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Jüdisches Leben in Tirol und Vorarlberg von 1867 bis 1918

Jüdisches Leben im historischen Tirol

AutorMartin Achrainer
VerlagHaymon
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl197 Seiten
ISBN9783709973424
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
'Jüdisches Leben in Tirol und Vorarlberg von 1867 bis 1918' ist ein Auszug aus dem dreiteiligen Sammelwerk 'Jüdisches Leben im historischen Tirol'. Die Geschichte des jüdischen Lebens im historischen Tirol, welches das heutige Trentino, Süd-, Nord- und Osttirol sowie über ein Jahrhundert lang auch Vorarlberg umfasste, ist über 700 Jahre alt. Dieser Auszug des Sammelwerks befasst sich unter anderem mit den Grenzen und den damit verbundenen äußeren Rahmenbedingungen für das jüdische Volk. Wie lebten die Jüdinnen und Juden in Innsbruck und Nordtirol, Bozen oder Meran? Wie entstanden in Tirol die ersten Kultusgemeinden? Ebenso werden in diesem Auszug des Sammelwerks die ersten antijüdischen Stimmen und der Anfang des Antisemitismus thematisiert. Die Jüdinnen und Juden in Tirol, deren Zahl durch Zuwanderung stetig wuchs, waren bereits in den 1880er Jahren mit antisemitischen Ressentiments konfrontiert, die innerhalb von zwei Jahrzehnten zu einem geradezu alltäglichen gesellschaftlichen Phänomen wurden. Den Schluss dieses Beitrages markieren der Erste Weltkrieg und das Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie. Kurze Portraits jüdischer Persönlichkeiten und Familien aus Tirol und Vorarlberg tragen dazu bei, das Alltagsleben der jüdischen Bevölkerung in diesem Umfeld beispielhaft zu beleuchten.

Martin Achrainer, geboren 1968 in Kufstein, Mag. phil., studierte Politikwissenschaft und gewählte Fächer mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck, arbeitete an Forschungsprojekten zur Geschichte der Juden in Tirol und Vorarlberg, zur Regionalgeschichte sowie zur Nachkriegsjustiz in Österreich. Seit 2006 ist er als Archivar im Österreichischen Alpenverein tätig. Im Jahr 2011 gab er (mit Friederike Kaiser und Florian Trojer) das Buch Berg Heil! Alpenverein und Bergsteigen 1918?1945 heraus.

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Leseprobe

Vom jüdischen Leben im historischen Tirol 1806–1918


Thomas Albrich

Nach der Darstellung des jüdischen Lebens in Alttirol zwischen 1300 und 1805, das geografisch das heutige Trentino, Südtirol, Nord- und Osttirol umfasste und seit den 1780er Jahren auch Vorarlberg inkludierte, folgt im vorliegenden zweiten Band die jüdische Geschichte von der bayerischen Zeit bis zum Ende der Monarchie und zur Teilung des Landes im Jahre 1918.

In der bayerischen Zeit zwischen 1806 und 1814 begegnen wir einer relativ geschlossenen jüdischen Gemeinde in Innsbruck, die durch die Ereignisse des Jahres 1809 schwer geschädigt wurde. Wir wissen, wer danach in Innsbruck lebte und blieb, wer wegzog und wer zuzog. Im restlichen Land Tirol gab es nur noch die Nachkommen des Markus Gerson in Bozen, aber noch immer keine Juden in Meran oder im Trentino.

Obwohl nach 1814 schmerzliche Diskriminierungen – wie die so genannte „Normalzahl“ von maximal 90 jüdischen Familien in Hohenems und maximal sieben in Innsbruck, die „Überzählige“ im Falle eines Heiratswunsches zur Abwanderung zwang – beibehalten wurden, öffneten im Vormärz der Zugang zum Handwerk und das Recht auf Grund- und Hausbesitz in erster Linie in Hohenems schrittweise den Weg zur wirtschaftlichen und bürgerlichen Gleichstellung. Teile der alten jüdischen Oberschicht in Hohenems, vor allem die reichen Händlerfamilien wie die Rosenthals, erkannten die Chancen der neuen Zeit und beteiligten sich mit ihrem Kapital an der Industrialisierung in Vorarlberg. Sie gehörten mit zu den Pionieren der Textilindustrie, gründeten Firmen und wurden Fabrikanten und Großbürger.

Im 19. Jahrhundert wächst die jüdische Bevölkerung in Tirol und Vorarlberg bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf über 1400 Personen. Ein weiter Bogen spannt sich von Kantor Salomon Sulzer, dem weit über Österreich hinaus bekannten Reformer der jüdischen Synagogenmusik, bis zur erfolgreichen Innsbrucker Firma Bauer & Schwarz, die sich noch vor dem Ersten Weltkrieg etablierte. Das gesamte 19. Jahrhundert war gekennzeichnet durch den langsamen Weg hin zur rechtlichen Gleichstellung der Juden Ende 1867 und durch die rassistischen, antisemitischen Reaktionen darauf ab Beginn der 1880er Jahre. Wirtschaftliche Neuerungen, insbesondere die Entwicklung einer entsprechenden Infrastruktur – Bäcker, Metzger, Wirte – gingen vor allem in Hohenems Hand in Hand mit dem religiösen Reformprozess, und jüdische Frauen spielten auch in der nichtjüdischen Öffentlichkeit in Hohenems eine sichtbare Rolle.

Nicht so günstig war die Ausgangsposition in Tirol nach der Rückkehr zu Österreich. Die Zeit der bayerischen Herrschaft stellte für die Zusammensetzung der jüdischen Gemeinde in Tirol eine tiefe Zäsur dar: Die meisten alten Familien waren entweder weggezogen, überaltert oder ausgestorben. Bis Mitte der 1820er Jahre nahmen Zuwanderer die Plätze der alten Familien ein und spielten im langsam einsetzenden wirtschaftlichen Modernisierungsprozess in Tirol bis nach der Jahrhundertmitte als risikobereite und innovative Unternehmer eine wichtige Rolle. Da das bayerische Edikt von 1813 hier nie Gültigkeit erlangt hatte, standen den wenigen Juden Tirols im Vergleich zu jenen in Vorarlberg weit größere rechtliche Hindernisse im Weg: Neben den Heiratsbeschränkungen war dies vor allem das nach 1814 wieder aufrechte Verbot des Erwerbs von Realitäten. Zudem galt bis in die 1860er Jahre – abgesehen von sieben tolerierten jüdischen Familien in Innsbruck und zwei in Bozen – offiziell ein Ansiedlungsverbot für Juden in Tirol.

Männer wie Martin Steiner aus Böhmen, 1826 Gründer des späteren „Bürgerlichen Bräuhauses“ in Innsbruck, oder David Friedmann aus Bayern, im selben Jahr Gründer einer „Cotton- und Wollenfabrikation“ an der Sill in Innsbruck, mussten jahrelang um Ausnahmegenehmigungen für den Erwerb ihrer Häuser und Betriebsstätten kämpfen. Beide erwiesen sich immer wieder als kreative Strategen, wenn es darum ging, diskriminierende und anachronistische Gesetze auszuhebeln. Jüdische Kinder hatten es weiterhin schwer. Da nur der jeweils älteste Sohn heiraten durfte und ein Ansässigkeitsrecht erhielt, mussten auch fünf der neun Kinder Steiners bis Mitte der 1850er Jahre nach Amerika und zwei nach Bayern auswandern.

Auch die fünf Söhne des Josef Schwarz aus Hohenems mussten im Vormärz „auswandern“, in ihrem Fall allerdings nur nach Südtirol. Sie stehen exemplarisch für den Modernisierungsprozess der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts südlich des Brenners: Der Vater bereiste anfangs als Hausierer Südtirol, die Söhne arbeiteten sich bis zur Revolution von 1848 zu erfolgreichen Geschäftsleuten hoch. Sie betrieben in den 1830er Jahren zuerst eine Kantine für die Arbeiter beim Bau der Franzensfeste, wurden zu Heereslieferanten, pachteten und kauften schließlich eine Brauerei in Vilpian und gründeten eine Privatbank in Bozen und Feldkirch. Auch die beiden Brüder Biedermann ließen sich bereits in den 1830er Jahren als erste Juden in Meran nieder und waren schließlich wichtige Bankiers in der Stadt.

In der nächsten Generation war Sigismund Schwarz dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts der größte Investor in den privaten Eisenbahnbau in Südtirol und einer der wichtigsten Förderer des Südtiroler Fremdenverkehrs, vor allem durch die Erschließung neuer Ferienziele durch den Bau von Berg- und Eisenbahnen.

Den größten positiven Einschnitt im Leben der jüdischen Bevölkerung im Laufe des 19. Jahrhunderts stellten die Staatsgrundgesetze vom Dezember 1867 dar. Während in Hohenems in Vorarlberg bekanntlich schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts eine Landjudengemeinde existierte, galt in Tirol vor den Staatsgrundgesetzen von 1867 praktisch ein Ansiedlungsverbot für Juden. Die wichtigste praktische Auswirkung der rechtlichen Gleichstellung war die Niederlassungsfreiheit im ganzen österreichisch-ungarischen Staatsgebiet. Damit begann eine zuerst langsame, ab den 1890er Jahren stürmische jüdische Zuwanderung nach Nord- und Südtirol. Zwischen den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit kehrten sich die Größenverhältnisse zwischen Hohenems auf der einen Seite und Innsbruck und Meran auf der anderen Seite durch Zu- und Abwanderung um.

Meran entwickelte sich zum neuen Zentrum südlich des Brenners. Wesentliche Beiträge zum Aufschwung des Fremdenverkehrs in der Kurstadt leistete ab den 1870er Jahren der aus Breslau stammende jüdische Kurarzt Raffael Hausmann, der neben dem Aufbau einer religiösen Infrastruktur für jüdische Kurgäste in Meran durch seine Schriften Meran, dessen Heilklima und die Traubenkur weltweit bekannt machte. Vor allem die Königswarterstiftung dominierte das jüdische Leben in der Stadt, bis es kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu einer kämpferischen Auseinandersetzung kam, die schließlich nach dem Krieg zur Gründung einer eigenen Kultusgemeinde führte. Eine der wichtigsten jüdischen Familien im Meran der Zeit vor 1900 waren die Bermanns aus dem Burgenland. Sie eröffneten in Meran das erste koschere Restaurant, pachteten und kauften dann Hotels und legten damit den Grundstein für die enorme Zunahme des jüdischen Tourismus in Meran vor dem Ersten Weltkrieg.

Mehrheitlich fassten sich die jüdischen Tiroler und Vorarlberger als religiöse Gruppierung auf, als Tiroler und Vorarlberger jüdischen Glaubens. Besonders die alte jüdische Gemeinde in Hohenems war schon Mitte des 19. Jahrhunderts religiös sehr liberal, ihre stark assimilierten Mitglieder lebten nicht „abseits“ ihrer christlichen Umgebung, sondern mit ihr. Auch die Innsbrucker Gemeinde – bis auf wenige Ausnahmen lebte die jüdische Bevölkerung Nordtirols in der Landeshauptstadt – zählte im Gegensatz zur orthodoxen Gemeinde Meran zu den religiös liberalen. Nur ein paar Familien sind als streng religiös einzustufen und haben versucht, einen koscheren Haushalt zu führen. In Innsbruck zählten einzelne – allen voran Wilhelm Dannhauser als langjähriger liberaler Gemeinderat – zu den Gründungsmitgliedern wichtiger örtlicher Vereine.

Die neue Freiheit, die steigende jüdische Zuwanderung bis zum Ersten Weltkrieg und der wirtschaftliche Erfolg einiger dieser Neuankömmlinge riefen jedoch Gegenkräfte auf den Plan: Die Zuwanderung war vom Entstehen des modernen Antisemitismus begleitet, der ab Anfang der 1890er erstmals eine politische Rolle in Tirol spielte. Gerade der von Wilhelm Dannhauser mitbegründete Innsbrucker Turnverein gehörte Ende der 1880er Jahre zu den ersten, die Juden die Aufnahme verwehrten. Und auch in der Politik wehte ein neuer Wind. Obwohl sich Dannhauser als Kandidat auch bei den Innsbrucker Gemeinderatswahlen 1896 sicher durchgesetzt hätte, wurde er nicht mehr nominiert. Der Grund: Nach 25 Jahren als Gemeinderat hätte er zum Ehrenbürger der Stadt Innsbruck ernannt werden müssen. So liberal waren Mitte der 1890er Jahre nicht einmal mehr die Liberalen in der Landeshauptstadt.

Die nun mögliche Migration brachte seit Anfang der 1870er Jahre auch neue, innovative Kräfte ins Land: zum Beispiel kamen Kaufleute, wie Michael Brüll aus Mähren, die mit...

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