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E-Book

Kinder stärken in Sprache(n) und Kommunikation

AutorCharlotte Röhner, Marianne Wiedenmann
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl178 Seiten
ISBN9783170242739
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Das Buch wendet sich in seiner interdisziplinären Ausrichtung an alle Berufsgruppen, die im früh- und grundschulpädagogischen Bereich mit Kindern interagieren und kommunizieren, sie begleiten und fördern, sowie an Eltern und weitere Interessenten. Dem Charakter eines kompakten Lehrbuchs entsprechend werden folgende Schwerpunktthemen erörtert: Sprachliche Diversität im Einwanderungskontext, Aufwachsen in mehreren Sprachen mit Fallbeispielen, bilingualer und biliteraler Spracherwerb, Meilensteine und Störungen der Sprachentwicklung, Sprachdiagnostik, Modelle mehrsprachiger Erziehung und Schulentwicklung, Sprachbildung und alltagsintegrierte Förderung in der Tagespflege, Krippe, Kindertagesstätte und Grundschule.

Dr. Charlotte Röhner war Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit und der Primarstufe an der Bergischen Universität in Wuppertal. Dr. Marianne Wiedenmann ist Lehrbeauftragte am Institut für Pädagogik der Sekundarstufe an der Goethe-Universität Frankfurt.

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Leseprobe

 

 

 

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Aufwachsen in mehreren Sprachen: Fallbeispiele sprachlicher Heterogenität


 

Kinder mit mehr als einer Sprache sind in vielen Kindertagesstätten und Grundschulen die Regel. Die folgenden Sprachbiographien von Ebru, Alessia und Vladimir, die bei Küpelikilinc und Özbölük (2016, S. 12 ff.) zu finden sind und die wir in gekürzter Fassung wiedergeben, vermitteln einen anschaulichen Einblick in die sprachliche Welt und die individuelle Vielfalt mehrsprachiger Kinder:

Ebru (9 Jahre)

•  Eine Schwester im Alter von fünf Jahren

•  Vater in Deutschland aufgewachsener Türke, Fabrikarbeiter

•  Mutter: Aufgrund der Eheschließung nach Deutschland eingewanderte Türkin mit türkischem Realschulabschluss, aktuell in Weiterbildung

Die sprachliche Welt von Ebru

Die ersten Jahre haben beide Eltern mit Ebru ausschließlich Türkisch gesprochen. Die Mutter besuchte einen Deutschkurs, und Ebru war vom ersten bis zum dritten Lebensjahr dreimal pro Woche in der Kinderbetreuung und begann dort bereits die ersten deutschen Wörter zu sprechen. Nach ca. einem Jahr im Kindergarten merkten die Eltern, dass sie zunehmend unbeabsichtigt Deutsch mit Ebru sprachen und beschlossen, zu Hause konsequent auf das Türkischsprechen zu achten; der Vater aber spricht seitdem außer Haus fast immer Deutsch mit Ebru. Weiter gibt es zu Hause die Vereinbarung, dass bei den Hausaufgaben nur Deutsch gesprochen wird. Seit einem Jahr besucht die Mutter eine berufliche Weiterbildung; um ihr mit der deutschen Sprache zu helfen, hat sie die Familie gebeten, beim Abendessen deutsch zu sprechen.

Ebrus Mutter hat ihr auf Türkisch oft vorgelesen. Durch den Kindergarten entstand der Kontakt zur Stadtbücherei und seitdem liest der Vater den beiden Schwestern auf Deutsch vor, was allerdings aufgrund seiner Schichtarbeit nicht immer möglich ist.

Seit einigen Jahren merken die Eltern, dass die beiden Schwestern immer Deutsch miteinander sprechen, egal wie oft die Eltern sie anregen, zu Hause Türkisch zu sprechen.

In der Schule gibt es keinen Türkisch-Unterricht, was die Eltern sehr bedauern.

Türkisch sehr gut, Deutsch sehr gut, neuen Sprachen gegenüber ist Ebru sehr neugierig und aufgeschlossen. Sie merkt sich gerne Aussagen ihrer Freundinnen in deren Erstsprache und ›Vokabeln‹, die sie hier und dort aufschnappt, wie z. B. die Farben auf Englisch. Sie spielt zudem gerne mit ihren Sprachen, so erfindet sie sprachübergreifende Reime wie beispielsweise Viereck-Kelebek (Schmetterling). Sie liest gerne in beiden Sprachen, schreibt aber lieber in Deutsch.

Das Fallbeispiel Ebrus repräsentiert Reich (2008) folgend den Normalfall einer sukzessiv bilingualen Erziehung von Kindern aus Migrationsfamilien, bei der die Erstsprache zunächst dominant ist und die später innerfamilial zunehmend auf den Erwerb der Zweitsprache ausgerichtet wird. In Ebrus Familie ist in den Sprachpraxen auch jene Sprachbewusstheit zu beobachten, die zu einer balancierten Zweisprachigkeit auf hohem Niveau führt, wie sie bei Ebru zu finden ist. Ebru zeigt die von Reich analysierte extrovertierte sprachlich-produktive Grundhaltung, die den Erwerb einer ausgewogenen Zweisprachigkeit auf hohem Niveau begünstigt (ebd., S. 256). Sie gehört auch zu den Einzelfällen von Kindern, die in der Entwicklung der Erstsprache nicht stagnieren oder retardieren. Gleichwohl ist zu vermuten, dass die türkische Schrift- und Hochsprache nicht erworben wird und das sprachliche Kompetenzniveau im Türkischen alltagssprachlich ausgerichtet ist. Im Türkischen wird kein hoch- und bildungssprachliches Niveau erreicht werden können, da kein Unterricht in der Herkunftssprache erteilt wird.

Im folgenden Fallbeispiel Alessias wird ein Kind vorgestellt, das in einer bildungsnahen, mehrsprachigen Familie mit gehobenem Sozialstatus aufwächst (Küpelikilinc & Özbölük, 2016, S. 13):

Alessia (9 Jahre)

•  Einzelkind

•  Vater: In Deutschland aufgewachsener Italiener, Ingenieur

•  Mutter: In Deutschland aufgewachsene Türkin, Juristin

Die sprachliche Welt von Alessia

Als Alessia selbst zu sprechen begann, hat ihre Mutter mit ihr hauptsächlich Türkisch gesprochen. Nur in Anwesenheit des Vaters, der das Türkische nicht versteht, sprach die Mutter Deutsch mit ihr. Ihr Vater seinerseits hat mit ihr hauptsächlich Deutsch, aber auch hin und wieder Italienisch gesprochen. Als Alessia selbst anfing zu sprechen, waren viele der Wörter, die sie sprach, türkisch, so dass der Vater, der nun nicht verstand, was sein Kind sprach, sehr verunsichert war. Er beriet sich mit dem Kinderarzt, der ihm irrtümlicherweise sagte, drei Sprachen seien zu viel für ein Kind. Auch wenn die Mutter weiterhin den Wunsch hegte, ihr Kind mehrsprachig zu erziehen, hatte sie Verständnis für die Position ihres Mannes und sprach von nun an nur Deutsch mit Alessia. Die Vermittlung der türkischen Sprache schob sie vorerst auf. Als Alessia ca. drei Jahre alt und im Spracherwerb weit vorangeschritten war, begann die Mutter wieder vermehrt in Abwesenheit des Vaters Türkisch zu sprechen.

Sprachliche Kenntnisse von Alessia

Deutsch sehr gut, Italienisch und Türkisch versteht sie, formuliert selbst aber keine Sätze in den jeweiligen Sprachen. Formelhafte Äußerungen wie z. B. Danke, Bitte, Guten Tag kann sie in Türkisch zwar besser, aber auch in Italienisch äußern. Mit ihren Großeltern, die zwar auch in Deutschland wohnen, kann sie sich nur auf Deutsch unterhalten. Im Deutschen ist sie sehr sprachgewandt und verfügt über einen großen Wortschatz.

In Alessia wird ein mehrsprachiges Kind portraitiert, das potentiell dreisprachig aufwächst und im Ergebnis den Fall einer unbalancierten Mehrsprachigkeit mit Dominanz des Deutschen repräsentiert (Müller et al., 2013), das der ambivalenten bis widersprüchlichen Haltung der Eltern gegenüber einer mehrsprachigen Erziehung geschuldet ist. Eine balancierte Zweisprachigkeit, die Alessia vermutlich in zwei der drei Sprachen ihrer Familie hätte erreichen können, wurde nicht erzielt; insofern wurde das sprachliche Potential der mehrsprachigen Familie, die auch aufgrund ihres Bildungsstatus eine explizites sprachförderliches Milieu bietet, nicht ausgeschöpft und die sprachlichen Ressourcen nicht genutzt. Inwieweit eine dreisprachige Entwicklung möglich gewesen wäre, muss offen bleiben. Obwohl man aufgrund der allgemeinen wie der linguistischen Vorteile früher Mehrsprachigkeit davon ausgehen kann, dass dies erfolgreich und möglich ist, muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass eine linguistische Grundlagenforschung zu trilingualen Erwerbsprozessen noch in den Anfängen steht und insofern nur hypothetische Annahmen zu solchen mehrsprachigen Entwicklungsverläufen möglich sind.

In der Sprachbiografie Vladimirs wird ein Kind portraitiert, das in einer Aussiedlerfamilie aufwächst, die bei ihrer Immigration nach Deutschland selbst nicht über die deutsche Sprache verfügte und in der Person des Vaters bis heute noch nicht ausreichend verfügt. Zu welchen sprachlichen Dilemmata und Problemen dies in den Sprachpraxen und in der sprachlichen Erziehung der Familie führte, ist in der Falldarstellung eindrücklich dokumentiert (Küpelikilinc & Özbölük, 2016, S. 16):

Vladimir (9 Jahre)

•  Ein vier Jahre älterer Bruder

•  Mutter: Spätaussiedlerin, in Kasachstan geboren, Muttersprache Russisch, Kassiererin in einem Supermarkt

•  Vater: Kasache, seine Familie lebt noch in Kasachstan, Muttersprache Russisch, zur Zeit arbeitslos

•  Eltern der Mutter sprechen muttersprachlich Deutsch mit Dialektfärbung und leben in Deutschland

Die sprachliche Welt von Vlamimir

Vladimirs Eltern sind ohne Deutschkenntnisse vor 13 Jahren auf Wunsch der Mutter nach Deutschland gekommen. Vladimirs Mutter hat einen leichteren Zugang zur deutschen Sprache. In ihrer Heimat waren beide Eltern berufstätig. Seit dem Umzug nach Deutschland ist der Vater arbeitssuchend. Die Mutter hat mittlerweile eine feste Anstellung als Kassiererin in einem Supermarkt. Vladimirs Mutter hatte in den ersten Jahren große Sorgen, als Ausländerin negativ aufzufallen. Damit ihre Kinder es leichter haben, hat sie mit dem älteren Bruder von Vladimir nur Deutsch gesprochen und auch den Vater dazu aufgefordert. Der Vater macht sich Sorgen, dass die Kinder ihren Kontakt zu seiner Verwandtschaft in Kasachstan verlieren, wenn sie ihr Russisch nicht pflegen. Gleichzeitig fühlt er sich nicht authentisch, auf Deutsch, also in einer Sprache mit...

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