Für Leonardo
Einleitung
Petersplatz, Frühjahr 2014.
Ich hätte nie für möglich gehalten, dass mich diese Frage so aus der Fassung bringen würde. Der junge Fernsehproduzent sah mich im Übertragungswagen am Rande des Petersplatzes in Rom verwundert an, dann blickte er meinen alten Kollegen Francesco an, der auf der anderen Seite des schmalen Tisches saß.
„Sie schweigen beide?“, fragte ungläubig der Produzent. „Ich hätte nicht gedacht, dass eine so schlichte Frage Sie verstummen lässt. Vielleicht habe ich mich nicht genau ausgedrückt? Lassen Sie es mich so fragen: Sie haben beide Papst Johannes Paul II. jahrzehntelang gekannt und begleitet, Sie haben ihn auch persönlich kennengelernt, er hat Sie eingeladen, mit ihm seine 100. Auslandsreise zu feiern. Jetzt wird er in wenigen Tagen heiliggesprochen. Was mich interessiert, ist doch nur, ob Sie damals, als Sie mit Papst Johannes Paul II. unterwegs waren, gedacht haben: Ist dieser Papst Johannes Paul II. möglicherweise ein Heiliger, haben Sie sich gefragt: Erleben wir einen Heiligen hautnah?“
Ich schwieg und schaute zu Francesco. Vor langer Zeit, im Sommer 1999, waren wir beide im Gefolge Karol Wojtylas in Polen in einem alten russischen Armee-Helikopter in ein schweres Unwetter geflogen, der Hubschrauber wurde von einem Blitz getroffen, und wir fürchteten damals abzustürzen. Die Piloten hatten die Kontrolle über die Maschine verloren, sie schrien und beteten laut im Cockpit. Seit diesem Tag verstehen Francesco und ich uns blind. Ich sah jetzt unschlüssig zu ihm. Auch er schwieg.
„Wieso antworten Sie nicht?“, fragte der Produzent. „Wir würden Ihnen während der Sendung gern genau diese Frage stellen: Hatten Sie das Gefühl, in Karol Wojtyla einen Heiligen zu erleben?“
„Können wir eine Pause machen?“, fragte Francesco. Der Produzent nickte ein wenig irritiert. Francesco stand auf und ging aus dem Wagen, ich folgte ihm. Wir gingen die wenigen Schritte zum Säulengang des Bernini am Petersplatz, setzten uns auf eine der Stufen und schauten auf den von der Sonne beschienen Platz.
„Warum hast du nicht geantwortet?“, fragte Francesco.
„Und warum du nicht?“, fragte ich zurück.
Er antwortete: „Ich habe mir die ganze Zeit vorgestellt, was passiert wäre, wenn man zu Lebzeiten zu Johannes Paul II. gesagt hätte: Hey Heiligkeit, wir würden Sie gern heiligsprechen. Wie wäre es, wenn Sie sich mal einen Augenblick hinsetzen könnten, damit wir Sie in Ruhe anbeten können. Weißt du, was passiert wäre? Er wäre geflohen. Nichts hat er mehr gehasst, als wenn irgendwer ihn loben wollte. Als Heiliger muss er sich das jetzt gefallen lassen, aber als er noch lebte, hätte man ihn aus einem ganz einfachen Grund nicht anbeten können.“
„Ich weiß“, sagte ich, „er wäre viel zu schnell weg gewesen, er konnte nicht stillsitzen, wenn es nicht unbedingt nötig war.“ Wir mussten beide lachen. Wie hatten wir ihn genannt? Den eiligen Vater, den Marathonmann Gottes. Er schien nie schlafen zu müssen und nie müde zu werden, wie ein religiöser Tornado raste er über die Welt und wir, die wir meist nicht einmal halb so alt waren wie er, versuchten, mit ihm Schritt zu halten. Die Generation von Vatikan-Berichterstattern, die Papst Johannes Paul II. begleiteten, musste eine Fähigkeit entwickeln, die keiner ihrer Vorgänger je gebraucht hatte: Zu lernen, in Flugzeugen, an Schreibtischen, in Pressezentren, in überhitzten Bussen oder alten Helikoptern im Sitzen zu schlafen. Im Gefolge Karol Wojtylas begannen die Tage um 5.00 Uhr mit der Frühmesse und endeten selten vor 22.30 Uhr. Nichts war für Papst Johannes Paul II. unwichtig, kein Kindergarten in Afrika zu klein, kein Altenheim in Brasilien zu abgelegen, dass er es nicht besuchen musste. Nie war ein Termin zu früh oder zu spät, nie war er zu krank, wie damals in Tiflis in Georgien, als er unter so starkem Fieber litt, dass ihn der Schüttelfrost erzittern ließ wie Espenlaub, er aber trotzdem eine Andacht in den Bergen Georgiens hielt.
Wenn es eines gab, das überhaupt nicht zu dem Mann passte, dann war es, dass er still hielt, um sich verehren zu lassen. Aber genau das wollten die Millionen Gläubigen auf dem Petersplatz jetzt mit ihm tun.
Francesco sagte plötzlich: „Weißt du noch, dass er eine Geschichte erzählt hat, von den Tagen, an denen er wirklich absolut still halten musste?“ Natürlich wusste ich das noch – Karol Wojtyla hatte manchmal die Geschichte erzählt, wie sein älterer Bruder Edmund ihn in ihrem Heimatdorf Wadowice zum Fußball mitnahm, aber nicht, weil er mitspielen durfte, sondern weil auf dem Fußballplatz einer der Torpfosten fehlte, und den musste Karol Wojtyla, Spitzname Lolek, ersetzen. Er musste einfach während des Spieles regungslos stehen bleiben.
Wir schwiegen uns eine Weile an, dann sagte Francesco: „Sie werden während der Heiligsprechung darüber reden, dass er Wunder gewirkt hat. Das wäre ihm peinlich.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sagen würde, dass ihm nicht einmal das Fotografen-Wunder gelungen war.“ Wieder mussten wir lachen. Einer der Fotografen des Papstes hatte einmal in einem Arbeitszimmer im päpstlichen Palast auf den Papst warten müssen und dabei geraucht. Als der Papst plötzlich hereinkam, warf der Fotograf vor Schreck die Zigarette aus dem Fenster in den Hof des apostolischen Palastes.
Johannes Paul II. tadelte den Fotografen: „Du rauchst? Das schadet doch der Gesundheit“, mahnte ihn der Papst. Der Fotograf entschuldigte sich und versicherte, jetzt das Rauchen nach diesem päpstlichen Tadel aufzugeben. Papst Johannes Paul II. erzählte fortan, dass sein Appell an den Fotografen dazu geführt habe, dass der gänzlich das Rauchen aufgegeben und nie wieder eine Zigarette angerührt habe. Wir ließen alle den Papst lange in dem Glauben, dass er recht habe. Dabei wusste der ganze Vatikan, dass das nicht stimmte. Der Fotograf rauchte weiter, nur nicht, wenn der Papst in der Nähe war. Das Wunder, dass der Papst einen Kettenraucher von seiner Sucht abgebracht hatte, war ausgeblieben.
„Weißt du, was das Problem ist?“, fragte ich.
„Wir haben Karol Wojtyla gemocht, aber den Menschen Wojtyla. Kein Heiligenbild.“
„Weißt du noch, die Flugzeug-Party?“, fragte ich.
„Klar“, sagte er. Wir waren im Juni des Jahres 1999 zusammen mit dem Papst zwei Wochen lang kreuz und quer durch Polen gerast, wir hatten uns dem totalen Alkoholverbot gebeugt. Als wir völlig erschöpft, am Ende der Reise, endlich im Flugzeug saßen, das uns am späten Abend nach Rom zurückbringen sollte, verabschiedete sich der Papst draußen von den Massen. Uns war heiß, wir waren kaputt und sehr durstig, wir wollten nur noch endlich ein Bier, ein Glas Sekt, einen Wein. Doch die Fluggesellschaft antwortete, dass das totale Alkoholverbot erst dann aufgehoben sei, wenn die Maschine gestartet wäre. Solange sollten wir weiter warten. Wir warteten und schwitzten. Um die Zeremonie draußen nicht zu stören, konnte der Pilot die Motoren nicht anlassen, deswegen lief auch keine Klimaanlage. Das Flugzeug entwickelte sich zu einem Backofen, in dem es zu wenig Luft gab, so dass erste Kollegen unter Atemnot litten. Wir zogen alles aus, was man schicklicherweise ausziehen konnte. Als der Papst endlich an Bord kam, verlangten wir etwas zu trinken, doch die Fluggesellschaft lehnte wieder ab. Da bereiteten wir dem Papst einen Empfang, den nie zuvor ein Papst erlebt hatte: Wir drückten alle gleichzeitig an unseren Plätzen auf die Klingeln, die dazu dienen, die Stewardessen herbeizurufen. Die Papstmaschine klang auf einmal wie eine wild gewordene Straßenbahn. Karol Wojtyla fragte im vorderen, nur für ihn und die Kardinäle reservierten Teil des Flugzeugs, was denn eigentlich los sei. Die Vatikan-Funktionäre erklärten erbost, dass die wild gewordene Journalisten-Horde außer Rand und Band geraten sei. Mittlerweile sangen wir die selbst komponierte Hymne „Es ist Feierabend“, also „Take off the cross, boss“ (Nimm das Kreuz ab, Boss). Die Funktionäre waren derart empört, dass der Vorfall später im offiziellen Protokoll der Reise Niederschlag fand. Der Papst fragte nach, wieso die Meute denn so einen Krach machte. Als er zur Antwort bekam, dass wir einfach durstig seien, lachte er und sorgte dafür, dass eine bis heute legendäre Party in der Papstmaschine mit kühlem Bier und gutem Wein begann.
Karol Wojtyla war unser Idol geworden, so etwas wie der alte weise Gemeindepfarrer, der mit ein paar undisziplinierten Journalisten durch die Welt reiste und sie nachhaltig veränderte, und zwar zum Besseren. Das konnten wir mit unseren eigenen Augen sehen. Er bereiste als erster Papst ein orthodoxes Land, bat als erster Papst das Volk der Juden an der Klagemauer in Jerusalem um Vergebung für das, was Christen ihnen angetan hatten. Er hatte die Welt-Jugendtage erfunden und dem Vatikan ein völlig neues Gesicht gegeben. Wir wussten, dass die Sowjets in Moskau diesen Mann gefürchtet hatten und dass sie gegen ihn verloren hatten, obwohl er ihren Atomwaffen und Armeen nur seine leeren Hände und seinen Glauben entgegensetzen konnte.
„Er hat uns verändert. Deswegen sprechen wir so ungern über die Frage, ob wir wussten, dass er ein Heiliger war. Das glaube ich.“
„Du hast recht“, sagte er. „Ja, das ist es. Ich glaube, wir haben die ganze Zeit gewusst, dass Wojtyla ein Heiliger war, aber das wollten wir für uns behalten, sonst hätten wir zugeben müssen, wie sehr er uns verändert hat.“
Wir schauten beide auf den...