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Kollektive Emotionen. Medienereignisse als Momente moderner Gemeinschaftsbildung

AutorYvonne Hagenbach
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl131 Seiten
ISBN9783668271784
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2011 im Fachbereich Medien / Kommunikation - Journalismus, Publizistik, Note: 1,5, Universität der Künste Berlin (Fachbereich Gestaltung), Sprache: Deutsch, Abstract: Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage nach dem Entstehen und dem Nutzen von kollektiven Emotionen anhand von Medienereignissen. Hierzu setze ich mich zunächst mit den kommunikationswissenschaftlichen Grundbegriffen, die mit diesem Phänomen im Zusammenhang stehen, auseinander (Individuum - Kollektiv - Masse) und arbeite den Stand der Forschung zu den Themenbereichen kollektive Emotionen und Medienereignisse heraus. Anschließend stelle ich drei Fallstudien zu den Medienereignissen Unfalltod von Diana Spencer, Attentat vom 11. September 2011 und Tsunami in Südostasien vor. Ich arbeite die Gemeinsamkeiten dieser Medienereignisse heraus, unter denen als mögliche Ursachen für das Entstehen kollektiver Emotionen zu vermuten sind: Die Beteiligung prominenter Personen bzw. Elite-Nationen, Abbildung von Konflikten bzw. sozialen Dilemmata, Kämpfe zwischen ?Gut und Böse?, Nicht-Zugehörigkeit des Ereignisses zum Erwartungshorizont, Verdichtung des Ereignisses im Bild. Diese fünf Merkmale prüfe ich im Folgenden hinsichtlich der Fallbeispiele auf ihre Relevanz für die Entstehung kollektiver Emotionen. Unter Berücksichtigung von kollektiven Identitäten, Empathie und Mimesis, kollektiver Bedeutungszuschreibung und der Bedeutung von Bildern, komme ich zu folgendem Schluss: Einschneidende und unerwartete Ereignisse erschüttern den Menschen. Werden diese Ereignisse z.?B. durch die Medien zusätzlich in ihrer Stärke noch potenziert, so kann es passieren, dass Menschen instinktiv auf archaische Muster zurückgreifen, um diese Ereignisse ein- und ihnen Bedeutung zuordnen zu können. Im gemeinsamen Erleben und Teilen von Gefühlen findet der Mensch eine Entladung und die Möglichkeit sich als Teil einer Gemeinschaft zu erleben.

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Leseprobe

2. Der Mensch und die Medien


 

Bevor ich mich der Frage nach den Ursachen kollektiver Emotionen zuwende, werde ich darlegen, von welchen Begriffen und Ansichten ich in dieser Arbeit ausgehe. Kommunikation und die Frage wie Informationen zum Bestandteil der Lebensrealität von Rezipienten werden sind dabei Schlüsselpunkte, an denen ich ansetze. Dementsprechend wird dieses Kapitel die kommunikationswissenschaftlichen Grundbegriffe fassen und auf die für die weitere Bearbeitung tragenden Elemente eingrenzen.

 

2.1 Individuum – Kollektiv – Masse


 

Der Mensch ist von Geburt an auf andere angewiesen und lebt daher – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in Gruppen. Über viele Jahrhunderte stand das Gemeinwohl über dem Eigenwohl, Einzelne waren feste Bestandteile von Traditionen und starren gesellschaftlichen Hierarchien. Erst mit der Renaissance begann eine Entwicklung, die Denken und Handeln des Einzelnen ins Zentrum rückte – der Prozess der Individualisierung. Dieser Prozess zog eine Reihe von Entwicklungen nach sich, beispielweise die Ablösung von den Zwängen der Kirche, die damit einher gehende Verschiebung des Staates vom Vertreter der Kirche hin zum Vertreter des Individuums sowie die Wahlmöglichkeit unterschiedlicher Lebensstile und die Selbstinszenierung durch Kleidung und Wohnraumgestaltung. (Vgl. Faulstich-Wieland, 2000: 34 f.) Mit der Freiheit sein Leben gänzlich souverän gestalten zu können, löste sich der Mensch aus seiner Umwelt heraus, was die Frage nach seinem Selbstverständnis in der Gemeinschaft aufwirft und die Beschäftigung damit zur zentralen Aufgabe des Menschen macht.

 

Solchen Individualisierungsthesen steht die Auffassung der Gesellschaft als Masse gegenüber wie sie Le Bon, Canetti und Ortega y Gasset vertreten: Das Individuum ordnet sich der Masse unter, wodurch sein Verhalten affektiv und weniger reflexiv gesteuert wird. Die Masse hebt Unterschiede zwischen Individuen auf und macht so ein hohes Maß an Gleichheit erfahrbar. Der Mensch strebt nach dieser Transformation, da es die einzige Situation ist, in der die Angst vor dem Fremden aufgelöst scheint und das Umgebensein von gleichen sogar mit zunehmender Dichte mehr Erleichterung verbreitet. (Vgl. Canetti, 2006: 14 f.)

 

Daher ist jedes Individuum genauso konstituierender Teil der Masse, wie die Masse aus Individuen besteht. Individuelle und gruppale Verhaltensmuster wirken wechselseitig aufeinander ein und können je nach Aufgabe dominieren oder unterliegen. Doch keiner dieser Pole ist je alleiniges Steuerelement. Bestimmend ist viel eher das Austarieren zwischen ihnen – dort ist das Kollektiv, dort findet ein Individuum seinen Platz, seine Aufgabe in der Hierarchie. Gleichzeitig können Gruppenphänomene Bedürfnisse des Einzelnen überlagern, so dass sich Werte, Überzeugungen und auch Emotionen manifestieren, die kollektiv erzeugt wurden, aber als individuell wahrgenommen werden. „Das kollektive Verhalten wird gewissermaßen nur als mehr oder weniger chaotischer Übergang zwischen zwei stabilen und klar definierten Systemzuständen geduldet.“ (Bühl, 2000: 10) Der Kollektivbegriff verwehrt sich einer ‹Entweder-Oder-Einordnung›. Zwischen Masse und Individuum liegt ein Grauwert, der meines Erachtens auf die Ursprünge menschlichen Verhaltens zurückgeht und somit Gegenstand ständiger Entwicklungs- und Anpassungsprozesse ist. Durch die Evolution haben sich Verhalten herausgebildet, die es dem Menschen ermöglichen, sein Überleben zu sichern, sich fortzupflanzen und seine Nachkommen zu schützen. Er hat Strategien entwickelt, adaptive Probleme kooperativ zu lösen. Strategien, die sich hingegen als nutzlos oder überholt erwiesen haben, wurden wieder ‹verlernt›. Evolutionspsychologisch betrachtet sind die modernen Prozesse der kritischen Selbstthematisierung allenfalls Sprösslinge gegenüber Jahrtausenden trainierten Verhaltens und tradierten Erlebens. „Belege deuten darauf hin, dass diese Gesellschaften die Bedingungen, unter denen wir uns entwickelten, eher widerspiegeln als moderne Gesellschaften und dass die Menschheit 99 Prozent der Menschheitsgeschichte aus Jägern und Sammlern bestand, was ungefähr den letzten Millionen Jahren vor Beginn der Landwirtschaft vor 10.000 Jahren entspricht [...].“ (Buss, 2004: 102)

 

Soziologen und Psychologen beschäftigen sich schon lange mit der Suche nach der zugrunde liegenden Struktur für die Ausprägung kollektiver Wahrnehmungen. Durkheim verbindet in seinen Überlegungen individuelle Autonomie und gesellschaftliche Solidarität und geht davon aus, dass Gesellschaften mit einem hohen Grad an Arbeitsteilung von unbewusst angenommenen Werten, Normen und Regeln geprägt und auf sie angewiesen sind. „Eine Individualisierung findet zwar statt, aber sie vollzieht sich massenweise und als ‹kollektive Individualisierung›.“ (Bühl, 2000: 20) Canetti spricht von der ‹offenen Masse›, die überall sein, uneingeschränkt wachsen und sich in alle Richtungen öffnen kann, und zerfällt, wenn sie aufhört zu wachsen (vgl. Canetti, 2006: 15). Das Interesse der ‹offenen Masse› ist zuerst einmal universeller Natur, kommt es aber zu einem verbindenden Element – beispielsweise das gemeinsame Erleben eines Ereignisses – wird sie aufgrund dessen zum Kollektiv. „Der wichtigste Vorgang, der sich innerhalb der Masse abspielt, ist die ‹Entladung›. Vorher besteht die Masse eigentlich nicht, die Entladung macht sie erst wirklich aus. Sie ist der Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheiten loswerden und sich als ‹gleiche› fühlen.“ (Ebd.: 16) Hier wird deutlich, welch schmaler Grat zwischen dem Verständnis des Kollektivs und der Masse besteht und um was für flüchtige bzw. instabile Konstrukte es sich handelt. Sloterdijk (2004) spricht bei diesen von Symbiose getragenen ko-isolierten[1] Lebenskonglomeraten von Schäumen um eine Aussage über die relative Dichte zu treffen.

 

Kommt es beispielsweise dazu, dass sich mehrere einander unbekannte Personen in der Öffentlichkeit durch Bekanntwerden eines Ereignisses sammeln (man kann sich hier die öffentlichen TV-Übertragungen in Innenstädten während des 11. Septembers 2001 vorstellen), formieren sie sich zu einer Masse. Beginnen sie die Information miteinander zu bewerten, findet also sprachlicher oder gestischer Austausch statt, werden sie zu einem Kollektiv. Über die Dauer seines Bestehens können sich jederzeit weitere Personen anschließen oder sich (wieder) abwenden.

 

 

Abbildung 1: Schematische Darstellung der Grundbegriffe

 

Das Kollektivieren erfolgt also instinktiv und führt zu kommunikativem Austausch, der den Individuen offensichtlich Erleichterung verschafft. Unter diesen Gesichtspunkten wird deutlich, dass auch affektives Verhalten gewissermaßen reflexiv erworben wird, also eine Funktion hat: Der Mensch kann intuitiv handeln und dennoch unbewusst komplexe Ziele verfolgen. In der Masse oder dem Kollektiv ausgeübtes Verhalten müsste demzufolge ein Wert zuzuordnen sein. Allein die Form dürfte sich durch den anhaltenden medialen Fortschritt geändert haben, denn zwischenmenschliche Übertragungen sind geringer oder gar nicht an räumliche, sprachliche oder zeitliche Modalitäten geknüpft. Dies lässt die Übertragung affektiver Verhaltensmuster sogar auf globaler Ebene zu.

 

2.2 Kollektive Emotionen


 

Der Begriff ‹kollektive Emotionen› war bis vor wenigen Jahren noch gänzlich ungebräuchlich. Mittlerweile wird er besonders in Arbeiten verwendet, die im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen, speziell der Euphorie während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, stehen. Das Phänomen an sich ist aber kein neues. Das erste ‹live› übertragene Sportereignis war die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, die unter dem Namen ‹Das Wunder von Bern› bekannt wurde: „So entstand eine Gemeinschaft, die wegen ihrer Größe und der Intensität ihrer Gefühle eine neue Qualität besaß und die am besten mit dem Begriff ‹virtuell› bezeichnet werden kann. Sie war virtuell, weil sie auf einem medial vermittelten Ereignis beruhte, bei dem fast keiner der so begeisterten persönlich anwesend war und das sie meist nicht einmal auf einem Fernseher mit eigenen Augen verfolgen konnten. Ihnen stand lediglich die Stimme des Radioreporters zur Verfügung, angereichert durch die Vorstellungen und Gefühle, die er bei ihnen freisetzte. Dabei führte diese Gemeinschaft keine konkrete Aktion durch und hatte sich nicht versammelt, um gemeinsame Werte zu vertreten. Sie verband vielmehr, dass sie zwei Stunden höchster Anspannung teilten und einem Ereignis folgten, das materiell nicht fassbar war, nur durch die Übertragung und in ihrer Wahrnehmung bestand, damals im Fernsehen nicht einmal konserviert werden konnte, nicht reproduzierbar war und schon im Moment des Erlebens verflog. Wenn die derzeit viel diskutierte Vorstellung von imaginierten Gemeinschaften etwas zutreffend beschreibt, dann die Ereignisse des 4. Juli 1954 und an den darauffolgenden Tagen.“ (Brüggemeier in: Lenger/Nünning (Hrsg.), 2008: 125) Dieses Beispiel zeigt die Virulenz eines Ereignisses, das Menschen unabhängig von Werten oder Ähnlichkeiten spontan zu einem Kollektiv verband. Die Mitglieder dieses Kollektivs teilten eine Nationalität, doch das war nicht der...

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