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Können wir der Geschichte entkommen?

Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts

VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl324 Seiten
ISBN9783593421056
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Es glaubt niemand mehr an das Ende der Geschichte und zugleich haben die großen Entwürfe des 19. Jahrhunderts ihre Orientierungskraft verloren. Die Autoren antworten auf die Probleme, vor die sich die Geschichtsphilosophie heute gestellt sieht: Was können Aufklärung und Befreiung noch bedeuten? Wie erfolgt die Loslösung von den Zwängen der Gegenwart und geschichtlicher Entwicklungen? Welche Aufgaben stellt uns die Vergangenheit und was heißt es, diese anzunehmen?

Christian Schmidt, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Leipzig und Chercheur associé am Centre Marc Bloch Berlin.

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Leseprobe
Können wir der Geschichte entkommen?


Ein einführender Überblick zur Fragestellung


Christian Schmidt



1 'Geschichte'


'Die grauenvollen Ereignisse vom 11.?September sowie die Kriege im Irak und Afghanistan führen dramatisch vor Augen, dass die Menschen der Geschichte nicht zu entkommen vermögen.' Mit diesen Worten leitet Johannes Rohbeck seinen jüngst vorgelegten Versuch einer Aktualisierung der Geschichtsphilosophie ein. Die verneinende Antwort auf die diesem Band zugrunde liegende Fragestellung beruht dabei nicht allein auf Rohbecks Zurückweisung der These, dass der Kapitalismus samt seiner bürgerlich-demokratischen Grundordnung der Endpunkt der Geschichte sei, eine These, die nach dem Ende des Sozialismus Prominenz erlangt hatte und heute weitgehend als absurde Einschätzung abgetan wird.


Wer das Ende der Geschichte für eine absurde Vorstellung hält, sieht sich nämlich - wie Rohbeck - zwangsläufig mit der Frage konfrontiert, was das denn für eine Geschichte sei, die ihren Abschluss mit dem Niedergang des sozialistischen Staatenblocks nicht gefunden habe. Im Rückgriff auf die Geschichtsphilosophie der Aufklärung und des 19.?Jahrhunderts will Rohbeck die Konzeption der Geschichte rehabilitieren, die in dieser ein Fortschrittsgeschehen erkennt, und sieht als Alternative bloß die Kontingenz der Geschehnisse, mit der die Posthistoire auf den Standpunkt eines vormodernen Geschichtsverständnisses zurückfällt, demzufolge jede menschliche Anstrengung einem sie letztlich zerstörenden Spiel willkürlicher Kräfte ausgesetzt ist.


Gegen die Auslieferung an den Zufall setzt Rohbeck mit den Geschichtsphilosophien des 19.?Jahrhunderts ein Bild der Geschichte, in dem die Menschen, die Verhältnisse, in denen sie leben, selbst gestalten und in diesem Sinne Autonomie verwirklichen können.


'Wenn es zutrifft, dass die Menschen unter bestimmten Bedingungen ihre Geschichte ?machen?, sind es in erster Linie langfristig wirksame Handlungen, die historische Zeiten konstituieren. Gleichzeitig werden derartige Handlungen auf historiographische und geschichtsphilosophische Weise gedeutet, indem man sie in größere historische Prozesse einordnet und daraus Schlüsse über regionale und globale Verläufe von Geschichten oder auch der Geschichte im Ganzen zieht.'


Was hier aktualisiert wird, ist eine Verbindung von Vergangenheitsbeziehung und Zukunftserwartung, die ihre Verknüpfung in gegenwärtigen Handlungen finden. In der Gegenwart gelingt es, sich vom Bisherigen zu lösen, indem handelnd Entwicklungen hin zu einer vorweggenommenen Zukunft befördert werden. Diese Handlungen sind dabei an die Erkenntnisse über ihr Veränderungspotenzial gebunden. Sie sollen Möglichkeiten ergreifen, die als tatsächlich bestehend erkannt wurden.


Das Befreiende eines solchen Bildes der Geschichte und des sie machenden Subjekts erschließt sich, wenn die Konfrontationen in den europäischen Gesellschaften des 18.?Jahrhunderts betrachtet werden. Hier standen unverbrüchliche Traditionen dem Wunsch nach Veränderung im Wege. Die Selbstverortung in einer Geschichte samt des sich daraus ergebenden Blicks in eine Zukunft, die sich weiterentwickelt und nicht bloß die althergebrachten Privilegien allein aufgrund ihres schieren Alters als gültig akzeptiert und so erneuert, eröffnete der Aufklärung wie der Befreiung überhaupt erst eine Perspektive.


Doch bereits am Beginn des 20.?Jahrhunderts veränderte sich die Problemlage. Seitdem steht nicht mehr die Frage im Vordergrund, wie überkommene Traditionen überwunden werden können, sondern wie sich eine bereits bestehende Dynamik unterbrechen lässt. Die Fortschrittskritik in Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte ist die bis heute wirkungsvollste Formulierung dieses neuen Problembewusstseins. Sie gipfelt - den marxschen Spruch von den Revolutionen als Lokomotiven der Weltgeschichte aufnehmend und so den Kontrast zum 19.?Jahrhundert herstellend - in dem berühmten Bild vom 'Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse'. Und dieses Bild hat an Prägnanz noch gewonnen, seit verlassene Schienenstränge als Symbol von Modernität und Verhängnis zugleich fest in die Ikonographie der Schoah integriert wurden. Für Benjamin gilt es nicht, sich aus dem erstarrten Griff der Vergangenheit zu befreien, sondern, dass es so weitergeht, ist für ihn die Katastrophe.


Das dergestalt motivierte Projekt einer Unterbrechung geschichtlicher Dynamik bleibt dabei einerseits mit der geschichtsphilosophischen Vision der handelnden Aneignung, des 'Machens' des Geschehens verbunden. Zugleich eröffnet es andererseits auch einen ersten relevanten Sinn, in dem es darum gehen kann, der Geschichte zu entkommen. Entkommen sollen wir jener Geschichte, die ganz so verstanden wird, wie sie im 19.?Jahrhundert entworfen wurde: als Mischung aus Projekt und Projektion, Projekt der Emanzipation von den Zwängen der Vergangenheit und Projektion jener Dynamiken in die Zukunft, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart führten und nun als Entwicklungsgesetze interpretiert werden.


Aus diesem fortschrittskritischen Befund Benjamins zieht Nikolas Kompridis den Schluss, dass sich utopische Energien, die im Zuge des Hoffnungen enttäuschenden realen Fortschritts erschöpft wurden, nur durch eine neue Beziehung zur Vergangenheit erneuern lassen. Statt die Vergangenheit bloß als einen Zusammenhang von Traditionen zu sehen, die Herrschaft- und Privilegien stützen, gelte es vor allem, kulturelle Möglichkeiten zu bewahren und, wo sie durch die vergangenen Entwicklungen versiegelt wurden, neu zu erschließen.


Die Geschichte wird so aus einem Gegenstand, an dem sich die Dynamiken von Entwicklungen studieren lassen, um auf die Zukunft gerichtete Handlungen an den so gewonnenen Erkenntnissen auszurichten, zu einem Speicher an kulturellen Möglichkeiten, denen unser gegenwärtiges Handeln gerecht werden soll, indem es sie wiederbelebt oder sie zumindest als Möglichkeiten erhält.


Die Geschichtswissenschaft ist einer geschichtsphilosophischen Position, wie sie Kompridis vertritt, nicht gleichgültig. Sie bevorzugt Forschungen, die ihr eigenes Programm der Erschließung und Aktualisierung von kulturellen Möglichkeiten befördern können, denn sie betrachtet die Erforschung der Geschichte vor allem als Quelle von Einsichten in verschüttete Möglichkeiten, an deren Aktualisierung sich versucht werden kann. Statt der Geschichtsschreibung Ergebnisse und Methoden vorzuschreiben, wie das - wenn auch häufig nicht zu Recht - den großen geschichtsphilosophischen Entwürfen des 19.?Jahrhunderts vorgeworfen wird, behält sie sich dabei vor allem die Interpretation und sogar die Entwendung des Gefundenen vor, das sie in die ihr eigenen Konstellationen einbinden will. Zurückgewiesen werden lediglich offene oder verdeckte geschichtsphilosophische Thesen, die wie die Fortschrittstheorien mit der Forschung verwoben sind und dem Programm des Erschließens und Bewahrens kultureller Möglichkeiten widersprechen.


Für die Fortschritts- oder Verfallstheorien und selbst für die bloße Kontingenz des historischen Geschehens scheint in der direkten Konfrontation mit Kompridis' Vorschlag zunächst zu sprechen, dass jede ergriffene Möglichkeit andere Möglichkeiten verwirft. Doch worum es Kompridis geht, ist nicht einfach die Wahl zwischen Möglichkeiten, sondern eine Wahl, die sich ihr Gedächtnis für die gegebenen Alternativen bewahren kann und es dann auch bewahrt. Eine solche Bewahrung von Weltzugängen im Medium der Kultur ist keine triviale Aufgabe und Benjamin ging davon aus, dass erst der befreiten Menschheit ihre Geschichte in diesem Sinne voll und ganz zur Verfügung stände.


Robert Schnepf will dagegen nicht auf den Zustand der Befreiung warten und konzentriert sich auf die Geschichte, wie sie uns heute bereits zur Verfügung steht und in ihrer gegenwärtigen Gestalt Möglichkeiten eröffnet, vor allem Möglichkeiten zur Überprüfung unseres Selbstverständnisses als Subjekte. Auch Schnepfs Sicht auf Geschichte kann dabei mit dem Bild des Speichers beschrieben werden. Doch im Gegensatz zu Kompridis betont Schnepf explizit die Unabhängigkeit der Geschichtswissenschaft, sowohl was deren Methoden betrifft, als auch bei der Bestimmung ihrer Erkenntnisziele. Das hängt damit zusammen, dass für Schnepf die Geschichte nicht Möglichkeiten, sondern Erfahrungen speichert, die benötigt werden, um Selbstbilder kritisch hinterfragen zu können. Fakten, Regularitäten und ihre unabhängige Sicherung bilden hier den Hintergrund, der zur nachhaltigen Verunsicherung und der erneuten Erkenntnis des Selbst nötig ist. In der Verunsicherung wird dabei vor allem die Chance gesehen, etwas über die eigenen Potenziale zu erfahren. Insofern ist auch diese Form der Selbstkritik und Selbstvergewisserung Möglichkeiten erschließend. Sie befördert Autonomie, indem sie die Grundlage des Handelns in den Subjekten und durch die Subjekte selbst zu klären hilft, was ganz im Sinne Spinozas als einzige Möglichkeit verstanden wird, die subjektive Macht zu steigern.


Das Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft wird dabei umgekehrt. Die Geschichtsphilosophie soll sich nicht der Resultate der Geschichtsschreibung bemächtigen, um sie in ihrem Sinne zu verwenden. Vielmehr soll sie Begriffe und verschiedene Interpretationsansätze für die wissenschaftliche, das heißt methodisch vom Erkenntnisziel nicht prädeterminierte Erforschung der Geschichte bereitstellen und prüfen. Dabei tritt die von Menschen gemachte Geschichte gleichberechtigt neben strukturalistische Ansätze - um hier bloß die prominenteste Opposition zu nennen. Die Ergebnisse dieser geschichtsphilosophischen Reflexionen sollen sich unmittelbar in geschichtswissenschaftliches Arbeiten übersetzen lassen. Nur wenn das gelingt und die Geschichtsphilosophie zugleich den Bedingungen für ein Selbstverständnis standhält, das Kompetenzen bezüglich der Erkenntnis und der Formung des Selbst einschließt, kann sie überhaupt die Rolle spielen, die ihr von Schnepf zugedacht wird, und die Subjekte in ihrer Macht stärken, sodass sie weder ihrer Geschichte, noch den sie umgebenden oder den von ihnen verinnerlichten Strukturen einfach ausgeliefert sind.

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Können wir der Geschichte entkommen? Ein einführender Überblick zur Fragestellung8
I. Aufklärung – Befreiung20
Kritik, Zeit, Geschichte21
Notwendige Geschichte – Zur Debatte um »radikale Aufklärung«43
Hegels Theorie der Befreiung – Gesetz, Freiheit, Geschichte, Gesellschaft61
Negative Geschichtsphilosophie nach Adorno83
Kritik als Lebensform – Foucaults Studien zu Kant und revolutionärer Subjektivität107
II. Sich lösen132
Was ist als-ob? Die Rolle des Fiktiven in der Geschichte134
Die säkulare Fraglichkeit des Menschenim globalen Hochkapitalismus – Zur Philosophie der Geschichte in der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners151
III. Geschichtliche Aufgaben182
Der Historismus und das Ereignis184
Was ist eine geschichtliche Sequenz? Zur philosophischen Analyse von Prozessen der Veränderung220
Vom Herrenrecht, Geschichte zu geben – Von Nietzsche zu Rancière242
Geschichten, Geschichtswissenschaft und Selbstverständigungsprozesse268
Autorinnen und Autoren320
Personenregister322

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