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Kinderarmut und Chancengleichheit - Ansätze für den Grundschulalltag

AutorStephanie Wazinski
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl93 Seiten
ISBN9783640934195
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis36,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Pädagogik - Schulpädagogik, Note: 1,0, Universität Osnabrück (Erziehungswissenschaften), Sprache: Deutsch, Abstract: Ziel der Arbeit soll es sein, zu untersuchen, welchen Einfluss Armut auf die schulischen Erfolgsaussichten der betroffenen Kinder hat, und welche Möglichkeiten sich im Grundschulalltag bieten, dem entgegenzuwirken. In Kapitel 2 und 3 sollen die Voraussetzungen und Grundlagen der Problematik erfasst werden. Zunächst werden dazu der Begriff Armut definiert sowie Fakten und Entwicklungen der letzten Jahre diskutiert. Welchen Armutsrisiken sind Kinder in der Bundesrepublik Deutschland ausgesetzt? Wie lässt sich das Phänomen Kinderarmut adäquat erfassen? Sodann steht in Kapitel 3 das Konzept der Chancengleichheit im Fokus. Wie lässt sich Chancengleichheit erfassen? Welche Bedeutung hat das Konzept für die Grundschule? Ausgehend von der Erkenntnis, dass es sich in diesem Zusammenhang eher um eine Chancenungleichheit handelt, soll aufgezeigt werden, wie das Thema im wissenschaftlichen Diskurs erscheint. Welche Positionen und Ansätze werden vertreten? Kapitel 4 widmet sich den konkreten Deprivationen armer Kinder im Grundschulalter. Welche Nachteile hinsichtlich der Entfaltung ihrer Fähigkeiten ergeben sich für Kinder aus benachteiligten Familien gegenüber ihren wohlhabenden Mitschülerinnen und Mitschülern? Wie gelingt es Kindern, mit der Armutssituation umzugehen? Wie reagiert die Institution Schule auf diese Wettbewerbsnachteile? Wie verhalten sich Lehrerinnen und Lehrer gegenüber benachteiligten Kindern? Im fünften Kapitel sollen Handlungsoptionen für die Grundschule im Mittelpunkt stehen. Welche Möglichkeiten tun sich auf bzw. welche Maßnahmen sollten zum Wohl der Kinder aus benachteiligten Familien ergriffen werden?

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Leseprobe

 3 Chancengleichheit


 

Im Kontext von Kinderarmut und Bildungsperspektiven spielt das Konzept der Chancengleichheit eine zentra­le Rolle. Auf der Basis der Menschenrechte definiert der Begriff Chancengleichheit das Recht auf die Verteilung von Lebenschancen unabhängig von „Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“[55]. Es geht hier also darum, allen Menschen gleiche Voraussetzungen für die Entfaltung ihrer Talente und Fähigkeiten, letztlich ihres Strebens nach Glück und Erfolg, zu schaffen.[56]

 

 3.1 Chancengleichheit vs. Chancen- gerechtigkeit


 

Das Konzept der Chancengleichheit unterscheidet sich dabei im grundsätzlichen Verständnis vom Ansatz der Chancengerechtigkeit. Während Chancengleichheit auf die Nivellierung ungleicher Ausgangsbedingungen ab­hebt, bezieht sich Chancengerechtigkeit vielmehr auf die Leistungsfähigkeit von Menschen. In diesem zweiten Verständnis dürfen auch größere Leistungs­fähigkeiten, die aus einer besseren sozio-ökono­mischen Stellung resultieren, nicht dazu führen, dass der Entwicklung und Entfaltung der betroffenen Menschen weniger Ressourcen gewidmet werden als sozial benachteiligten. Menschen unterschiedlicher Herkunft sollten danach bei gleicher Leistung die gleichen Chancen auf das erreichen ihrer Ziele erfahren. Unterschiedliche Leistungsfähigkeiten rechtfertigen demnach unterschiedliche Lebens-perspektiven.[57]

 

Beide Ansätze verkörpern also Werte und können sogar als Gesellschaftskonzepte betrachtet werden.[58] Etwas zugespitzt geht es um die Entscheidung zwischen dem Wert Gleichheit und dem Wert Leistung.

 

In Übereinstimmung mit Vertretern einer kritischen Sozial- und Erziehungswissenschaft[59] und entgegen mancherorts in der aktuellen politischen Diskussion vertretener Positionen[60] werden hier im Weiteren die schulischen Erfolgsaussichten armer Kinder nach dem Konzept der Chancengleichheit beleuchtet und analy­siert. Grundlage dieses Entschlusses ist zunächst die Überzeugung, dass Menschen aus unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft gleiche Fähigkeiten entwi­ckeln können. Außerdem spielt das Wissen um die besondere Betroffenheit einer zunehmend größeren Zahl von Kindern eine wichtige Rolle. Letztendlich geht es jedoch auch an dieser Stelle um die oben genannte Wertentscheidung, die nach umfassenden Studien zum Thema hier nur zu Gunsten eines Ansatzes der Chancengleichheit ausfallen kann.

 

 3.2 Chancengleichheit in der Schule


 

Neben der Gleichbehandlung im Beruf findet das allge­meine Konzept der Chancengleichheit auch konkrete Anwendung in den Bereichen Bildung und Ausbildung. Die Idee gleicher Bildungschancen unabhängig von der sozialen Herkunft geht dabei mindestens auf Comenius zurück. Bereits im 17. Jahrhundert verstand der Bischof und Didaktiker Chancengleichheit gemäß dem Anspruch, „alle Menschen alles zu lehren“[61]

 

Die moderne wissenschaftliche Kontroverse ist eng mit den Arbeiten Bourdieus und Passerons verbunden. Mitte der 1960er Jahre stellten sie in ihrem Werk Die Illusion der Chancengleichheit fest, dass das fort­währende Modell der sozialen Ungleichheit weitest­gehend über die Bildung realisiert und verfestigt wird:[62]

 

„In ihrer Studie über das französische Bildungswesen haben die beiden aufgezeigt, dass schulische Bildung im Sinne der Konkre­tion des (chancengleichen) Rechtes auf Bil­dung eine 'Illusion' ist.“[63]

 

Mit Dahrendorfs Sinnbild des katholischen Arbeiter­mädchens vom Lande wurden zu dieser Zeit vier Fakto­ren als mögliche Hemmnisse einer Chancengleichheit im Bildungswesen erfasst: Regionales Umfeld, Geschlecht, sozialer Status und Konfession. Während regionale Disparitäten im o.g. Sinn ebenso an Bedeutung verloren haben wie die religiöse Zugehörigkeit und das Geschlecht, ist die negative Wirkung des sozialen Status' auf die schulischen Erfolgsaussichten nach wie vor von entscheidender Relevanz – ergänzt durch den Faktor der ethnischen Herkunft.[64]

 

Als zentrales Kriterium der Chancengleichheit im Bildungswesen wird die ausschließliche Beurteilung anhand des Kriteriums Leistung vor dem Hintergrund gleicher Ausgangsbedingungen angesehen. Chancen­gleichheit wäre demnach gegeben,

 

„wenn allen unabhängig von leistungsfremden Merkmalen (wie z.B. von Bildung, Prestige und Geld der Eltern, von Geschlecht, Wohnort, „Beziehungen“, Religion, Hautfarbe, politi­scher Einstellung, persönlicher Bekanntschaft oder Familienzugehörigkeit) die gleiche Chance zu Leistungsentfaltung und Leistungs­bestätigung eingeräumt wird.“[65]

 

Ausgehend von der Annahme, dass sich in allen sozialen Gruppen das gleiche Potenzial wecken lässt, ist das Konzept der Chancengleichheit also nicht darauf ausgerichtet, allen den gleichen Bildungsgrad oder Beruf zu verschaffen, sondern es geht vielmehr darum, entsprechende Privilegien auf der Basis sozio-ökonomischen Status' abzubauen.[66] Im Sinne der Chan­cengleichheit ist es also eine gesellschaftliche Aufgabe, ungleichen Voraussetzungen entgegenzuwirken:

 

„Daraus folgt die Konsequenz, daß für unterprivilegierte Kinder höhere Aufwendungen gemacht werden müssen.“[67]

 

Angesichts der Schwierigkeit, das Phänomen Leistung in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext verglei­chend zu erfassen, wird Chancengleichheit allerdings nicht auf der Ebene individueller Leistungen über­prüft, sondern „formal als Fehlen von bestimmten, unerwünschten, da leistungsfremden Einflüssen auf die Bildungserfolge“[68] gefasst. Der Grad der Chancen­gleichheit wird also anhand der Anteile der betref­fenden Gruppen an den schulischen Abschlüssen im Verhältnis zum gesellschaftlichen Querschnitt gemes­sen.

 

 3.3 Ergebnisse aktueller Bildungs- berichte


 

In den vergangenen Jahren wurde dem Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischen Erfolgs­aussichten in Deutschland verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Insbesondere die Ergebnisse der PISA-Studie und der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), welche deutschen Bildungseinrichtungen im internationalen Vergleich eine außerordentliche Se­lektivität entlang sozialer Kriterien bescheinigen, stießen die öffentliche Diskussion an.

 

Neben den Erkenntnissen dieser internationalen Leis­tungserhebungen werden im Folgenden die Ergebnisse zweier Studien analysiert, deren Ansatz einen grund­sätzlichen Paradigmenwechsel in der Kindheits­forschung offenbart. Sowohl die vom Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt (AWO) erstellten Untersuchungen zur Kinderarmut als auch die World Vision Kinderstudie erfassen Kinder als eigenständige Akteure in ihrem sozialen Umfeld. In diesem Sinne spielen ihre eigenen Auskünfte eine zentrale Rolle für die wissenschaftliche Untersuchung ihrer Lebens-umstände.[69]

 

Eine zentrale Gemeinsamkeit weisen die Ergebnisse aller genannten Studien auf. Zusätzlich zum entschei­denden Kriterium Armut offenbarten sich eklatant schlechtere Chancen für Schülerinnen und Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Wer beide Merkmale aufweist, wird besonders benachteiligt: Arme Kinder mit einer anderen Nationalität als der deutschen „sind von realer Bildungsgerechtigkeit weitgehend ausgeschlossen.“[70]

 

 3.3.1 Ergebnisse der PISA-Studie


 

Der unmittelbare Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen ist eine zentrale Aus­sage der PISA-Studie.[71] Deutschland gehört nach den für die Jahre 2000, 2003 und 2006 erhobenen Daten zu den Ländern unter den teilnehmenden OECD-Staaten zzgl. Brasilien, Lettland, Liechtenstein und Russ­land, die in dieser Hinsicht am schlechtesten ab­schnitten. Für den ersten Zyklus der dreijährig wiederkehrenden Untersuchungen, zeigt sich dementsprechend folgendes Bild:[72]

 

Abbildung 4: Unterschiede zwischen der mittleren Lesekompetenz von 15-Jährigen aus Familien des oberen und unteren Viertels der Sozialstruktur

 

 

Quelle: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB): PISA 2000: Die Studie im Überblick 2002, S. 12

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