Im Kontext von Kinderarmut und Bildungsperspektiven spielt das Konzept der Chancengleichheit eine zentrale Rolle. Auf der Basis der Menschenrechte definiert der Begriff Chancengleichheit das Recht auf die Verteilung von Lebenschancen unabhängig von „Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“[55]. Es geht hier also darum, allen Menschen gleiche Voraussetzungen für die Entfaltung ihrer Talente und Fähigkeiten, letztlich ihres Strebens nach Glück und Erfolg, zu schaffen.[56]
Das Konzept der Chancengleichheit unterscheidet sich dabei im grundsätzlichen Verständnis vom Ansatz der Chancengerechtigkeit. Während Chancengleichheit auf die Nivellierung ungleicher Ausgangsbedingungen abhebt, bezieht sich Chancengerechtigkeit vielmehr auf die Leistungsfähigkeit von Menschen. In diesem zweiten Verständnis dürfen auch größere Leistungsfähigkeiten, die aus einer besseren sozio-ökonomischen Stellung resultieren, nicht dazu führen, dass der Entwicklung und Entfaltung der betroffenen Menschen weniger Ressourcen gewidmet werden als sozial benachteiligten. Menschen unterschiedlicher Herkunft sollten danach bei gleicher Leistung die gleichen Chancen auf das erreichen ihrer Ziele erfahren. Unterschiedliche Leistungsfähigkeiten rechtfertigen demnach unterschiedliche Lebens-perspektiven.[57]
Beide Ansätze verkörpern also Werte und können sogar als Gesellschaftskonzepte betrachtet werden.[58] Etwas zugespitzt geht es um die Entscheidung zwischen dem Wert Gleichheit und dem Wert Leistung.
In Übereinstimmung mit Vertretern einer kritischen Sozial- und Erziehungswissenschaft[59] und entgegen mancherorts in der aktuellen politischen Diskussion vertretener Positionen[60] werden hier im Weiteren die schulischen Erfolgsaussichten armer Kinder nach dem Konzept der Chancengleichheit beleuchtet und analysiert. Grundlage dieses Entschlusses ist zunächst die Überzeugung, dass Menschen aus unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft gleiche Fähigkeiten entwickeln können. Außerdem spielt das Wissen um die besondere Betroffenheit einer zunehmend größeren Zahl von Kindern eine wichtige Rolle. Letztendlich geht es jedoch auch an dieser Stelle um die oben genannte Wertentscheidung, die nach umfassenden Studien zum Thema hier nur zu Gunsten eines Ansatzes der Chancengleichheit ausfallen kann.
Neben der Gleichbehandlung im Beruf findet das allgemeine Konzept der Chancengleichheit auch konkrete Anwendung in den Bereichen Bildung und Ausbildung. Die Idee gleicher Bildungschancen unabhängig von der sozialen Herkunft geht dabei mindestens auf Comenius zurück. Bereits im 17. Jahrhundert verstand der Bischof und Didaktiker Chancengleichheit gemäß dem Anspruch, „alle Menschen alles zu lehren“[61]
Die moderne wissenschaftliche Kontroverse ist eng mit den Arbeiten Bourdieus und Passerons verbunden. Mitte der 1960er Jahre stellten sie in ihrem Werk Die Illusion der Chancengleichheit fest, dass das fortwährende Modell der sozialen Ungleichheit weitestgehend über die Bildung realisiert und verfestigt wird:[62]
„In ihrer Studie über das französische Bildungswesen haben die beiden aufgezeigt, dass schulische Bildung im Sinne der Konkretion des (chancengleichen) Rechtes auf Bildung eine 'Illusion' ist.“[63]
Mit Dahrendorfs Sinnbild des katholischen Arbeitermädchens vom Lande wurden zu dieser Zeit vier Faktoren als mögliche Hemmnisse einer Chancengleichheit im Bildungswesen erfasst: Regionales Umfeld, Geschlecht, sozialer Status und Konfession. Während regionale Disparitäten im o.g. Sinn ebenso an Bedeutung verloren haben wie die religiöse Zugehörigkeit und das Geschlecht, ist die negative Wirkung des sozialen Status' auf die schulischen Erfolgsaussichten nach wie vor von entscheidender Relevanz – ergänzt durch den Faktor der ethnischen Herkunft.[64]
Als zentrales Kriterium der Chancengleichheit im Bildungswesen wird die ausschließliche Beurteilung anhand des Kriteriums Leistung vor dem Hintergrund gleicher Ausgangsbedingungen angesehen. Chancengleichheit wäre demnach gegeben,
„wenn allen unabhängig von leistungsfremden Merkmalen (wie z.B. von Bildung, Prestige und Geld der Eltern, von Geschlecht, Wohnort, „Beziehungen“, Religion, Hautfarbe, politischer Einstellung, persönlicher Bekanntschaft oder Familienzugehörigkeit) die gleiche Chance zu Leistungsentfaltung und Leistungsbestätigung eingeräumt wird.“[65]
Ausgehend von der Annahme, dass sich in allen sozialen Gruppen das gleiche Potenzial wecken lässt, ist das Konzept der Chancengleichheit also nicht darauf ausgerichtet, allen den gleichen Bildungsgrad oder Beruf zu verschaffen, sondern es geht vielmehr darum, entsprechende Privilegien auf der Basis sozio-ökonomischen Status' abzubauen.[66] Im Sinne der Chancengleichheit ist es also eine gesellschaftliche Aufgabe, ungleichen Voraussetzungen entgegenzuwirken:
„Daraus folgt die Konsequenz, daß für unterprivilegierte Kinder höhere Aufwendungen gemacht werden müssen.“[67]
Angesichts der Schwierigkeit, das Phänomen Leistung in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext vergleichend zu erfassen, wird Chancengleichheit allerdings nicht auf der Ebene individueller Leistungen überprüft, sondern „formal als Fehlen von bestimmten, unerwünschten, da leistungsfremden Einflüssen auf die Bildungserfolge“[68] gefasst. Der Grad der Chancengleichheit wird also anhand der Anteile der betreffenden Gruppen an den schulischen Abschlüssen im Verhältnis zum gesellschaftlichen Querschnitt gemessen.
In den vergangenen Jahren wurde dem Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischen Erfolgsaussichten in Deutschland verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Insbesondere die Ergebnisse der PISA-Studie und der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), welche deutschen Bildungseinrichtungen im internationalen Vergleich eine außerordentliche Selektivität entlang sozialer Kriterien bescheinigen, stießen die öffentliche Diskussion an.
Neben den Erkenntnissen dieser internationalen Leistungserhebungen werden im Folgenden die Ergebnisse zweier Studien analysiert, deren Ansatz einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Kindheitsforschung offenbart. Sowohl die vom Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt (AWO) erstellten Untersuchungen zur Kinderarmut als auch die World Vision Kinderstudie erfassen Kinder als eigenständige Akteure in ihrem sozialen Umfeld. In diesem Sinne spielen ihre eigenen Auskünfte eine zentrale Rolle für die wissenschaftliche Untersuchung ihrer Lebens-umstände.[69]
Eine zentrale Gemeinsamkeit weisen die Ergebnisse aller genannten Studien auf. Zusätzlich zum entscheidenden Kriterium Armut offenbarten sich eklatant schlechtere Chancen für Schülerinnen und Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Wer beide Merkmale aufweist, wird besonders benachteiligt: Arme Kinder mit einer anderen Nationalität als der deutschen „sind von realer Bildungsgerechtigkeit weitgehend ausgeschlossen.“[70]
Der unmittelbare Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen ist eine zentrale Aussage der PISA-Studie.[71] Deutschland gehört nach den für die Jahre 2000, 2003 und 2006 erhobenen Daten zu den Ländern unter den teilnehmenden OECD-Staaten zzgl. Brasilien, Lettland, Liechtenstein und Russland, die in dieser Hinsicht am schlechtesten abschnitten. Für den ersten Zyklus der dreijährig wiederkehrenden Untersuchungen, zeigt sich dementsprechend folgendes Bild:[72]
Abbildung 4: Unterschiede zwischen der mittleren Lesekompetenz von 15-Jährigen aus Familien des oberen und unteren Viertels der Sozialstruktur
Quelle: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB): PISA 2000: Die Studie im Überblick 2002, S. 12
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