kritisierte, da sie nicht mit der Bibel übereinstimme, führte man diese irgendwann selbst ein und wurde bei der Umsetzung so streng, dass heute sogar Familien entzweit werden.

Alles, was ich jahrelang akzeptiert hatte, wie etwa die Verweigerung von Bluttransfusionen oder der Kontaktabbruch zu den Ausgeschlossenen, kam mir mit einem Mal grausam und zerstörerisch vor.

Das Problem war, dass ich mit niemandem darüber sprechen konnte. Sobald ich von meinen Zweifeln berichtet hätte, wäre wahrscheinlich ein Prozess in Gang gesetzt worden, der mich vor die Ältesten – die lokalen Führer einer Gemeinde – gebracht hätte. Man hätte mich gefragt, ob ich noch Vertrauen in die Organisation hatte, und meine Antwort wäre vielleicht »Nein« gewesen, was vermutlich den sofortigen Ausschluss nach sich gezogen hätte.

Ich wollte mir zunächst sicher sein, bevor ich mich jemandem anvertraute. Ich überlegte, ob ich irgendwo in meinen Recherchen etwas übersehen hatte, einem Denkfehler aufgesessen war. Ich zweifelte zwar an den Lehren, aber vor allem an mir selbst – ob ich nicht vielleicht dem Teufel auf dem Leim gegangen war, wovor man mich schließlich seit meiner Kindheit immer wieder gewarnt hatte.

Doch meine Nachforschungen führten mich zu noch tieferen Unstimmigkeiten. Ich haderte mit mir, ob ich nicht einfach die Zweifel beiseite legen könnte, wie ich es schon einmal getan hatte, und mit der Zeit würden sie sich in der hintersten Ecke meiner Gedanken dann auflösen.

Aber dieses Mal war es anders. Ich hatte zwei Kinder, war für sie verantwortlich. Aufgrund meiner Stellung innerhalb der Gemeinde erwartete man von mir, dass ich mit meinen Kindern das wöchentliche Bibelstudium anhand der Publikationen der Zeugen Jehovas durchführte. Und nun tat ich mich plötzlich schwer, ihnen weiterhin etwas beizubringen, von dem ich selbst nicht mehr so recht überzeugt war.

Ich hatte die Sorge, dass die Ältesten meine Kinder irgendwann auf unser Familienstudium ansprechen und dann in Erfahrung bringen könnten, dass dies bei uns nicht mehr stattfand. Es war ein Teufelskreis. Wenn ich meine Kinder nicht streng nach dem Glauben erzog, dann würden sie sich womöglich davon abwenden, und von mir würde man dann erwarten, dass ich den Kontakt zu ihnen abbrach. Oder ich erzog sie in dem Glauben, von dem ich nicht mehr zu hundert Prozent überzeugt war, und irgendwann stieg dann ich aus, wodurch sie gezwungen wären, den Kontakt abzubrechen.

Wie ich es auch drehte, die Zukunft, die ich mir ausmalte, hatte nichts Ehrliches mehr zu bieten. Ich begriff zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass...

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