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Kann Kapitalismus moralisch sein?

AutorAndré Comte-Sponville
VerlagDiogenes
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783257606171
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Kann Kapitalismus moralisch sein? Diese Frage geht uns alle an. Und zwar nicht nur in Zeiten der Rezession. Denn ob wir es wollen oder nicht: Mit unserer Arbeit, unseren Wertschriften und Bankkonten und mit unserem Konsum sind wir Teil eines ökonomischen Systems, das die einen zu Gewinnern, die anderen zu Verlierern macht. André Comte-Sponville geht den unterschiedlichen Einstellungen zum Thema Unternehmungsführung nach und unterzieht die Mechanismen der Wirtschaft sowie der Moral einer Analyse. André Comte-Sponville stellt die brisanten und fundamentalen Fragen.'

André Comte-Sponville wurde 1952 in Paris geboren. Der ehemalige Professor für Philosophie an der Sorbonne widmet sich seit 1998 ausschließlich dem Schreiben. Mit dem internationalen Bestseller ?Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben? begründete er eine neue Welle, die ?Philosophie für alle?, die den Philosophiemarkt aufblühen ließ. Weitere große Erfolge waren ?Woran glaubt ein Atheist?? und ?Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg?. André Comte-Sponville lebt in Paris.

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Leseprobe

[37] 3. Der »Tod Gottes«

Die dritte Erklärung, die ich vorschlagen möchte, um die Rückkehr der Moral begreiflich zu machen, bewegt sich auf der historischen Zeitebene der »langen Dauer«. Ich denke dabei an einen Prozess, der sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. Er hat in der Renaissance begonnen, sich im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss der Aufklärung beschleunigt und während des 19. und 20. Jahrhunderts fortgesetzt. Heute können wir, vor allem in Frankreich, beobachten, dass er fast abgeschlossen ist. Es handelt sich um einen Prozess der Laizisierung, der Säkularisierung und damit, zumindest soweit es Frankreich betrifft, der Entchristianisierung. Im Grunde ist es der Prozess, den Nietzsche schon Ende des 19. Jahrhunderts diagnostizierte, als er die berühmt gewordenen Worte schrieb: »Gott ist tot!… Und wir haben ihn getötet.«6 Denselben Prozess hat auf seine Weise der Soziologe Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts analysiert, als er – mit einem anderen berühmten Ausspruch, den unlängst Marcel Gauchet aufgegriffen hat – von der »Entzauberung der Welt« sprach.7

Was soll das heißen?

Betrachten wir, um es kurz zu halten, den berühmteren der beiden Aussprüche Nietzsches – »Gott ist tot«. Sie [38] wissen natürlich, dass der Ausspruch nicht wörtlich zu nehmen ist. Nietzsche ist sich darüber im Klaren, dass Gott, wenn es ihn denn gibt, definitionsgemäß unsterblich ist. Ich möchte hinzufügen, dass er, selbst wenn es ihn nicht gibt, ebenfalls in gewisser Weise unsterblich ist…

Vom Tod Gottes zu sprechen heißt auch nicht – wie ich im Gegensatz zu dem, was Nietzsche gelegentlich zu verstehen gab, finde –, dass es heute unmöglich ist, wahrhaft an Gott zu glauben. Das ist selbstverständlich immer möglich! Gott lebt – hier, jetzt, in diesem Saal – für alle die, die an ihn glauben. Doch im Unterschied zu früheren Jahrhunderten findet dieser Glaube nur noch in der Privatsphäre statt, wie die Soziologen sagen: Wir können nach wie vor individuell an Gott glauben; aber nicht mehr kollektiv mit ihm kommunizieren. Das gilt für jeden Einzelnen von uns und für uns alle gemeinsam. Ein Lehrer kann durchaus an Gott glauben; aber er kann sich nicht auf Gott berufen, um auf welchem Gebiet auch immer sein Wissen oder seine Autorität zu belegen. Der Leiter eines Unternehmens kann durchaus an Gott glauben; aber er kann sich nicht mehr auf Gott berufen, um seine wie auch immer geartete Macht über seine Mitarbeiter und Untergebenen zu rechtfertigen. Ein Politiker kann durchaus an Gott glauben; aber er vermag sich nicht auf Gott zu berufen, um sein Programm und [39] sein Handeln zu legitimieren. Das ist der Preis der Trennung von Staat und Kirche. Der Einzelne kann noch an Gott glauben, unsere Gesellschaft kann ihren Zusammenhalt nicht mehr auf ihn gründen. Dadurch entsteht eine große Leere, die den Gesellschaftskörper schwächt. Das ist die Bedeutung, die Nietzsches Worte heute haben: Gott ist gesellschaftlich tot.

Das wirft eine Vielzahl erheblicher Probleme auf, die fast alle die Frage des Gemeinwesens betreffen. Was bleibt von unserem Gemeinwesen, beispielsweise dem nationalen oder europäischen, wenn wir es nicht mehr auf eine religiöse Gemeinschaft gründen können? Denn aus der Gemeinschaft entsteht das Gemeinwesen und nicht umgekehrt. Nur wenn Gemeinschaft vorhanden ist, gibt es ein Gemeinwesen und nicht einfach ein Konglomerat nebeneinander herlebender oder konkurrierender Einzelwesen…

Doch was ist das für ein Gemeinwesen, wenn es keine Gemeinschaft mehr gibt?

Vor einigen Jahren habe ich Michel Serres gehört, wie er sich mit der Etymologie (oder mit einer der beiden möglichen Etymologien – die Frage wird von Fachleuten diskutiert, ist hier aber ohne Belang) des Wortes »Religion« auseinandersetzte. Nach der Etymologie, für die sich Michel Serres entschied und die auch von den meisten Fachleuten favorisiert wird, leitet sich das lateinische Wort religio von dem Verb religare ab, was »verbinden« bedeutet. Daher kam Michel Serres zu der – vor ihm schon oft getroffenen – Feststellung, dass die Religion das sei, was verbinde. Es liegt auf der Hand, wie das gemeint ist: Die Religion ist das verbindende Element zwischen den Menschen, weil sie sie [40] allesamt mit Gott verbindet. Wenn allerdings die Religion das sei, was verbinde, fügte Michel Serres hinzu – und diese Feststellung war origineller –, dann sei das Gegenteil von Religion nicht der Atheismus, wie gemeinhin angenommen, sondern négligence, »Nachlässigkeit«, von lateinisch neglectio, was ursprünglich Bindungslosigkeit bedeutet habe.

Diese letzte Bemerkung von Michel Serres aufgreifend, möchte ich sagen, dass wir heute von einem Zeitalter verbreiteter Bindungslosigkeit bedroht sind, das heißt schlicht und einfach von der Auflösung aller gesellschaftlichen Bindungen, so dass unsere Mitbürger, unfähig, in irgendeiner Hinsicht miteinander zu kommunizieren, nur noch in der Lage sind, ihre kleine Privatsphäre liebevoll zu kultivieren – was die Soziologen den Triumph des Individualismus oder Cocooning nennen.

Dieser Triumph des Individualismus stellt unsere Gesellschaft als Wirtschaftssystem nicht in Frage. Er ist natürlich mit dem Kapitalismus zu vereinbaren. Vielleicht ist er sogar dessen Ausdruck. Der Individualismus, das Cocooning, bringt gute Konsumenten hervor. Und da man von irgendwas leben muss, bringt der Individualismus, wenn er denn gute Konsumenten hervorbringt, auch ganz ordentliche Produzenten hervor. Von ihm ist unsere Gesellschaft als Wirtschaftssystem also nicht bedroht; sie könnte sehr gut fortbestehen, zumindest eine Zeitlang. Aber sie würde es nicht schaffen, Bindungen und Gemeinschaft herzustellen; sie würde es nicht schaffen, Sinn zu machen, wie man heute sagt. Unsere Gesellschaft könnte fortbestehen, aber das wäre das Ende unserer Kultur. Es gab jedoch noch nie eine [41] Gesellschaft ohne Kultur. Und selten hat eine Gesellschaft ihre eigene Kultur lange überlebt.

Ich befürchte, dass dieser gesellschaftliche Tod Gottes bei uns gleichzeitig der Tod des Geistes ist – das Verschwinden allen spirituellen Lebens, das diesen Namen verdient, zumindest im Westen. So dass wir am Sonntagmorgen nur noch die Supermärkte füllen können, weil die Kirchen sich leeren.

Es wäre ein Fehler, darüber zu frohlocken. Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen als bekennender Atheist sage, dass die Supermärkte nicht die Kirchen ersetzen können. Und dass eine Gesellschaft, die ihrer Jugend nur Supermärkte zu bieten hätte, ihre Zukunft wahrscheinlich schon hinter sich hätte. Die Jugend spürt das übrigens sehr wohl. Mir scheint, dass das auch – vielleicht sogar vor allem – der Grund für den Erfolg des Weltjugendtages ist…

Was hat das mit der Rückkehr der Moral zu tun? Das falle doch mehr in die Zuständigkeit der Spiritualität als in die der Moral, könnten Sie mir entgegenhalten… Es fällt in die Zuständigkeit beider. In die der Spiritualität, weil es eine Frage des Sinns, der Bindung, der Gemeinschaft ist; aber auch in die der Moral, weil es hier um eine Frage von Regeln und Werten geht, wie wir gleich sehen werden.

Was für eine Beziehung gibt es zwischen Gottes Tod und der Rückkehr der Moral? Meiner Ansicht nach die folgende: 2000 Jahre lang wurde im christlichen Abendland, um es sehr vereinfacht zu sagen, die Frage »Was soll ich tun?« (die moralische Frage) von Gott beantwortet – durch seine Gebote, seine Priester, seine Kirche –, so dass sich der Einzelne nicht mit ihr befassen musste, war die Antwort [42] darauf doch, eingebettet in eine zutiefst religiöse Kultur, selbstverständlich.8 Bei der Geburt oder während der ersten Lebensjahre erhielt man eine Art Geschenkpackung, eine im Wesentlichen religiöse Packung (»christliches Abendland« genannt), die natürlich auch eine Moral enthielt. Daher war die Moral damals weit weniger ein Problem als eine Lösung.

Ja. Und nun antwortet Gott nicht mehr auf die Frage: »Was soll ich tun?« Oder genauer, nun werden seine Antworten gesellschaftlich immer weniger hörbar – was auch, nebenbei bemerkt, für die wachsende Zahl praktizierender und vor allem junger Christen gilt. Alle Untersuchungen zeigen, dass eine Mehrheit der praktizierenden Christen, insbesondere der unter Fünfzigjährigen, sich nicht mehr an die moralischen Gebote der Kirche oder des Papstes gebunden fühlt: Denken Sie an das Problem der Empfängnisverhütung oder der außerehelichen Sexualität. Wie viele von den Millionen junger Leute, die Johannes Paul II. zujubelten, fühlen sich wirklich verpflichtet, jungfräulich in die Ehe zu gehen? Wie viele haben konsequent auf Pille oder Kondom verzichtet?

Halten wir also fest: Auf die Frage »Was soll ich tun?« antwortet Gott nicht mehr, oder seine Antworten werden gesellschaftlich immer weniger gehört. Trotzdem stellt sich [43] die Frage noch immer… So sieht sich jeder von uns vor dies – »Was soll ich tun?« – wie vor seine privateste persönliche Frage gestellt, auf die niemand (weder Gott noch Priester noch Generalsekretär…) an seiner Stelle antworten kann und die daher umso mehr Bedeutung gewinnt. Mancher glaubte in seiner Naivität, der Atheismus könnte die moralische Frage beseitigen! Das Gegenteil ist...

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