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Jugendjahre in der Schweiz 1930-1950

AutorArnold, Emil Steinberger, Jürg Ramspeck, Lys Wiedmer-Zingg, Peter Gross, Peter Zeindler, Rolf Lyssy
VerlagFriedrich Reinhardt Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783724520412
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die Geschichte vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg war auch in der neutralen Schweiz geprägt durch die Wirtschaftskrise, durch Militärdienst und Lebensmittelrationierungen, durch technische Entwicklungen und durch die Aufbruchstimmung nach dem Krieg. Für diejenigen, die sie erlebt haben, fand diese Geschichte in kalten, verdunkelten Wohnzimmern statt, im engen Luftschutzkeller, beim Radiohören mit der Familie, mit dem ersten Chewing Gum und mit dem ersten, einzigen Auto im Quartier. 28 prominente Zeitzeuginnen und Zeitzeugen schauen zurück und erzählen in ihren Beiträgen davon, wie sie den Krieg und die Vor- und Nachkriegszeit als Kinder und Jugendliche erlebt haben. Ihre persönlichen Geschichten und Schilderungen des Alltags lassen die Vergangenheit lebendig werden und hinterlassen einen fesselnden Eindruck vom Lebensgefühl jener Zeit.

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Leseprobe

Lys Wiedmer-Zingg

Das verschwundene Dreiländereck


Ich war sechzehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach und einundzwanzig, als er endete. Nicht Fisch, nicht Vogel, wurde ich als Backfisch auf einem heissen Grill gar gesotten. Es waren die prägendsten Jahre meines Lebens, in denen mir vieles zum ersten Mal geschah: die erste Stelle, der erste selbst verdiente Lohn, die erste Liebe und das erste Paar Nylonstrümpfe mit der schwarzen Naht. Wenn man sie nicht korrekt anzog, sah es aus, als hätte man O- oder X-Beine. Ich begegnete in diesen Jahren auch den beiden wichtigsten Weichenstellern für mein Berufsleben als freie Journalistin und Autorin.

Die Ereignisse in Deutschland hatten zwar schon zum Voraus ihren Schatten geworfen, aber meine Mutter und ich konnten das Hurragebrüll jenseits der Grenze nicht ernst nehmen. Hitler mit seinem Schnäuzchen, der dicke Göring und der bellende Goebbels – das waren doch Witzfiguren. «Die Fahnen hoch, die Reihen dicht geschlossen, SA marschiert im gleichen Schritt und Tritt …»

In der Küche unserer Wohnung an der Wanderstrasse 10 in Basel stand auf dem Büffet ein kleiner Wander-Radio. Punkt halb eins am Mittag hörten wir Radio «Beromünster». Es war unsere einzige Informationsquelle neben dem Hörensagen. Ein Telefon gab es erst im Nebenhaus. Erst als ich älter war, wurde mir die «Weltchronik» von Jean Rudolf von Salis, welche Radio «Beromünster» jeden Freitagabend um 7 Uhr ausstrahlte, zur wichtigen Lebenshilfe.

1939 hatten wir einen schönen Sommer. In Zürich wurde die Landesausstellung eröffnet. Auf meinem Velo mit Rücktrittbremse radelte ich zusammen mit meiner Schulfreundin Milada während den Ferien an die Landi. Wir wären gerne mit der Gondelbahn vom linken an das rechte Zürichsee-Ufer geflogen, aber ein Franken fünfzig für ein Billett, das war uns zu teuer. Doch für den Schifflibach – quer durch Ausstellungshallen und die offenen Plätze – dazu reichte es. Was geistige Landesverteidigung bedeutete, ging uns nicht nah. Wir wanderten zwar über den siebenhundert Meter langen Höhenweg unter einem Himmel von 3000 bunten Kantons- und Gemeindefahnen, blieben aber nur einen Moment vor der überlebensgrossen Skulptur eines wehrbereiten Soldaten stehen. Was mich beeindruckte, war ein hundert Meter langes und fünf Meter hohes Wandbild des jungen Hans Erni, «Die Schweiz als Ferienland». Viele Jahre später habe ich Hans Erni persönlich kennengelernt. In einem langen Gespräch erzählte er mir, wie er nach einem Besuch in Russland in der Schweiz als Kommunist und Landesverräter gebrandmarkt worden war. Er konnte kein einziges Bild mehr verkaufen. Erst nach langen Jahren in Amerika wurde er wieder akzeptiert.

Noch etwas geschah in diesem Sommer. Eines Tages holte uns Gusti, ein Cousin meiner Mutter, mit seinem Auto ab. Er kam aus Dossenbach, einem südbadischen Dorf, wo auch meine Mutter aufgewachsen war. Es war die erste Autofahrt meines Lebens. Gusti kam in strammer SS-Uniform. Jenseits der Grenze, so bläute er uns ein, hatten wir jeden Gruss mit ausgestreckten Armen und «Heil Hitler» zu beantworten. Das Malheur begann schon in Lörrach. Überall Hitlerfahnen und Militär, aber um alles in der Welt wollten meine lachlustige Mutter und ich die Arme nicht zum Hitlergruss ausstrecken. Wir antworteten mit einem netten «Grüezi». Entnervt fuhr der SS Gusti uns zwei dumme Kuh-Schweizerinnen wieder zurück nach Basel.

Die Reden Hitlers und des Propagandaministers Goebbels wurden immer zynischer: «Wollt ihr den totalen Krieg?» Tosender Applaus. «Heil, heil Hitler»! «Nun Volk, steh auf – und Sturm brich los!» War dies das Volk der Dichter und Denker? Im hohen, biblischen Alter kam mir ein Satz zugeflogen: «Zum Aufstieg des Bösen genügt das Schweigen der Guten.» Und der Sturm brach los, setzte die Welt in Brand und brachte rund 60 Millionen Menschen den Tod, verwandelte Städte in Wüsten.

Am 1. September 1939 erfolgte die erste Mobilmachung. Mein Vater wurde zur Grenzwache eingeteilt. Ich kniete mit ihm zusammen am Boden, wo wir den Kaput vorschriftsmässig millimetergenau zusammenrollten und ihn auf dem eckigen Tornister montierten. Obendrauf befestigten wir den Stahlhelm. Aus dem Kleiderschrank im Schlafzimmer der Eltern holte der Vater das Gewehr und liess mich durch den blankgeputzten Lauf sehen. Seine Uniform roch nach Mottenkugeln. Dann marschierten wir zwei zusammen zum Hauptbahnhof, wo in der Schalterhalle bereits ein Heer von Soldaten auf den Abmarschbefehl wartete.

Am 10. Mai 1940 folgte die zweite Mobilmachung und eine deutsche Truppenkonzentration an der Schweizer Grenze. «Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, das nehmen wir zum Frühstück ein»: Das war die Hintergrundmelodie aus dem Dritten Reich. In Basel begann die Massenabwanderung in Richtung Innerschweiz, weg von der gefährdeten Grenzstadt im Dreiländereck. Alles, was Räder hatte, war unterwegs. Mein Bruder wurde zur Heerespolizei eingezogen. Plötzlich waren Mutter und ich allein in der grossen Wohnung und allein im dreistöckigen Haus. Vaters Lohn als Metzger bei der Bell AG schmolz von mageren 400 Franken auf 250 Franken. Im nahe gelegenen Gotthelfschulhaus, dort, wo ich bei Fräulein Trommer in die Primarschule gegangen war, wurde Militär einquartiert. Es entstanden über Nacht Barrikaden. Die Fasnacht fiel aus – auf die mussten die Basler noch fünf Jahre warten. Es gab keine grossen Bälle mehr in der Mustermesse, wo man ein Flüchtlingslager für Elsässer eingerichtet hatte. Unter den Flüchtlingen war auch eine befreundete Familie, zu der wir oft am Sonntag zum Gugelhopfessen gefahren waren. Unsere bescheidenen Ferien auf der Schweigmatt am Feldberg waren nicht mehr möglich und es gab keine Besuche mehr im badischen Dossenbach, wo meine Mutter, das Fineli, auf dem Friedhof neben der Kirche immer das Grab ihres heiss geliebten Halbbruders Heiner besucht hatte, der im Ersten Weltkrieg gefallen war.

Der besondere Reiz Basels, das Dreiländereck, das offene Hin und Her nach Frankreich und Deutschland: tempi passati. Mein Vater schob Wache entlang der mit Stacheldraht bewehrten Grenze oberhalb der Chrischona, Stacheldraht gegen Deutschland, den Todfeind. Ich hatte schreckliches Heimweh nach meinem Papa. Der grosse, säuberlich entrümpelte Estrich wurde mein Refugium. Hier stieg ich auf der kleinen Leiter bis zum hoch gelegenen Dachfenster. Von dort aus sah ich das grosse Sperrfeuer vom Hartmannsweilerkopf aus gegen Frankreich. Es war der Auftakt zum Einmarsch der deutschen Armee in Richtung Paris. 30000 Menschen starben in diesen Nächten in der Sehweite von meiner Dachluke aus.

Vor dem Übertritt in die Handelsschule besuchte ich noch ein Jahr lang das Steinenschulhaus mitten in der Stadt, in der Nähe des alten Stadttheaters. Die halbe Mädchenklasse schwärmte für den stadtbekannten Schauspieler Leopold Biberti. Ich liebte am meisten meinen romantischen Schulweg. Er führte an der damals noch nicht zubetonierten offenen Birsig vorbei, einem Nebenfluss des Rheins, der erst an der Heuwaage unter dem Boden verschwand. An die zutraulichen Tauben, welche sich auf meine Arme setzten, verfütterte ich mein Pausenbrot.

In der Handelsschule sass ich in einer Klasse mit der quirligen Emmi. Mein Bruder Hansruedi suchte sich auf einem meiner Klassenfotos eine Freundin aus, wobei zwei in die engere Wahl kamen: Marga, die verwöhnte hübsche Tochter eines Hoteliers in der Innenstadt, und Emmi als Nummer zwei. Als ihn die Nummer eins schnöde abblitzen liess, bat er mich, ihm Nummer zwei vorzustellen. Emmi wurde seine Frau. Emmi ist immer noch in Basel und der Mittelpunkt ihrer drei Söhne, der Schwiegertöchter und der Enkel.

Ich habe nach vielen Reisen seit über 50 Jahren in der Westschweiz Wurzeln gefasst. Mein Sohn ist ein perfekter Doppelsprachiger, meine erwachsenen Enkel sind typische Romands, für die Deutsch eine Fremdsprache ist. Wir zwei Dinosaurierinnen der Familie, Emmi und ich, telefonieren heute, nach dem Krebstod meines Bruders, jede Woche einmal miteinander. Unser unerschöpflicher Fundus: die Vergangenheit.

Im Norden das Dritte Reich, im Westen das besetzte Frankreich, im Osten das annektierte Österreich, im Süden Mussolinis faschistisches Italien: In der von den Achsenmächten eisern umklammerten Schweiz ging das Alltagsleben weiter. In der «Handeli» hörten wir Zarah Leander singen: «Ich weiss, es wird einmal ein Wunder geschehen …» und: «Regentropfen, die an mein Fenster klopfen, die sagen mir, es ist ein Gruss von dir …» oder: «Ich stehe im Regen, und warte. Auf dich …». Ich war verliebt. Die von Deutschland befohlene und von Bern verordnete Verdunkelung störte mich überhaupt nicht. Das war für uns Amors Schutzschild. Im dunklen Schützenmattpark, wo nun Kraut und Rüben wuchsen, dort hatten Paul und ich unser sicheres Schmusebänklein.

Je mehr sich die Erfolgsmeldungen von «Eroberungen» aus Deutschland häuften, umso ängstlicher, so schien es uns Jungen, wurde man im Bundeshaus in Bern. Bald kursierte der Spruch «Me sett...

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