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E-Book

Kakanische Kontexte

Reden über die Mitte Europas

VerlagOtto Müller Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl177 Seiten
ISBN9783701362165
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Seit ihrem Untergang hat die Donaumonarchie die gegensätzlichsten Reaktionen hervorgerufen. Heftigste Ablehnung ebenso wie höchste Wertschätzung, nicht selten überzuckert mit einer schneeweißen Haube Nostalgie. Je mehr sich die Jahrestage ihres Untergangs der magischen Zahl 100 nähern, umso stärker wird 'Kakanien', wie Robert Musil die k.u.k. Monarchie ironisch bezeichnete, erneut zu einem Gegenstand der Reflexion: 1914 starb der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand bei einem Attentat in Sarajevo, 1918 endete der Erste Weltkrieg mit dem Zerfall der Monarchie. In welchen Kontexten wird die kakanische Lebenswelt heute gesehen, mit welchen Erinnerungen und Überlegungen verbinden Intellektuelle wie Karl-Markus Gauß aus Salzburg, D?evad Karahasan aus Sarajevo oder György Konrád aus Budapest ihren Blick auf die mitteleuropäische Geschichte der vergangenen 100 Jahre? Diesen Fragen gehen die Beiträge des vorliegenden Bandes nach, dem eine Vortragsreihe des Münchner Adalbert-Stifter-Vereins zugrunde liegt.

Peter Becher (Herausgeber): geboren 1952 in München, studierte Germanistik und Geschichte. Seit 1986 ist er Geschäftsführer des Adalbert-Stifter-Vereins (München), darüber hinaus Mitglied des tschechischen PEN-Klubs, der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie korrespondierendes Mitglied des Adalbert-Stifter-Instituts von Oberösterreich. Becher erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter die Bayerische Verfassungsmedaille in Silber (2012).

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Leseprobe

Ernst Trost (Wien)

Doppeladler-Perspektiven

Geschichten von einer lebenslangen Spurensuche

 

Es war einer jener unvergesslichen römischen Abende am Petersplatz, an diesem denkwürdigen 16. Oktober 1978. Hunderttausend schrien auf und klatschten in die Hände, als die Scheinwerfer den weißen Rauch aus dem dunklen Abendhimmel zerrten. Und dann dauerte es noch lang, bis Kardinal Felici von der Loggia des Domes das „Habemus papam“ verkündete. Weil er um die korrekte Aussprache des Namens Wojtyła bemüht war, klang es wie „Woitiua“, und die erste Reaktion mancher Italiener in der Menge war „un africano“ oder zumindest „un straniero“, ein Fremder, ein Ausländer, und schließlich „un polacco“. Viele waren zuerst wohl etwas enttäuscht, mir schien es wie ein Wunder, dass der Erzbischof von Krakau als der neue Papst aus dem Konklave hervorgegangen war. Gleich suchte ich nach seinem Jahrgang – 1920, also leider nicht mehr im alten Österreich geboren, aber sein Vater hatte es in der k. u. k. Armee vom Rechnungsunteroffizier 1915 zum Militär-Evidenzbeamtenaspiranten gebracht und war damit Angehöriger des Offizierskorps gewesen. Eigentlich wollte dieser Karl Wojtyla nach zwölf Dienstjahren zum zivilen k. k. Staatsbeamten werden, aber da kam der Krieg dazwischen. Kurz nach der Papstwahl hatte man im Wiener Kriegsarchiv bereits die Wojtyla-Akten mit dem Urteil: „ist jeder Bevorzugung würdig“ ausgegraben. Sein Sohn, obwohl in tiefster Seele dem Polentum verhaftet, war sicherlich vom mitteleuropäischen Erbe der Donaumonarchie geprägt. Und dazu hat sich Johannes Paul II. auch bekannt. Die ganze Lebenssphäre, in der der junge Karol aufwuchs, war ja von einem Hauch von k. u. k. durchweht. Das ist eben jenes Kakanische, dieser altösterreichische Sinn für Ordnung und Ehrlichkeit, für eine verlässliche Verwaltung, und auch ein gewisser Geist der Toleranz und des Verständnisses für die Eigenheiten der unter zwei Kronen und dem Doppeladler vereinten bunten Völkerschar.

Übrigens, nicht nur der Papst aus Polen, auch mehrere italienische Päpste der Neuzeit hatten Bindungen zum Habsburgerreich: Pius X., Giuseppe Sarto, wurde 1835 im venezianischen Riese als Sohn eines Briefträgers im Dienst der österreichischen Post geboren. Auch Pius XI. kam 1857 noch als Untertan Kaiser Franz Josephs im lombardischen Desio zur Welt. Die Eltern Johannes’ XXIII. hatten in Bergamo unterm Doppeladler gelebt, und die Großeltern Albino Lucianis, Papst Johannes Pauls I., waren bis 1866 im Veneto österreichische Staatsangehörige.

Ja, wenn man einmal dieser Suche nach den Spuren des Doppeladlers verfallen ist, dann wird man überall fündig. Darum war es für mich fast eine automatische Reaktion, an dem historischen Abend am Petersplatz gleich nach austriakischen Wurzeln des neuen Papstes zu fragen. Der zutiefst kakanische Schriftsteller Friedrich Torberg (Der Schüler Gerber, Die Tante Jolesch) spricht vom „inneren Doppeladler“, jenem „persönlichen, sentimentalen Attachement, der wehmutsvollen Sehnsucht nach etwas unwiederbringlich Verlorenem, jenseits von Besser oder Schlechter, jenseits aller Politik, ja wohl sogar jenseits der Vernunft …“ So schrieb er’s 1965 in seinem wunderbaren Vorwort zu meinem Buch Das blieb vom Doppeladler. Und er hatte dabei vor allem die ehemaligen Kronländer unter Sichel und Hammer vor Augen. Viele Menschen, die unter der kommunistischen Gleichschaltung litten, klammerten sich an ihre kakanischen Erinnerungen. Die Habsburgermonarchie verklärte sich für sie zur „guten alten Zeit“, selbst wenn sie oder ihre Väter früher einmal in leidenschaftlichem Nationalismus zu ihrer Zerstörung beigetragen hatten. Neben der Religion, in die sich viele flüchteten, bauten sie sich oft eine historische Traumwelt auf, um dem tristen sozialistischen Alltag wenigstens mit Hilfe ihrer Erinnerungen zu entrinnen. Und manche Junge entdeckten die Relikte einer untergegangenen Lebens- und Staatsform, die zur Utopie wurde, romantisch, ja exotisch. Im Frühwinter 1964 auf meiner Reise auf der Suche nach „K. u. k. im Schatten des Kremls“, wie ich mein Kapitel über die Teile Galiziens und der Bukowina unter dem Sowjetregime nannte, traf ich in Czernowitz, heute Tschernowzy, eine junge Intouristführerin, Larissa, eine Russin, die in Kasachstan aufgewachsen und erst vor nicht allzu langer Zeit nach Czernowitz geraten war. Und sie kam da in eine ihr völlig fremde Umgebung, in eine intakte altösterreichische Kulisse, die für sie wie von einem anderen Kontinent war. Klug und interessiert, wie sie war, fand Larissa Kontakt zu alten, echten Czernowitzern, die ihr von früher erzählen konnten. Und war dann glücklich, dass sie plötzlich einen Österreicher vor sich hatte, der ähnliche Fragen stellte wie sie. So brachte sie mich mit den richtigen Leuten zusammen. Dabei hieß es zuerst meist: „Haben Sie Verwandte hier?“ Denn dass jemand nur um Czernowitz’ willen hierher geriet, konnte sich damals kaum einer vorstellen. Inzwischen ist die nunmehr ukrainische Hauptstadt der Bukowina längst so etwas wie ein Wallfahrtsort für Doppeladlersucher geworden. Und auch die heutigen Czernowitzer wissen die k. u. k. Vergangenheit ihrer Stadt zu pflegen und gut zu vermarkten. Sogar Otto von Habsburg war hierher gereist, um das Ehrendoktorat der Universität in Empfang zu nehmen, im prunkvollen maurisch-byzantinischen Rahmen der einstigen Residenz des griechisch-katholischen Erzbischofs. Übrigens, eine Standardfrage vieler Alter zwischen Donau und Adria, Pruth und Moldau auf meinen Recherchetouren war immer wieder: „Was ist eigentlich mit Otto, gibt’s den noch?“ Dann kam noch: „Und was ist mit dem Wiener Prater?“ Und mancher fügte hinzu: „Als Kind war ich einmal dort.“ Gerade aus Czernowitz und Galizien wurden zu Beginn des Ersten Weltkriegs Massen von Flüchtlingen nach Wien deportiert. Bis heute noch berichten die Uralten von diesem Kaiserstadt-Erlebnis. Sie sind dort zur Schule gegangen oder haben studiert. Und so manchen kommen Tränen, wenn sie davon reden. Dabei war ihr Los alles andere als rosig.

Auf der Suche nach einer doch nicht so ganz verlorenen Zeit musste ich zuerst bei mir selber anfangen und den in meinem Unterbewusstsein nistenden Doppeladler wieder flügge machen. Wie der Sohn eines Auswanderers, der zum ersten Mal in die Heimat der Eltern kommt, so spürt man als Österreicher in den Ländern der Monarchie irgendetwas Vertrautes, etwas von den Geschichten der Großmutter, die sie einem vor dem Einschlafen erzählt hat, von den Dialekten und Akzenten der älteren Generation, die unser Wachsen behütete. Man riecht die Speisen, deren Rezepte in so vielen österreichischen Haushalten in sorgfältig mit der Hand kurrent geschriebenen Kochbüchern überliefert werden. Ich komme aus der Obersteiermark, bin in Graz aufgewachsen und in Wien heimisch geworden. Meine Großmutter väterlicherseits unterhielt mich mit ihren Kindheitserinnerungen aus Mährisch-Ostrau oder von der reichen Tante Gusti in Brünn. Sie konnte Tschechisch wie Deutsch, und als sie in Fünfkirchen einmal als Erzieherin bei den Kindern eines Bergwerk-Direktors arbeitete, lernte sie Ungarisch. Ihr Mann war im burgenländischen Lockenhaus geboren, als es noch zu Ungarn gehörte. Der Vater meiner Mutter stammte aus Kärnten und hatte einen slowenischen Namen. Und meine Tanten in Seckau lebten dort im Umkreis der Benediktinerabtei. Sie waren alle tief katholisch. In ihren Geschichten thronte der Kaiser von Gottes Gnaden immer noch über uns, überirdisch, magisch, die Verkörperung alles Guten in einer bösen Welt. Als ich in meiner Schulzeit die durchaus freundliche Franz-Joseph-Biographie Jean Bourgoings in die Hand bekam, war ich zuerst schockiert darüber, was sich an diesem edlen Habsburgerhof so alles zugetragen hatte und dass diese scheinbar unantastbare Gestalt des alten Kaisers doch aus einer etwas kritischeren Perspektive betrachtet werden konnte. In den 1950er Jahren, als Student und junger Journalist, hielt sich mein Interesse an dieser Welt von gestern und vorgestern jedoch in Grenzen. Ich wollte den goldenen Westen entdecken, war von London fasziniert, wäre am liebsten gleich in New York geblieben und ließ mich von Paris gefangen nehmen. Als dort auf den großen Boulevards die Massen vor den Kinos für die Sissi-Filme anstanden, hatte ich dafür nur ein arrogantes Lächeln übrig; mich begeisterten die Werke der Nouvelle-Vague-Regisseure und Ingmar Bergmans. Erst als sich Jahre später meine Kinder vor dem Fernseher von Romy Schneider, Karlheinz Böhm und Ernst Marischka verzaubern ließen, wurden mir Wesen und Wirkung dieses perfekten K.-u.-K.-Recyclings bewusst. Aber in jenen Jahren wurde die Rückbesinnung auf die Donaumonarchie und deren kommerzielle Auswertung große Mode. Mit welcher Distanz hatten wir Jungen zuerst doch auf die Prachtbauten der Ringstraße geschaut, doch jetzt begriffen wir endlich, dass dieser Historismus nicht nur alte Stile kopiert hatte, sondern selber zu einem eigenen Stil geworden war, das perfekte Abbild der Zeit, die ihn kreiert hat.

Ich selber verdanke dieses Heimfinden nach Kakanien vor allem meinem Verleger Fritz Molden. Im Frühjahr 1963 nahm ich drei Monate Auszeit von der...

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