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Kampf der Eliten

Das Ringen um gesellschaftliche Führung in Lateinamerika, 1810-1982

AutorCristóbal Rovira Kaltwasser
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl361 Seiten
ISBN9783593407517
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Der Elitebegriff hat besonders in den letzten Jahren Konjunktur und gewinnt fortlaufend an Brisanz. Allerdings fehlt seinem Gebrauch meist die nötige Trennschärfe: Häufig signalisiert er zum einen die Suche nach leistungsstarken gesellschaftlichen Führungskraften, zum anderen drückt er Empörung über die »Unfähigkeit« der politischen Klasse aus. Jenseits dieses Phänomens stellt sich die Frage nach dem theoretischen Gehalt des Elitebegriffes. Inwiefern ist er relevant für die politische Theorie? Worin liegt sein analytisches Potential? Die Antwort dieses Buches lautet: In der historisch vergleichenden Forschung, die den Kampf um gesellschaftliche Führung zwischen Eliten in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Denn erst so lassen sich nationale Entwicklungspfade rekonstruieren, anhand derer sich Konflikte zwischen Eliten und die Austragung dieser Konflikte herauskristallisieren. Aus diesem Blickwinkel müssen Bildung und Erneuerung der Eliten als Prozesse von langer Dauer verstanden werden, die entscheidend für die historische Entwicklung aller Gesellschaften sind. Auf Grundlage dieser theoretischen Diskussion untersucht das Buch die Geschichte Lateinamerikas von der politischen Emanzipation von Europa bis zum ökonomischen Zusammenbruch von 1982. Dabei stehen Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko im Fokus, so dass vier Länder im Detail vergleichend untersucht werden. Der Autor lenkt den Blick auf die Frage, inwiefern gemeinsame Probleme - etwa die politische Unabhängigkeit von Europa, die Formierung des Staates oder der Umgang mit der sozialen Frage - von den jeweiligen Eliten eines Landes unterschiedlich wahrgenommen und gelöst worden sind. Im Gegensatz zu europäischen Diskursen, die Lateinamerika vielfach romantisieren (andauernde Aufstände und Aufstieg charismatischer Führer) oder degradieren (permanente Korruption und Unterentwicklung), bietet dieses Buch eine nüchterne Darstellung dieser komplexen Region. Statt sie zu exotisieren, wird demonstriert, dass sich aus dem Kampf zwischen den jeweiligen Eliten wesentliche Weichenstellungen ergeben haben, anhand derer sich historische Entwicklungspfade rekonstruieren lassen.

Cristóbal Rovira Kaltwasser, Dr. phil., ist Post-Doctoral Fellow der Alexander von Humboldt- Stiftung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

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Leseprobe
Vorwort von Herfried Münkler Lateinamerika, seine politische Geschichte, seine sozio-ökonomische Position im globalen Zusammenhang sowie seine Stellung in einer zukünftigen Weltordnung spielen im publizistischen wie wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsfokus der Deutschen eine eigentümliche Rolle. Man kann gewiss nicht sagen, Lateinamerika sei für uns ein vergessener (Halb-) Kontinent, wie dies etwa von Afrika immer wieder behauptet wird, aber der spanisch- beziehungsweise portugiesischsprachige Teil Amerikas unterliegt ausgeprägten Aufmerksamkeitszyklen, in denen sich eine nervöse Angespanntheit als Grundlage gesteigerten Interesses mit achselzuckend gelangweiltem Desinteresse abwechseln. Für einige Zeit sind Mittel- und Südamerika in aller Munde, und dann wieder könnte man bei dem Blick in deutsche Zeitungen oder die Kataloge der deutschsprachigen Neuerscheinungen wissenschaftlicher Verlage fast den Eindruck gewinnen, dass es die Großregion gar nicht mehr gibt. Dabei sind diese Aufmerksamkeitskonjunkturen weniger von der politisch-institutionellen Entwicklung oder dem wirtschaftlichen Gewicht Lateinamerikas in der Globalökonomie geprägt, sondern angefeuert hat sie vor allem die Gewaltgeschichte des Kontinents, auf die man in Deutschland, aber sicherlich nicht nur hier, einerseits mit Erlösungserwartungen und einer romantisch unterlegten Sakralisierung der handelnden Personen und andererseits mit gelegentlich entsetzter, gelegentlich aber auch bloß gleichgültiger Abwendung von den Staatsstreichen, Unterdrückungskampagnen und dem exzessiven Gebrauch der Folter reagiert. Lateinamerika war und ist für die Deutschen, vermutlich aber auch für die Westeuropäer in ihrer überwiegenden Mehrheit, mehr ein projektiver Imaginationsraum als ein Feld sorgfältiger Analysen, die angestellt werden, um Schnittfelder mit den eigenen Interessen herauszufinden und Perspektiven strategischer Kooperation zu entwickeln. Vielmehr haben Fidel Castro und Ché Guevara, zeitweilig auch die Sandinisten in Nicaragua die romantische Vorstellung von der 'schönen Revolution' befeuert, die im Gegensatz zur kalten Tristesse der bolschewistischen Machteroberungen in Russland und Osteuropa in eine buchstäbliche Nähe zum Paradies führen sollte, während auf der anderen Seite Somoza, die Familie Trujillo und vor allem der chilenische General und Präsident Augusto Pinochet für die Schrecken der politischen Repression, der grausamsten Foltermethoden und der hundertfachen Massaker stehen. Lateinamerika gerät entweder in romantisierter, wenn nicht messianisch aufgeladener Gestalt oder als Inbegriff politischen Scheiterns, sozialer Auflösung und notorischer Rückständigkeit in unseren Aufmerksamkeitsfokus, wohingegen der nüchterne Blick auf die lateinamerikanische Geschichte seit der Emanzipation aus dem zerfallenden spanischen Imperium eher die Ausnahme darstellt. Dieses Defizit - zumindest teilweise - zu beheben, ist der Anspruch der hier vorgelegten Arbeit von Cristóbal Rovira Kaltwasser. Bei seinem Versuch, die politisch-mythischen Projektionsflächen zu durchbrechen, hat er sich durch den Rückgriff auf die älteren Elitetheorien, wie sie von Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, eines Analyseinstruments bedient, das in der hiesigen Soziologie und Politikwissenschaft weitgehend außer Gebrauch gekommen ist und eigentlich nur noch in der politischen Ideengeschichte als Sachwalter des Archivs früherer Theorien eine Rolle spielt. Cristóbal Rovira Kaltwasser hat diese alten Instrumente soziologisch-politologischer Analyse aus dem Archiv geholt, sie eingehend geprüft und neu geschliffen, um sie für seine vergleichende Analyse lateinamerikanischer Entwicklungspfade nutzbar zu machen - und siehe da: was als von der sozialen und politischen Entwicklung überholte museale Bestände der Sozialwissenschaften erschien, entpuppte sich als probates Mittel, nicht nur um die spezifischen Elitenkoalitionen und deren jeweilige Interessenkonstellationen in einzelnen Ländern Lateinamerikas zu untersuchen, sondern vor allem, um die jeweiligen Entwicklungspfade dieser Länder einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen, in der die Voraussetzungen und Folgen dieser Elitenkoalitionen deutlich wurden. Selbstverständlich lässt sich auch gegen Roviras Herangehensweise der klassische Vorwurf gegen die Elitentheorien geltend machen, wonach sie ihre Aufmerksamkeit nur auf 'die da oben' fokussierten und 'die da unten' als bloßen Resonanzkörper oder Spielball von Elitehandeln betrachteten. Tatsächlich spielen 'die Massen' beziehungsweise die große Mehrheit der Bevölkerung in den nachfolgenden Untersuchungen keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle. Das werden vor allem diejenigen kritisch registrieren, die eine gewisse Affinität zu Lateinamerika als politisch-sozialrevolutionärer Erlösungsregion haben. Fabrik- und Landarbeiter, Bauern und untere Mittelschicht haben in der vergleichenden Betrachtung des mexikanischen und brasilianischen, des argentinischen und des chilenischen Entwicklungswegs keinen geschichtsmächtigen Platz; wenn sie in den Blick geraten, dann in jenen Umbruchsituationen, in denen es zu einer Neuordnung des Elitenarrangements kam, und auch dann eigentlich nicht als ein handlungsfähiger Faktor, sondern als eine Größe, die durch das Neuarrangement der Eliten zu befrieden und ruhig zu stellen ist. Aber Cristóbal Rovira schreibt keine normative Gesellschaftstheorie, sondern sein Hauptinteresse gilt der komparativen Betrachtung lateinamerikanischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, und dabei sucht er zu erklären, warum die Geschichte der vier von ihm als paradigmatisch ausgewählten Länder einige Male deutlich unterschiedlich verlief, wiewohl die 'materiellen Faktoren' einander eher ähnlich waren. In Abgrenzung von geopolitischen oder sozio-ökonomischen Determinationsvorstellungen, aber auch einer Geschichtsbetrachtung, die keine strukturellen Faktoren, sondern nur personenbezogene, oder aber gänzlich rätselhafte Kontingenzen kennt, vermag Rovira durch die rekonstruktive Analyse von Elitenkoalitionen zu zeigen, warum bestimmte Entwicklungswege beschritten wurden und welche Folgen dies für die Geschichte der untersuchten Länder hat. Die von ihm auf der Grundlage von Elitenkoalitionen beschriebenen Pfadabhängigkeiten der vier lateinamerikanischen Länder sind aber nicht als unveränderliche Festlegungen zu verstehen. Es gehört zu den theoretischen Besonderheiten der vorliegenden Untersuchung, dass sie den Eliten die Möglichkeit zugesteht, unter bestimmten Umständen, in der Regel in sogenannten 'critical junctures', neue Entwicklungspfade festlegen beziehungsweise auf sie einschwenken zu können. Diese in der US-amerikanischen Sozialwissenschaft verschiedentlich erörterte Perspektive eines Pfadwechsels - zu nennen sind hier Charles Tilly, Theda Skocpol, David Collier und andere - wird von Rovira mit den von ihm untersuchten Neuarrangements der Elitenkoalitionen verbunden, die zur erklärenden Variable für die mehrfach zu beobachtenden Wechsel von Entwicklungspfaden wird. Es handelt sich hier um einen in der deutschen Politikwissenschaft wenig gebräuchlichen Ansatz, der folgenreiche Richtungswechsel beim Beschreiten von Entwicklungspfaden erklären kann, ohne dass dazu auf einen längst überdehnten und zur Metapher gewordenen Revolutionsbegriff zurückgegriffen werden müsste. Die komparative Analyse von Elitenkoalitionen, wie sie von Cristóbal Rovira Kaltwasser gepflegt wird, bietet zugleich eine Erklärung dafür, warum eine unter bestimmten Gegebenheiten als geradezu optimal zu bezeichnende Elitenkoalition unter veränderten Gegebenheiten alles andere als funktional ist, sondern zu einer Blockierung des Elitentausch führen beziehungsweise die zuvor reibungslos verlaufende Kooptation von Gegeneliten unmöglich machen und in Folge dessen Gesellschaften, die zuvor ihre Interessensgegensätze und Konflikte friedlich zu bearbeiten vermochten, in eine Periode latenten Bürgerkriegs beziehungsweise offener Gewaltanwendung eintreten. Was sich in bestimmten Konstellationen in Anbetracht der verfügbaren Alternativen als optimale Lösung beim Zugang zu Entscheidungspositionen und der Verteilung von Reputation erwies, kann in einer späteren Phase, wenn der eingeschlagene Entwicklungspfad weiterbeschritten und das eingegangene Elitenarrangement aufrechterhalten werden, in große Schwierigkeiten führen, deren Bearbeitung mit ungeahnten sozialen und politischen Kosten verbunden ist. Der eigentliche Ertrag der von Rovira vorgenommenen theoretisch-methodischen Renovierung klassischer Elitevorstellungen liegt also nicht in der wie auch immer ausgerichteten Einzelbetrachtung von Gesellschaften und Staaten, sondern in der komparativen Nutzung der elitetheoretischen Analysemodelle. Cristóbal Rovira Kaltwasser hat damit eine Tradition wieder aufgenommen, die vor Jahrzehnten von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Barrington Moore mit etwas anderen Fragestellungen und unterschiedlichen Erwartungen begründet worden ist, als er in komparativer Perspektive nach der Rolle der Bauern bei der Entstehung der modernen Welt fragte, um damit grundsätzlich verschiedene Entwicklungspfade zu erklären. Die Schlüsselrolle, die Barrington Moore dabei den Bauern zugewiesen hat, ist in Roviras Erklärungsansatz auf die Art der Elitenkoalition übergegangen. Die sozialwissenschaftlich-historische Komparatistik, die sich nicht mit mikrostrukturellen Vergleichen begnügt, sondern sich auf über lange Zeitspannen angelegte großräumliche Vergleiche einlässt, kann hier einen Ansatz finden, der auch für andere Regionen als Lateinamerika fruchtbar zu machen ist. Mindestens ebenso attraktiv wie die theoretisch-methodische Herangehensweise ist der inhaltliche Fokus von Roviras Analyse: die Beschäftigung mit zwei Jahrhunderten lateinamerikanischer Geschichte anhand der Entwicklung von vier Ländern, die jeweils eigene Wege aus dem spanischen Großreich beziehungsweise der portugiesischen Herrschaft herausgegangen sind. Sicherlich waren die Ausgangsbedingungen für diese Länder nicht gleich: Mexiko stand von Anfang an unter dem Druck und Einfluss des immer mächtiger werdenden Nachbarn im Norden, an den es in mehreren Kriegen einen Teil seines Territoriums verlor. Auch Argentinien hat bei der territorialen Konsolidierung seines aus der postimperialen Masse des spanischen Imperiums beanspruchten Gebiets Federn lassen müssen, während Chile und Brasilien in den Auseinandersetzungen um ihr Staatsgebiet insgesamt erfolgreich waren. Das hatte Bedeutung nicht nur für die Wahrnehmung der Herausforderungen und Bedrohungen seitens der jeweiligen Eliten, sondern blieb auch nicht ohne Folgen für die Position des Militärs beziehungsweise der hohen Offiziere innerhalb der jeweiligen Elitenkoalition. Insgesamt verlief jedoch die Geschichte Lateinamerikas während der untersuchten zwei Jahrhunderte sehr viel friedlicher als die Europas innerhalb desselben Zeitraums, und große zwischenstaatliche Kriege haben hier nie eine vergleichbare Rolle gespielt wie auf dem europäischen Kontinent. Wenn Lateinamerika dennoch nicht zum Alternativparadigma des föderalen Modells aus dem amerikanischen Nordens gedient und hinsichtlich der Regelungen zwischenstaatlicher Beziehungen eine Vorbildrolle erlangt hat, so dürfte das an der aus europäischer Sicht notorischen Instabilität der jeweiligen Staaten gelegen haben. Dass diese Instabilität jedoch von den Europäern als sehr viel größer wahrgenommen wurde, als sie tatsächlich war, lässt sich mit Hilfe des hier vorgeschlagenen Blicks auf die Elitenkoalitionen und deren gelegentliche Revirements gut erkennen. Eine vergleichende Evaluation der Entwicklungsgeschichte postimperialer beziehungsweise postkolonialer Räume dürfte Lateinamerika vermutlich ein deutlich besseres Zeugnis ausstellen, als dies in der intuitiven Sichtweise der Europäer der Fall ist. Das ist auch mit Blick auf die politische und ökonomische Weltordnung des 21. Jahrhunderts von Bedeutung, in der die lateinamerikanischen Staaten - unter ihnen an erster Stelle Brasilien - eine sehr viel wichtigere Rolle spielen werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Roviras Untersuchung verdient insofern nicht bloß die Aufmerksamkeit wissenschaftlich-akademischer Kreise, sondern auch die aus Politik und Wirtschaft: Es gibt kaum Eliteforschung über Lateinamerika, weshalb Rovira hier weitgehend Neuland betreten hat, und vergleichende historische Untersuchungen zu Lateinamerika sind im deutschsprachigen Bereich bislang so gut wie keine publiziert worden. Dass dies nunmehr zu einem Zeitpunkt erfolgt, da die Zweihundertjahrfeiern zur politischen Unabhängigkeit von Spanien bevorstehen, mag ein Zufall sein, sollte der Arbeit aber eine Aufmerksamkeit sichern, die deutlich über das hinausgeht, was vergleichende Länderstudien billigerweise erwarten dürfen. Ein in politischer wie ökonomischer Hinsicht wichtiger Punkt sollte nicht unerwähnt bleiben: Es gibt eine historisch gewachsene enge Verbindung Lateinamerikas zu Europa, und das keineswegs bloß zum spanisch-portugiesischen Bereich, sondern auch zu Deutschland. Diese Beziehung ist durch mancherlei Wechselfälle der politischen Geschichte geprägt, die jedoch in kultureller Hinsicht nie zu Abbrüchen oder Verwerfungen geführt haben. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten hat sich jedoch der Einfluss der USA auf die Bildung und Ausbildung der zukünftigen lateinamerikanischen Elite deutlich verstärkt, und er wird dramatisch zunehmen, wenn die politisch bedingten Einflussblockaden unter der Ägide der neuen Washingtoner Administration abgebaut werden. Das könnte schon in naher Zukunft für die Deutschen wie die Europäer insgesamt zu einem Problem werden, wenn es darum geht, in Lateinamerika Ansprechpartner für die Organisierung einer globalisierten Welt zu finden. Das europäische und vor allem das deutsche Desinteresse an Lateinamerika verweist auf einen Mangel an strategischem Denken, der noch zu einem großen Problem werden kann. Cristóbal Rovira Kaltwassers Buch lässt sich auch lesen als die Aufforderung, etwas gegen das diesem strategischen Defizit zugrunde liegende Desinteresse an Lateinamerika jenseits heroischer Revolutionsmythen wie Versagens- und Katastrophenerzählungen zu tun. Die produktive Überwindung dieser beiden Sagas, des Revolutionsmythos wie der Katastrophenvorstellung, wäre ein guter Anfang. Berlin, Juni 2009 1. Einleitung Der Begriff 'Elite' erregt Aufmerksamkeit. Die Ursache hierfür liegt zum Teil in der umgangssprachlichen Deutung dieses Terminus. Das Wort 'Elite' verweist auf eine binäre Schichtung, die die Spitze einer Entität von deren Rest unterscheidet. Dieser Differenzierung werden häufig adjektivische Gegensatzpaare zugeordnet: Die Spitze ist hoch, edel oder mächtig, der Rest niedrig, grob oder schwach. Vor dem Hintergrund dieses Wortgebrauchs und seinen Entsprechungen ist es leicht, sich vorzustellen, weshalb das Wort 'Elite' zumeist nicht wertfrei verwendet wird. Innerhalb der Sozialwissenschaften beruht der schlechte Ruf des Elitebegriffs jedoch zum Teil auf den Gedanken der Begründer der Elitentheorie. Gaetano Mosca (1858-1941), Vilfredo Pareto (1848-1923) und Robert Michels (1876-1936) verhielten sich ambivalent zur Idee der Demokratie. Sie beobachteten die Konstituierung neuer Gruppierungen innerhalb ihrer Gesellschaft, die sich auf laienhafte Ideologien beriefen und dadurch eine immense Kraft bekamen. Das Ersetzen der alten Aristokratien durch neue Eliten war dann ein Prozess, der die Massen mobilisierte und neue beziehungsweise vom Volk gewünschte Führer an die Macht brachte. Dieser Kreislauf wurde von den genannten Theoretikern als ein Gesetz erfasst, wonach die Gesellschaft - egal ob autoritär oder demokratisch organisiert - als eine Einheit begriffen werden soll, in der einerseits stets wenige führen und viele gehorchen, aber sich andererseits auch Machtwandlungsprozesse vollziehen. Der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus bestätigten die Gedanken von Mosca, Pareto und Michels auf drastische Weise. Solche autoritären Herrschaftssysteme belegen, wie die Massen von einem Führer mobilisiert werden können, obwohl manche Studien (Aly 2005; Bach 1990; Gentile 2006; Kershaw 1999; Mann 2004) zu Recht darauf hinweisen, dass diese Beziehung zwischen Führer und Volk nicht lediglich hierarchisch aufoktroyiert, sondern auch durch eine Reihe von Komplizenschaften strukturiert war. Dessen ungeachtet liegt - insbesondere aus außereuropäischer Perspektive - auf der Hand, weshalb Wörter wie 'Elite' und 'Führung' nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland tabuisiert waren. Diese kurze Auseinandersetzung mit dem Elitebegriff will zeigen, warum er eine so große rhetorische Kraft besitzt. Im Falle Lateinamerikas kann man am Beispiel des Konzepts der Oligarchie eine ähnliche Situation beobachten. Denn hier wird unter 'Oligarchie' herkömmlicherweise ein Herrschaftsmodus verstanden, der auf der Hegemonie einer sehr kleinen und geschlossenen Elite beruht, die ihre Herrschaftsbasis im Landbesitz hat. Vor allem in den 1960er Jahren gab es eine interessante Diskussion, weil manche Autoren zutreffend argumentierten (Bourricaud 1969; de Imaz 1965; Graciarena 1967), dass in Lateinamerika strukturelle Transformationen stattgefunden hätten, mit der Folge einer Machtzirkulation, in der die alten Oligarchien durch neue Machtträger aus der urbanen Welt und der Mittelschicht abgelöst wurden. Diese lateinamerikanische Debatte über die Ablösung der politischen Machtträger durch neue Akteure ist mit der weiteren Entwicklung der Elitenforschung eng verbunden. Aufbauend auf den klassischen Werken von Pareto, Mosca und Michels haben sich verschiedene Theorien und Methoden entfaltet; selbst in Deutschland hat sich diese Forschungslinie etabliert. Hier wird in der Tat seit dem maßgebenden Werk von Wolfgang Zapf (1965) mit gewisser Periodizität empirisch über die Eliten geforscht. Insbesondere in jüngster Zeit genießt diese Thematik sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Sozialwissenschaften steigende Aufmerksamkeit. Zeichen dafür sind die Diskussion über die Schaffung von Elite-Universitäten sowie ein allmähliches Anwachsen von Publikationen, die sich mit dem Elitenphänomen beschäftigen (Birle et al. 2007; Bürklin/ Rebenstorf 1997; Gabriel/Neuss/Rüther 2006; Hartmann 2002, 2004, 2007; Hitzler/Hornbostel/Mohr 2004; Hradil/Imbusch 2003; Kaina 2002; Krais 2001b; Münch 2007; Münkler/Straßenberger/Bohlender 2006a; Sauer 2000). Was Lateinamerika betrifft, kann man erkennen, dass dieser Topos auch dort mehr Präsenz bekommt. Dies vor allem nach der argentinischen Wirtschafts- und Sozialkrise im Jahr 2001, weil seither der Satz 'que se vayan todos' - wörtlich übersetzt: alle sollen abhauen! - in der Öffentlichkeit zunehmend kursiert. Diese Aufforderung zum Rücktritt der Regierenden beruht auf der grundsätzlichen Annahme ihres Scheiterns. Man hat heute keinen Zweifel mehr, dass in vielen Ländern Lateinamerikas die Entwicklungshindernisse aus der Zeit der Diktaturen wenig abgebaut wurden, obwohl doch die Region schon seit langem nicht mehr von autoritären Regierungen beherrscht wird (UNDP 2004). Deswegen sind heute viele Menschen in Lateinamerika der Ansicht, dass die etablierten Eliten eher als Bremse denn als Motor der Entwicklung agieren.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt8
Vorbemerkung12
Vorwort von Herfried Münkler14
1. Einleitung20
Teil I: Theoretische Diskussion36
2. Zur Rekonstruktion der klassischen Elitentheorie38
2.1 Die Relevanz der klassischen Elitentheorie für die Interpretation der lateinamerikanischen Realität40
2.2 Der Durchbruch der klassischen Elitentheorie mit ihrem Zeitgeist: Zyklus- statt Fortschrittsgeschichtsphilosophie48
2.3 Die Gründer der Elitentheorie: Vertreter einer realistischen Rhetorik55
2.4 Die vergessene Analyse der gesellschaftlichen Führung bei der klassischen Elitentheorie59
3. Eliten: Umriss eines mehrdeutigen Forschungsgegenstandes67
3.1 Eliten und herrschende Klasse(n): zwei unterschiedliche Forschungsgegenstände68
3.1.1 Marx’ Theorie der herrschende Klasse69
3.1.2 Bourdieus Theorie der herrschenden Klassen77
3.1.3 Zwei unterschiedliche Forschungsgegenstände86
3.2 Entstehung und Entwicklung des Elitebegriffs in den Sozialwissenschaften88
3.2.1 Leistungseliten92
3.2.2 Funktionseliten95
3.2.3 Werteliten99
3.2.4 Bilanz und idealtypische Definition des Elitebegriffs103
4. Zu einer historischen Analyse der Eliten107
4.1 Elitenausdifferenzierung innerhalb von vier Machtsphären109
4.2 Zwei Facetten der horizontalen Elitenintegration121
4.3 Exkurs: Hegemonie statt vertikaler Elitenintegration127
4.4 Das Analyseraster der historisch vergleichenden Forschung: Entwicklungspfade und »critical junctures«133
Teil II: Historische Analyse144
5. Die Unabhängigkeit und die Suche der Eliten nach einer neuen Ordnung (ca. 1810–1880)146
5.1 Die Emanzipationsbewegungen: Elitenzirkulation und Ausbildung einer territorialen Ordnung148
5.2 Die Umgestaltung der alten Ordnung: Primat des Großgrundbesitzes und Entstehung neuer Konfliktlinien zwischen den Eliten168
5.2.1 Föderalismus und Zentralismus: der Disput um das Territorium174
5.2.2 Konservatismus und Liberalismus: der Disput um die »gute Gesellschaft«178
5.2.3 Entwicklungspfade bei der Herausbildung von Weltbildern180
5.2.4 Entwicklung und Überlappung der Konfliktlinien189
6. Autoritäts- und Machtkonsolidierung der Eliten in der oligarchischen Ordnung (ca. 1880–1929)194
6.1 Gesellschaftliche Transformationsprozesse und Konstituierung einer oligarchischen Ordnung195
6.1.1 Argentinien: gemeinsames Zivilisationsprojekt209
6.1.2 Brasilien: Neuarrangement zwischen regionalen Eliten214
6.1.3 Chile: selektive Elitenkooptation218
6.1.4 Mexiko: Positivismus und Porfiriat222
6.1.5 Wechselspiel der Eliten zwischen sozialer Öffnung und sozialer Schließung227
6.2 Die Belle Époque als Zenit der oligarchischen Ordnung: die soziale Schließung der Eliten230
6.2.1 Die Replik der städtischen Reformen Haussmanns232
6.2.2 Die Hundertjahrfeier der politischen Emanzipation239
6.3 Professionalisierung der Streitkräfte nach europäischen Modellen und Ausbildung einer rudimentären Funktionselite243
7. Aufstieg und Niedergang der nationalpopulären Ordnung (ca. 1929–1982)254
7.1 Erneuerung der Eliten dank des Staates und der Ausbildung technokratischer Kreise257
7.1.1 Aufstiegsphase (ca. 1929–1948)265
7.1.2 Konsolidierungsphase (ca. 1948–1973)267
7.1.3 Niedergangsphase (ca. 1973–1982)269
7.1.4 Die »Balkanisierung« des Staates272
7.2 Die begrenzte Autonomie der Machtsphären am Beispiel der kulturellen Eliten: Intellektuelle als Lakaien der Politik276
7.3 Der Kampf der Eliten um das Volk und die Bildung von Regierungsexperimenten297
7.3.1 Argentinien: Elitenuneinigkeit und prekäre Hegemonie306
7.3.2 Brasilien und Chile: unvollständige Elitenübereinkunft und allmähliche Erosion der Hegemonie312
7.3.3 Mexiko: Elitenübereinkunft und solide Hegemonie318
8. Kampf der Eliten und Formierung von Entwicklungspfaden: jenseits der Exotisierung Lateinamerikas326
9. Literatur338

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