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Jugend in Neukölln

AutorArchiv der Jugendkulturen
VerlagArchiv der Jugendkulturen Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783940213747
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Nord-Neukölln - das berühmteste 'Ghetto' Deutschlands. Hier liegt die Rütli-Schule, hier lassen sich Gangsta-Rapper anschießen, hier werden Polizisten ermordet und Drogen im Familienpark gehandelt. Neukölln bedeutet hohe Arbeitslosigkeit, Armut, Schulabbrecher- und Migrantenzahlen. In Neukölln sind aber auch eines der renommiertesten Bezirksmuseen Deutschlands, ein Dutzend bekannter SchriftstellerInnen, immer mehr Studierende, ModeschöpferInnen und andere junge Kreative beheimatet. Neukölln ist 'hip'. Wie stellt sich die ambivalente Realität Neuköllns aus der Perspektive dort lebender Jugendlicher dar? Die AutorInnen und FotografInnen haben ein Jahr lang mit jungen Menschen in Neukölln Gespräche geführt, sie in ihrem Alltag und zu außergewöhnlichen Ereignissen begleitet, ihren Stress, ihre Konflikte, Probleme, Erfolge und Freuden erlebt und dokumentiert. Neuköllner Jugendliche selbst haben in einer Literaturund Fotowerkstatt ihre Erfahrungen reflektiert und kreativ aufgearbeitet.

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Leseprobe

In der medialen Diskussion ist Neukölln heutzutage für die Themen Armut, Migration und all die Probleme dazwischen berühmt und berüchtigt, in der historischen Perspektive markiert bereits das Jahr 1737 den Anfang der Migrationsgeschichte nach Rixdorf.

Über 250 Jahre vor der aktuellen Integrationsdabatte kommen die ersten Migranten nach Rixdorf. Eine Gruppe von gut 500 Protestanten hatte sich auf den Weg gemacht, ihre Heimat Böhmen zu verlassen, da sie ihren Glauben dort nicht mehr ausüben durften. Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. gewährt ihnen Einlass und weist an, in Rixdorf Unterkünfte für sie erbauen zu lassen – 1737 wurde so „Böhmisch-Rixdorf“ gegründet.

Die Immigranten leben auf engstem Raum, viele weben und spinnen oder sind als Bauern tätig. Für die Kinder wird eine eigene Schule eingerichtet, mit inspiriert durch die Ideen des Universalgelehrten Johann Amos Comenius‘, dessen Ideen man auch heute noch in Rixdorf begegnen kann – der Comenius-Garten an der Richardstraße ist nach diesen gestaltet worden.

Das Zusammenleben verschiedener Menschen erwies sich auch damals als nicht nur einfach: Zwiste zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen führen zur Gründung dreier verschiedener Gemeinden innerhalb Böhmisch-Rixdorfs, die Beziehungen zu den Bewohnern von Deutsch-Rixdorf waren wohl nicht weniger spannungsvoll. Eine Heirat über die – auch sprachlichen – Grenzen hinweg schien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aussichtslos, wenn man nicht verstoßen werden wollte.

Einige Traditionen und Spuren des böhmischen Lebens haben sich übrigens bis heute erhalten: Der böhmische Gottesacker am Karl-Marx-Platz zeugt mit seinen Grabsteinen in tschechischer Sprache von den Vorfahren der Menschen, von denen auch heute noch einige Häuser in Böh-misch-Rixdorf bewohnt werden; bis heute leben Geistliche der Herrnhuter Brüdergemeinde in Neukölln, die aus den Glaubenszwisten hervorgegangenen Kirchenhäuser stehen weiterhin; prominent mitten im Dorf in der Kirchgasse steht das 1912 eingeweihte Denkmal für eben jenen Preußenkönig, der mit seiner Geste den Anfangspunkt der Migrationsbewegung nach Neukölln markierte. Besonders erwähnenswert: Seit dem Jahre 2008 wird mit dem historisierenden (aber keinesfalls historisch fundierten) Popráci, dem Strohballenrollen auf dem Richardplatz, sogar an böhmische Traditionen angeknüpft, die gar keine sind – was aber ebenfalls als hohes Geschichtsbewusstsein interpretiert werden kann.

Aber zurück zum Lauf der Geschichte: War Rixdorf bis zur Jahrhundertwende nur ein kleines Dorf im Dunstkreis der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin geblieben, kündigten sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts große Umwälzungen an: Innerhalb von wenigen Jahren sollte sich – bedingt durch die einsetzende Industrialisierung und den damit verbundenen Zuzug in die baldige Reichshauptstadt Berlin – das Stadtbild und die Bevölkerungszahl rasant vergrößern. Ein Blick auf die Einwohnerzahl im Laufe des 19. Jahrhunderts zeigt dies eindrucksvoll: 1806 leben knapp 700, 1867 schon fast 7.000 und 1895 bereits 90.000 Menschen im dann „größten Dorf der Monarchie“.

Mit dem enormen Zuzug in die Stadt vor den Toren Berlins kommen viele Menschen in der Hoffnung auf Arbeit; die Kinder müssen wie immer mit anpacken, denn es heißt, auf engstem Raum und nur von der Hoffnung auf zukünftigen Wohlstand zu überleben.

In der Hasenheide geht zeitgleich eine ganz andere Entwicklung vonstatten: Einige Brauereien verlegen ihre Verkaufsstellen auf den ehemaligen Exerzierplatz im neu entstandenden Volkspark. Attraktionen und Vergnügungsstätten aller Art, Sommertheater, Schießbuden und Pferdewetten lassen sich nieder und die Massen freut es: Sie strömen aus Berlin „raus ins Jrüne“, Familien und Vereine verbringen ihre freie Zeit mit Picknick, Tanz und allerlei Privatvergnügen zwischen Wahrsagern und Schönheitsköniginnen. Eine der skurrilsten unter ihnen war wohl Bamba Hongorillo, der „König der Wüste“, der seinen „heimatlichen“ Schlachtruf brüllt und dabei vor den Augen der Menge lebende Kaninchen zerreißt, um deren Blut zu trinken.

Kinder spielen auch hier eine Rolle: Die einen vergnügten sich mit ihren Familien, die anderen nutzen das geschäftige Treiben zum Verkaufen von Kornblumen. Nachts war der Park dann voll von „Gesindel“ und so genannten „Strauchrittern“, und wenn man heute ganz genau hinhört, könnte man zeitweilig meinen, dass die Büsche in der Hasenheide immer noch sprechen können.

Mit der Eröffnung der „Neuen Welt“ konnte der bunte Trubel auch im Winter fortgeführt werden: Die Allzweckvergnügungshalle am Rande des Hermannplatzes bot bis zu 6.000 Gästen gleichzeitig Platz, zunächst für Boxkämpfe und Bockbierfeste, später nutzten Erwin Piscators proletarisches Theater und in den 1930er Jahren dann die Nationalsozialisten sie als Spielstätte für ihre Parteitage und Propagandaveranstaltungen.

Am plakativsten für die Entwicklung Rixdorfs zur Vergnügungsmeile vor den Toren Berlins ist die Geschichte eines Liedes, des „Rixdorfers“. Diese Polka, bis heute viel interpretiert, bringt es in den 1880er Jahren zu großem Ruhm. Gespielt wird sie vom Komiker Littke-Carsten als Einlage in zahlreichen Revues und auf Volksfesten, wobei er tanzend mit einer überlebensgroßen Puppe, der im Lied zitierten Rieke, auf der Bühne steht:

Auf den Sonntag freu’ ick mir, ja,

dann geht es raus zu ihr,

feste mit vergnügtem Sinn,

Pferdebus nach Rixdorf hin.

Dort erwartet Rieke mir, ohne Rieke kein Plaisir,

Rieke, Rieke, Riekake, die ist mir nicht pipape! –

Geh mit ihr ins Tanzlokal, Rieke,

Riekchen woll’n mir mal

Kost’n Groschen nur, für die ganze Tour.

Rieke lacht und sagt, na ja! Dazu

sind wir auch noch da,

und nu geht er mit avec, immer feste weg!

Das populäre Tanzlied erfreute viele Menschen, galt andererseits allerdings auch als grob und ordinär und bereitete somit den Stadtvätern und in der Industrie reich gewordenen gutsituierten Rixdorfern große Sorge. So heißt es:

„Der Rixdorfer, der bekannte Tanzgalopp, erschien auf der Bildfläche – alle Welt lachte, und natürlich in erster Linie Berlin. Wie allein dieser eine wüste Gassenhauer mit seiner kreischenden Klarinettenstimme unserem Orte geschadet hat, ist kaum zu beschrieben. […] Sein […] Verbreiter […] kann den traurigen Ruhm für sich in Anspruch nehmen, das Kuplet zum Schaden Rixdorfs in weitesten Kreisen Berlins und der Mitwellt ‚populär‘ gemacht zu haben.“1

Das Ende vom Lied: 1912 erfolgte die Umbenennung Rixdorfs in Neukölln, jedoch nur für einige wenige Jahre: Mit der Eingemeindung des ehemals größten Dorfes des Reiches in das neu formierte Groß-Berlin fand die kurze Selbständigkeit der Stadt Neukölln bereits acht Jahre später ihr jähes Ende. (Aufgrund der gehäuften örtlichen Verankerung des Begriffs „Problembezirk“ gab es in den 1990ern erneut eine Diskussion um die Umbenennung des Bezirkes – der Vorschlag diesmal: Rixdorf.)

Es folgt ein weiterer Krieg, 6.600 Neuköllner fallen an der Front, und als 1918 die Weimarer Republik ausgerufen wird, folgt eine Epoche, die besonders für die Neuköllner Schülerinnen und Schüler große Umbrüche mit sich bringen sollte: Der Arbeiterbezirk wird zum Modellprojekt für eine ganz neue Bildungspolitik, neue Pädagogik erhält Einzug in die Gemäuer vieler Neuköllner Schulgebäude. Führende Reformpädagogen wie Fritz Karsen und Schulreformer wie Kurt Löwenstein setzen mit ihren Lebensgemeinschaftsschulen in einem revolutionären eingliedrigen Schulsystem neue Akzente, die sich deutlich vom autoritären Lehr- und Erziehungsstil der Kaiserzeit abgrenzen.

Überhaupt war die Zeit der Weimarer Republik für Neukölln eine Epoche voller Neugier: Etliche Theatergründungen, innovative Architekturprojekte, das wilde Leben in der Hasenheide und eine Politisierung durch Gewerkschaften und Parteien im neben dem Wedding zweiten roten Bezirks Berlins. Das U-Bahnnetz schließt den Bezirk an den Rest der aufstrebenden Metropole an, der Bahnhof Hermannplatz mit seinen hohen Decken, seinem direkten Zugang zum Warenhaus Karstadt avanciert genau wie dieses zu einem Anziehungspunkt, der seinesgleichen suchte.

Aber das ist nur die eine Seite: Harte Arbeit war vonnöten, dass Kinder in Fabriken und bei handwerklichen Tätigkeiten mit anpackten an der Tagesordnung. Die Inflation traf besonders die Arbeiterkinder Neuköllns hart, die versuchten, sich und ihre Familien mit Betteln und allerlei Hilfsarbeiten über Wasser zu halten. Staatliche Hilfen wie Milchausgabe und Versorgung mit Kleidern konnten die Not nur...

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