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Justiz am Abgrund

Ein Richter klagt an

AutorPatrick Burow
VerlagLangenMüller
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783784434582
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
In Zeiten der Angst und der Unsicherheit verlangt 'Volkes Stimme' nach kurzem Prozess und härteren Strafen. Tatsächlich aber, so Strafrichter Patrick Burow, kann die Justiz ihren Beitrag zur inneren Sicherheit gar nicht mehr leisten. Freigesprochene Mörder, lasche Strafen und verschleppte Prozesse sind Indizien einer Krise des Rechtsstaats. Die Justiz steht im Zentrum aktueller gesellschaftlicher Debatten. Der Autor legt mit seiner brisanten Bestandsaufnahme den Finger in zahlreiche Wunden. Er schreibt sehr persönlich über die Kuscheljustiz, krasse Fehlurteile und Deals hinter verschlossenen Türen. Klar und deutlich sagt er, was sich ändern muss, damit die Justiz auch in Zeiten des Terrors ihren Beitrag zur inneren Sicherheit leisten kann.

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Leseprobe

1. WARUM DIE MEISTEN URTEILE NICHT MEHR »IM NAMEN DES VOLKES« ERGEHEN

»Im Namen des Volkes!« werden die Urteile verkündet. Das ist nur eine Floskel. Entweder entscheidet der Richter allein oder er behandelt die Schöffen als reine Statisten. Das Volk wirkt an den Entscheidungen nicht wirklich mit. Ein schales Gefühl verbleibt, denn ich weiß, die Mehrheit des Volkes, für das ich Recht spreche, würde härtere Urteile verhängen als ich. Wenn jemand ein Verbrechen begeht, erwartet der Bürger, dass er weggesperrt wird. 49 Prozent der Bevölkerung halten die Urteile der deutschen Gerichte nach einer Allensbach-Umfrage für zu milde, gegenüber jugendlichen Straftätern sind sogar 58 Prozent dieser Ansicht.41 Volkes gedruckte Stimme verspritzt regelmäßig sein Gift mit Schlagzeilen wie »Skandalurteil«, »Saustalljustiz« und »Wer schützt uns vor solchen Richtern?«. Auch die Politik fordert härtere Strafen. »Zu milde Strafen sind ein falsches Signal«, sagte der ehemalige Bundesinnenminister de Maizière.42 »Die Richter urteilen viel zu milde, eine Ermahnung und ein drohender Zeigefinger schrecken doch niemanden ab«, bemängelt der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Wendt.43 Dabei sind die als zu milde kritisierten Strafen, die die Strafrichter verhängen, juristisch korrekt, wie später noch zu zeigen sein wird.

Wenn »im Namen des Volkes« geurteilt wird, sollte sich das Volk in den Strafen wiedererkennen. Bei der Strafzumessung versteht der Bürger aber die Gerichte nicht mehr. Warum regelmäßig die oberen zwei Drittel eines Strafrahmens nicht angewendet werden dürfen, ist einem juristischen Laien nicht zu erklären. Warum ein verpfuschtes Leben Pluspunkte bei der Strafzumessung bringt, ebenso wenig. Warum es auch trotz langer Vorstrafenliste Bewährung gibt, auch nicht. Als Vorsitzender des Schöffengerichts habe ich den Vorteil, das Ohr am Puls des Volkes zu haben. Die meisten Vorsitzenden behandeln ihre Schöffen wie Statisten und geben die Strafe vor. Warum sollte man auch die vox populi, die Stimme des Volkes, bei der Urteilsfindung berücksichtigen? Der ehemalige Schöffe Marc Baumann schildert in seinem Buch »Richter Ahnungslos« die Bevormundung durch den Vorsitzenden Richter eindrucksvoll.44 Doch wenn ich in der Urteilsberatung keine Strafe vorgebe und die Schöffen nach ihren Vorschlägen frage, erfahre ich Erstaunliches. Zwischen den üblichen Strafen der Rechtsprechung und den Vorschlägen der Schöffen liegen manchmal Jahre. Die Schöffen folgen dem aktuellen Ruf nach Law and Order. Die Straftaxen der Rechtsprechung entsprechen nicht mehr dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung. Meine Aufgabe als Vorsitzender ist es dann, die Schöffen auf ein realistisches Strafmaß herunterzuhandeln. Denn über dem Amtsgericht schwebt das Landgericht, liebevoll Rabattinstanz genannt. Spätestens dort bekommt der Angeklagte unter zwei Jahre, selbstverständlich auf Bewährung. Es hat keinen Sinn, ein Urteil zu verkünden, von dem ich weiß, dass es sicher vom Landgericht aufgehoben werden wird. Als Richter wünsche ich mir manchmal, die gesetzlichen Strafrahmen auch tatsächlich ausschöpfen zu können. Die Kluft zwischen der Rechtsprechung und Volkes Stimme wird immer größer.

Auch Polizisten sind oft über milde Strafen enttäuscht. Ich habe großen Respekt vor Polizisten, die tagtäglich ihr Leben und ihre Gesundheit für uns aufs Spiel setzen, um uns zu beschützen. Mein Vater war Kriminalkommissar und ich weiß, wovon ich spreche. Als Kind habe ich ihn wegen vieler Nacht- und Wochenendschichten vermisst. Der Frust von Polizisten ist groß, wenn mit großem persönlichem Einsatz geführte Ermittlungen zu keiner spürbaren Strafe führen. Die Arbeit der Justiz vermittelt der Polizei oft den Eindruck, ihre Arbeit sei völlig umsonst.

2. SCHLUSS MIT DER KUSCHELJUSTIZ: BRINGEN HÄRTERE STRAFEN ETWAS?

Nach aufsehenerregenden Straftaten wie den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/2016 werden Forderungen nach härteren Strafen laut. Politiker aller Parteien fordern, die Täter müssten die ganze Härte des Rechtsstaates spüren. Angeregt durch die aktuelle Sicherheitsdebatte und Wahlen hat die Regierung höhere Mindeststrafen für bestimmte Delikte wie Wohnungseinbrüche oder Gewalt gegen Polizisten eingeführt.

Enden Prozesse mit milden Strafen, kocht der Volkszorn hoch und der Ruf nach härteren Strafen wird ebenfalls laut. Es sind Fälle wie diese:

Zwei junge Männer liefern sich 2015 in Köln ein illegales Autorennen. Der BMW des einen erfasst die 19-jährige Radfahrerin Miriam. Sie stirbt drei Tage später im Krankenhaus. Der Fahrer sagte den Beamten am Unfallort, sie sollen mit der Sprühkreide, mit der sie den Tatort markieren wollten, vorsichtig sein, weil die Felgen seines Autos 3000 Euro gekostet hätten. Der Fahrer bekommt zwei Jahre auf Bewährung, der andere Mann ein Jahr und neun Monate auf Bewährung.45 Die Mutter ist entsetzt über das milde Urteil: »Miriam ist nicht auf Bewährung tot, sondern für immer!« Erst nachdem der Bundesgerichtshof das Urteil aufgehoben hatte, entschied das Landgericht Köln, dass die bereits verhängten Freiheitsstrafen wegen fahrlässiger Tötung nicht zur Bewährung ausgesetzt werden.46

In einem anderen Fall hatte der Angeklagte im Januar 2016 seine 32-jährige Ex-Freundin in ihrer Wohnung gefangen gehalten. Dort hatte er sie beschimpft, gedroht, sie umzubringen, hatte sie mehr als achtmal zu Oralverkehr gezwungen und die Frau vergewaltigt. Das Martyrium dauerte elf Stunden lang. Für die mehrfache Vergewaltigung, die Nötigung und den Freiheitsentzug verurteilte ihn das Schöffengericht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten.47 Es setzte sie trotz Vorstrafe zur Bewährung aus.

Eigentlich sieht das Gesetz für eine Vergewaltigung eine Mindeststrafe von zwei Jahren vor. Das Gericht fand das Martyrium des Opfers aber nicht so schlimm und hatte einen minder schweren Fall festgestellt. Der Angeklagte war geständig, es war nur eine Beziehungstat und Alkohol war auch mit im Spiel.

Ein Verkehrsrowdy regte sich über die aus seiner Sicht zu langsame Fahrweise des Ortsbürgermeisters Wolfgang Weise auf. Er überholte ihn und bremste ihn aus. Beide stiegen aus. Der Verkehrsrowdy schlug sofort mit Faust zu. Der wuchtige Schlag traf Weise an der Schläfe. Er fiel mit dem Hinterkopf auf den Asphalt, verlor viel Blut und das Bewusstsein. Der Schläger ließ Weise blutend auf der Straße liegen und flüchtete. Er wurde von einem zufällig vorbeikommenden Autofahrer gefunden. Weise musste wegen eines Schädelhirntraumas mehrere Tage im Krankenhaus behandelt werden. Der Angeklagte musste sich nicht nur wegen der Körperverletzung gegen Weise verantworten, sondern für insgesamt acht Straftaten, unter anderem zwei weitere Körperverletzungen, Nötigung und Fahren ohne Führerschein. Das Amtsgericht Weißenfels verurteilte ihn zu einer Gesamtgeldstrafe von 200 Tagessätzen à 60 Euro. »Nur 12000 Euro? Na, da sind wir ja gut weggekommen«, sagte der Schläger nach der Urteilsverkündung höhnisch lachend zu seinem Anwalt.

Bürgermeister Weise hat dagegen seinen Glauben in die Gerichte verloren.48

Es hilft dem Verständnis, wenn man weiß, wie Richter die Strafzumessung durchführen. Sie erfolgt in drei Schritten:

Erster Schritt: Festlegung des gesetzlichen Strafrahmens

Aus den Paragrafen des Strafgesetzbuchs ergibt sich der Regelstrafrahmen. Sonderstrafrahmen können den Regelstrafrahmen durch Strafmilderungen und Strafschärfungen verändern. Im Gesetz sind das die minder schweren oder besonders schweren Fälle. Ein Beispiel: Der Einbruch in ein Gebäude macht aus einem einfachen Diebstahl einen besonders schweren Fall des Diebstahls.

Zweiter Schritt: Einordnung der konkreten Tat in den gefundenen Strafrahmen

In diesem Schritt ist die konkrete Tat in die im Schritt eins festgelegten Strafrahmen einzuordnen. Ein paar Kriterien sind dem § 46 Strafgesetzbuch (StGB) zu entnehmen. Es sind alle für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen. Die wesentlichsten Strafzumessungskriterien sind:

  • Vorleben des Angeklagten: vorbestraft oder bislang unbescholten?
  • Motivation des Täters, zum Beispiel Habgier oder wirtschaftliche Not?
  • Gesinnung und aufgewendeter Wille: Tat spontan oder monatelang im Voraus geplant? Große kriminelle Energie oder Opfermitverschulden?
  • Tatausführung: für das Opfer schonend oder besonders brutal?
  • Erfolg der Tat? Schadenshöhe bzw. Anzahl der Opfer
  • Nachtatverhalten: neue Straftaten oder Schadenswiedergutmachung?

Dritter Schritt: konkrete Festlegung der Strafe

Hier stellt sich die Frage der Strafart, also Geld- oder Freiheitsstrafe. Bei der Freiheitsstrafe stellt sich die Frage der Bewährung. In der Praxis ist die Aussetzung zur Bewährung bei Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren der Regelfall. Der Täter und die Öffentlichkeit setzen eine Bewährungsstrafe als Nichtbestrafung gleich. Der Verurteilte muss nicht ins Gefängnis. Die Möglichkeit des Bewährungswiderrufs ist im Moment der Urteilsverkündung nur eine hypothetische.

Wichtig ist, dass es am Schluss keine exakte, richtige Strafe gibt. Nach dem Bundesgerichtshof...

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