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Kinder lernen Sprechen. Theorien des Spracherwerbs

Theorien des Spracherwerbs

AutorJulia Zelonczewski, Simone Kaletsch, Yasmine Liebhart
VerlagScience Factory
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl127 Seiten
ISBN9783656448754
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Wann kann mich mein Kind verstehen? Wann fängt es an zu sprechen? Läuft bei meinem Kind alles normal? Das sind wichtige Fragen besorgter Eltern und die Antworten darauf sind schwierig. Allerdings gibt es Theorien und wissenschaftliche Ansätze, die den Spracherwerb bei Kindern erklären und Tendenzen beschreiben. Dieses Buch stellt Theorien zum Spracherwerbsprozess vor, erklärt, wie sich die Wortbedeutung bei Kindern entwickelt, und diskutiert die Relevanz des Gedankenlesens für den Spracherwerb. Aus dem Inhalt: Spracherwerbsprozess, Wortbedeutungsentwicklung, Piaget, Fast-mapping, Ein- und Zweiwortsätze, Gedankenlesen, Patchwork-Theorie.

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Leseprobe

Angewandte Theorie

Beobachtungen zu Spracherwerbsstilen


Nachdem wir uns im ersten Teil unserer Arbeit eher theoretisch mit dem Thema Spracherwerb befasst haben, möchten wir uns im zweiten Teil der praktischen Seite nähern. Unser „Bobachtungsobjekt“ Marian ist fünfzehn Monate alt und demnach mitten in der kindlichen Spracherwerbsphase.

Vorab war es natürlich wichtig, zu klären, was wir überhaupt beobachten wollen. Besonders interessant beim Verfassen des theoretisch orientierten Teils fanden wir die Theorien über die Spracherwerbsstile (vgl. Teil I, Kapitel 2.4.). Aus diesem Grund wollten wir herausfinden, ob Marian einem bestimmten Spracherwerbsstil zuzuordnen ist. Wir nahmen uns vor, die Tabelle zur Zusammenstellung individueller Unterschiede im Spracherwerb nach Bates et al. (siehe Seite 19) systematisch abzuarbeiten. Sollte man Marian eher dem Strang 1 zuordnen können, so könnte man davon ausgehen, dass er eher analytisch an den Spracherwerb herangeht. Wenn er allerdings eher in das Schema des zweiten Stranges passen würde, hätte er vermutlich eine holistische Herangehensweise. Wie wir bereits gehört haben, muss man aber beachten, dass in der Regel kein Kind streng analytische oder streng holistische Strategien bevorzugt. Wir mussten also von Anfang an davon ausgehen, dass er einen Spracherwerbsstil dominierend nutzt, während der andere weniger dominierend ist. Den Interaktionsstil der Bezugsperson(en) wollten wir außer Acht lassen.

 

Im ersten Schritt haben wir uns angesehen, welche Wörter Marian aktiv gebraucht und wie er sie benutzt. Zum Beobachtungszeitpunkt ist er in der Einwortphase und sagt ca. 30 Wörter (zum Teil Vokalisierungen), allerdings versteht er erwartungsgemäß mehr. Wie wir wissen, ist immer wieder beobachtet worden, dass Kinder sehr viel früher Wörter verstehen, als sie sie produzieren. Studien haben ergeben, dass Kinder im Alter von elf Monaten durchschnittlich um die 50 Wörter verstehen, während es mit sechzehn Monaten schon mehr als 169 Wörter sein sollen.(Szagun 19966: 101) Wir empfanden es aber als sehr schwierig, den Umfang des passiven Wortschatzes festzustellen. Oftmals erschließt Marian den Sinn eines Satzes nämlich nicht nur über die Bedeutung der Wörter. Wenn man sich mit ihm beschäftigt, benutzt man unwillkürlich Hilfssysteme, wie z.B. Gesten. Zum Beispiel sagt man Zieh mal deine Schuhe an in Kombination mit einem Fingerzeig auf seinen Fuß. Marian kennt das Wort Schuh und weiß auch, dass diese an die Füße gehören. Wir konnten aber nicht feststellen, ob er genau weiß, was anziehen bedeutet. Er bringt Schuhe bzw. das Anziehen von Schuhen mit Spazierengehen in Verbindung. Das bedeutet, wenn man das Wort Schuhe erwähnt, ist er schon von vorneherein daran interessiert, sie anzuziehen, damit er nach draußen gehen kann. Die Frage nach dem aktiven Wortschatz war zum Glück leichter zu beantworten. Wie bereits erwähnt, konnten wir zum Beobachtungszeitpunkt ca. 30 Wörter zu Marians aktivem Wortschatz zählen. In erster Linie handelt es sich bei diesen Wörtern um Nomen, er benutzt lediglich ein einziges Verb (baden) und nur zwei Adjektive (warm und bäh). Untersuchungen haben bestätigt, dass das frühe Vokabular von Kindern zu einem großen Teil aus Nomen besteht, während Adjektive, Präpositionen, Fragewörter und Artikel erst allmählich erworben werden. Bei den Verben werden in der Regel Aktionswörter relativ früh benutzt. Das heißt Kinder gebrauchen zuerst Verben, die eigene Bewegungen ausdrücken, und erst danach solche Verben, die involvieren, dass man kausale Wirkung versteht, wie etwa geben oder öffnen. Das Verb baden symbolisiert für Marian eine bekannte Aktion. Er badet offensichtlich sehr gerne und häufig, ganz egal ob im Schwimmbad, im Meer oder in der Badewanne. Aber auch Zähneputzen, die Gießkanne oder das Badezimmer werden als baden bezeichnet. Auch die Adjektive, die von Kindern schon recht früh im zweiten Lebensjahr benutzt werden, stammen meistens aus dem unmittelbaren Erfahrungsbereich der Kinder. Sie beschreiben meistens Zustände wie nass, kalt oder heiß. Erst im dritten Lebensjahr werden auch innere Zustände benannt. (vgl. Szagun 19966: 100) Marian benutzt das Adjektiv warm, wenn z.B. der Kachelofen oder die Wärmflasche warm sind und er sie berührt. Er scheint auch den Unterschied zwischen warm und heiß zu kennen. Berührt er den Kachelofen wenn er nicht mehr warm, sondern schon heiß ist, hebt er den Zeigefinger zur Warnung. Das Wort heiß gebraucht er zum Beobachtungszeitpunkt allerdings nicht. Auch in anderen Bereichen drückt er sich durch Gesten aus. Zum einen deutet Marian natürlich auf Gegenstände, zum anderen benutzt er Mimik oder Zeichensprache. Wenn er Musik hören möchte, wackelt er rhythmisch mit dem Kopf und zeigt auf die Stereoanlage. Das Nomen Mu für Musik ist leider wieder aus seinem Sprachschatz verschwunden.

Wie könnte man die Nomen charakterisieren, die Marian benutzt? Untersuchungen haben ergeben, dass Kinder zunächst einmal über Dinge und Lebewesen in ihrer Umgebung reden. (vgl. Szagun 19966: 99) Auch Marian benennt seine Bezugspersonen sowie Tiere und Dinge, die er aus seinem täglichen Leben kennt. Auffällig ist, dass er in der Vergangenheit einige Wörter eine gewisse Zeit benutzte und sie dann wieder ruhen ließ. Während er die Bezeichnungen Opa und Papa, schon seit einigen Monaten konstant gebraucht, hatte er die Worte Mama, Oma und Tapas (Name des Katers, mit dem er in einer Wohnung lebt) eine Weile benutzt und dann wieder „vergessen“. Mama und Oma wurden zum Untersuchungszeitpunkt nur durch Hindeuten bezeichnet, allerdings artikulierte er seit wenigen Tagen wieder das Wort Mama, ohne es aber konkret mit der Person der Mutter in Verbindung zu bringen. D.h. er spielt nur mit dem Wort und benutzt es nicht zum Rufen etc. Das Wort Tapas wurde von ihm durch die Vokalisierung mau ersetzt, nachdem er festgestellt hat, das Katzen genau diesen Ton von sich geben. Marian weiß aber trotzdem, dass dieser spezielle Kater Tapas genannt wird. Fragt man ihn „wo ist der Tapas“ deutet er zielsicher auf den Kater, während er bei der Frage „wo ist die Odessa“ auf die zweite Katze im Haus zeigt. Tiere, die er von seinen Spaziergängen kennt (Kuh, Hund, Rabe, Schaf etc.), benennt er durch Vokalisierungen, indem er ihre Laute nachahmt. Ebenso verfährt er bei allem, was Räder hat. Marian benennt Autos, Traktoren, Eisenbahnen etc. als brumm. Das kritische Merkmal zur Überdehnung ist dabei offensichtlich die Beschaffenheit. Die Tiger­enten auf seiner Tapete haben nämlich Räder und sind damit für ihn ebenfalls brumm. Bei dem Begriff Ball findet die Überdehnung dagegen auf der Basis von Form statt. Für Marian ist alles, was rund ist, ein Ball, z.B. Äpfel, aber auch Schallplatten. In diesem Alter kommt es häufig dazu, dass ein Kind ein Wort auf ein Objekt anwendet, das ein Erwachsener nicht mit diesem Wort bezeichnen würde. Diese Vorgehensweise wird als Überdehnung eines Wortes bezeichnet. Nach Eve Clark (1973) besteht die Bedeutung eines Wortes aus einer Ansammlung von semantischen Merkmalen. Beispielsweise machen für einen erwachsenen Menschen die Bedeutung von Katze Merkmale wie „kleines Tier“, „vier Beine“, „schnurrt“, usw. aus. Ein kleines Kind dagegen lernt die Bedeutung eines Wortes erst einmal, indem es zunächst ein oder zwei kritische semantische Merkmale als die Bedeutung des jeweiligen Wortes ansieht. (Beispiel Marian: brumm = hat Räder) Erst allmählich werden mehrere semantische Merkmale kombiniert und so die Erwachsenenbedeutung gelernt. (vgl. Szagun 19966: 99)

Nachdem wir also im ersten Schritt das Sprachverhalten von Marian beobachtet hatten, versuchten wir ihn im zweiten Schritt dem ersten Strang oder dem zweiten Strang zuzuordnen. In seiner Sprache fanden wir einen hohen Anteil von Nomen in den ersten 50 Wörtern, wobei er hauptsächlich einzelne Wörter gebrauchte, die sich größtenteils auf Objekte in seiner Umwelt bezogen. Aufgrund von Untersuchungen geht man davon aus, dass Kinder, die viele Nomen produzieren, Vokabular insgesamt schneller erwerben. Weiterhin nimmt man an, dass sie früher über mehr Inhaltswörter, auch Adjektive und Verben, verfügen und deshalb eine größere Variabilität in ihren lexikalischen Kategorien ausweisen. (vgl. Szagun 19966: 242) Diese letztgenannten Aspekte sollten in der Zukunft noch genauer bei ihm beobachtet werden und waren zum Zeitpunkt der Beobachtung nur schwer zu beurteilen. Auch ob er zum Gebrauch von Füllwörtern neigte oder eher nur bedeutungsvolle Elemente benutzte, musste man noch abwarten. Der flexible Gebrauch von Objektnamen ließ sich eindeutiger beschreiben. Marian gebrauchte zum Beispiel das Wort Katze (mau) nicht nur für eine bestimmte Katze, sondern für alle Katzen. Bei anderen Wörtern verfährt er genauso. Der Punkt des Vokabelwachstums ließ sich dagegen schwieriger zuordnen. Es fiel uns sehr schwer, zu beurteilen, ob Marian eher zum schnellen oder zum langsamen Vokabelerwerb neigte. Leider hatten wir keine anderen Kinder zum Vergleich. Im Bereich des passiven Wortschatzes lernt er auf jeden Fall schnell neue Vokabeln. Sein aktiver Wortschatz erweitert sich auch stetig. Ob dieser Vorgang im Sinne von Szagun als schnell zu benennen ist, können wir nicht beurteilen. Zusammenfassend ordneten wir Marian im semantischen Bereich dem ersten Strang zu.

Im Bereich der Pragmatik einigten wir uns darauf, dass er eher dem ersten Strang zuzuordnen sei. Pragmatik bezieht sich auf die soziale Funktion von Äußerungen, die Funktion also, die...

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