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E-Book

Kommunale Intelligenz

Potenzialentfaltung in Städten und Gemeinden

AutorGerald Hüther
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl127 Seiten
ISBN9783896844477
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Kommune, das ist weit mehr als eine Verwaltungseinheit, das sind wir alle. Kommune bedeutet ursprünglich 'Gemeinschaft ': die Familie, das Dorf, die Stadt. Das sind die wahren Lernorte, für Kinder wie für Erwachsene. Hier lernt der junge Mensch, worauf es im Leben ankommt, wie man gemeinsam mit anderen sein Leben gestaltet und Verantwortung übernimmt. Gerald Hüther, einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands, fordert uns auf, diesen entscheidenden Erfahrungsraum wiederzubeleben und radikal umzudenken: 'Wir brauchen eine neue Beziehungskultur.' Kommunale Intelligenz bedeutet, den wahren Schatz der Kommune zu heben: die in die Gemeinschaft hineinwachsenden Kinder und Jugendlichen, deren Begabungen und Talente es zu entdecken und zu entfalten gilt.

Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologie und leitet die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg. Wissenschaftlich befasst er sich mit dem Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, den Auswirkungen von Angst und Stress und der Bedeutung emotionaler Reaktionen. Er ist Präsident der Sinn-Stiftung und Autor zahlreicher wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Werke.

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Leseprobe

II. Was aus unseren Kommunen geworden ist


Aktionismus zwischen Problembewältigung und Besitzstandswahrung


In jeder menschlichen Gemeinschaft, sei es eine Familie oder eine von vielen Familien gebildete Kommune, gibt es so etwas wie ein inneres Band, das die Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft zusammenhält und miteinander verbindet. Wenn dieses innere Band zerreißt, zerfällt die Gemeinschaft. Was bleibt, ist eine Gruppe oder Ansammlung von Einzelpersonen, die alle ihre eigenen Interessen verfolgen. Die Familie oder die Kommune hat dann ihren gemeinsamen Geist verloren.

Dieser gemeinsame Geist stärkt den Zusammenhalt einer Gemeinschaft und definiert die Ziele, für die sich ihre Mitglieder einsetzen. Er entsteht durch all die Erfahrungen, die die Menschen im Verlauf ihrer Entwicklung als Gemeinschaft machen. Diese werden oft in Mythen und Sagen, in Geschichten und Erzählungen, in Liedern und Aufzeichnungen festgehalten, später als gemeinsame Wertvorstellungen definiert und in Regeln und Gesetzen festgeschrieben.

Normalerweise wird das Denken, Fühlen und Handeln einer Gemeinschaft durch diesen gemeinsamen Geist so gelenkt, dass die betreffende Gemeinschaft genau das zu leisten und weiterzuführen imstande ist, was sie zusammengeführt hat. Eine Fußballmannschaft sollte also einen Teamgeist besitzen, der den Spielern hilft, optimal zusammenzuspielen und möglichst viele Fußballspiele zu gewinnen. Ein gemeinsamer Schulgeist sollte Lehrern und Schülern helfen, das zu leisten, wozu die Schule da ist, nämlich die Potenziale der Schüler optimal zu entfalten: Er sollte sie einladen, ermutigen und inspirieren, sich all das Wissen anzueignen, das sie später im Leben brauchen.

Der gute Geist einer Familie sollte ihren Mitgliedern das Gefühl vermitteln, dass sie in dieser Familie eng miteinander verbunden sind und ihnen aus dieser Verbundenheit heraus die Kraft erwächst, ihre Potenziale zu entfalten, zu wachsen und über sich hinauszuwachsen.

Und der gute Geist einer Kommune müsste dafür sorgen, dass die Mitglieder dieser Kommune optimale Möglichkeiten finden, ihr Zusammenleben so zu gestalten, dass daraus etwas entstehen kann, was kein Einzelner und auch keine Familie für sich allein zu leisten vermag. Dazu zählt die Sicherung der gemeinsamen Lebensgrundlagen, die Bereitstellung und Aufrechterhaltung von Versorgungsleistungen, die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung und die Koordination von Verwaltungs- und Dienstleistungen. Vor allem aber zählt dazu die Sicherung der gemeinsamen Zukunft, die Aufrechterhaltung der Freude am gemeinsamen Entdecken und Gestalten, am Voneinander-Lernen und Einander-Ermutigen, am Sich-Einbringen und Füreinander-da-Sein. Und nicht zuletzt wird der gute Geist einer Kommune bestimmt von der gemeinsamen Sorge und der gemeinsamen Verantwortung aller Mitglieder für die in diese Kommune hineinwachsenden Kinder.

Wie sich der gute Geist aus Kommunen verflüchtigt


Bisweilen kommt es vor, dass die Mitglieder einer Familie oder einer Kommune sich nicht mehr vorrangig um das kümmern, was ursprünglich Sinn und Zweck ihrer Gemeinschaft war. Dann verschwindet auch ihr guter Geist, und an seine Stelle rückt ein anderer Geist nach, geradezu als hätte dieser die ganze Zeit nur darauf gewartet, die Geschicke dieser Gemeinschaft selbst in die Hand zu nehmen. Manchmal wird er »Verwaltungsgeist« genannt, manchmal beginnt er auch inkognito damit, das Klima in einer Familie oder Kommune zu bestimmen, bis die Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft die Erfahrung machen, dass sie nur mehr verwaltet, umhergeschoben und benutzt werden. Und aus den so gemachten Erfahrungen verfestigen sich in ihrem Frontalhirn genau jene Haltungen und inneren Einstellungen, die zu diesem eingedrungenen eigenartigen Geist passen. Ihre Gemeinschaft und deren Wohl wird ihnen zunehmend egal. Schließlich versucht jeder nur noch seine Besitzstände zu wahren und wenn möglich zu mehren, nur noch seine Interessen zu sichern und seine Ziele zu verfolgen.

Wenn es eine Gemeinschaft so weit gebracht hat, mag sie vielleicht noch eine Zeitlang überleben. Sie funktioniert dann mehr oder weniger, aber sie entwickelt sich nicht weiter. Sie wirkt irgendwie eingefroren – weit davon entfernt, die in ihr angelegten und in ihren Mitgliedern vorhandenen Potenziale entfalten zu können. Sie wird zu einer Kümmerversion dessen, was sie ursprünglich einmal war und was aus ihr in Zukunft noch werden könnte.

Den meisten unserer Kommunen ist das so gegangen. Ihr guter Geist ist ihnen weitgehend abhandengekommen.

Wie das Band gemeinsamer Interessen zerreißt


Die Ursache dieser ungünstigen Entwicklungen ist leicht auszumachen: Das Band gemeinsamer Intentionen, das eine Gemeinschaft normalerweise zusammenhält und ein Gefühl von Verbundenheit in ihren Mitgliedern erzeugt, kann allzu leicht zerreißen. Diese Gefahr wächst allein schon mit der zunehmenden Anzahl der Mitglieder. Oft ist es auch nur ein von außen wirkender Druck, der eine Gemeinschaft zusammenhält. Immer dann, wenn es den Mitgliedern in einer gemeinsamen Anstrengung gelungen ist, Hunger, Not und Elend zu überwinden, wenn die Natur immer besser beherrschbar und äußere Feinde weitgehend bezwingbar geworden sind, beginnen solche Not- und Zweckgemeinschaften zwangsläufig wieder zu zerfallen. Dann können sie nur noch notdürftig durch Ordnungs- und Verwaltungsmaßnahmen zusammengehalten werden.

Neben diesen äußeren Bändern können sich Menschen aber sehr wohl auf eine tiefere Weise miteinander verbunden fühlen. Dieses Verbundenheitsgefühl hält zum Beispiel zwei Lebenspartner, die Mitglieder einer Familie, wirkliche Freunde und manchmal sogar Nachbarn auch dann eng zusammen, wenn es dafür keinen äußeren Grund gibt.

Manchmal ist es ein gemeinsamer Glaube, sind es miteinander geteilte innere Überzeugungen, bestimmte innere Einstellungen oder Wertvorstellungen, die Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenführen und miteinander verbinden. Aber auch die von einem solch inneren Verbundenheitsgefühl zusammengehaltenen Gemeinschaften können leicht zerfallen. Das ist meist dann der Fall, wenn das emotionale Band so eng wird, dass es einzelnen Mitgliedern die Luft zum Atmen nimmt. Wenn ihr individuelles Bedürfnis nach Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit erstickt wird.

Wenn Gemeinschaften nicht mehr durch ein festes inneres oder äußeres Band zusammengehalten werden und sich immer mehr Einzelne auf der Suche nach freier autonomer Lebensgestaltung herauszulösen beginnen, entstehen zunehmend Konflikte und Reibungsverluste. Erkennbar wird dies an dem für die Kompensation dieser Reibungsverluste wachsenden Verbrauch natürlicher Ressourcen und einem ausufernden Leistungs- und Konkurrenzdruck unter den Mitgliedern.

Leidtragende dieser Entwicklungen sind die Schwächeren, also die Alten und die Kinder. Beide finden dann in solchen Gemeinschaften keinen Platz mehr. Die Alten können ihre Erfahrungen nicht mehr einbringen, und die Kinder können nicht mehr hinreichend komplexe und vielfältige Erfahrungen sammeln. Beide werden zunehmend verwaltet. Über kurz oder lang übersteigen die Kosten dieser Verwaltungsmaßnahmen und die innerhalb solcher Gemeinschaften erzeugten Reibungsverluste aber die von ihr erwirtschafteten Mittel. Dann kommt es zu krisenhaften Entwicklungen. Zwangsläufig verstärken solche Krisen als Notsituationen wieder den Zusammenhalt.

So kann es erneut zu verstärkten gemeinsamen Anstrengungen kommen. Wird die Krise dadurch überwunden, beginnt das alte Spiel wieder von vorn, bis die nächste Krise anrollt. So könnte es ewig weitergehen, gäbe es nicht eine andere Möglichkeit, den ewigen Kreislauf von Krisen und Krisenbewältigung zu durchbrechen. Diese andere Möglichkeit heißt Transformation. Sie wird von jeder menschlichen Gemeinschaft irgendwann gefunden, aber nicht in Form der Bewältigung aufeinanderfolgender Krisen, sondern als Lösung für ein Dilemma, in das diese Gemeinschaft mit ihren eigenen Entwicklungsstrategien und bisherigen Entwicklungskonzepten, mit ihren bisherigen Annahmen, Vorstellungen und Ideologien geraten ist.

Krisen sind gefährlich, sie werden als bedrohlich empfunden. Etwas ist aus dem Gleichgewicht geraten, und deshalb lässt sich eine Krise nur dadurch bewältigen, dass dieses verloren gegangene Gleichgewicht irgendwie wiederhergestellt wird. Wie bei einer Balkenwaage wird dann versucht, entweder auf die eine Waagschale mehr Gewicht zu legen oder etwas von der anderen herunterzunehmen. Bis das System rejustiert ist. Es ist dann zwar wieder stabiler, aber es ist eben immer noch das alte, es hat sich nicht wirklich weiterentwickelt.

Die Mitglieder einer solchen Krisenbewältigungsgemeinschaft sind nach der Krisenbewältigung immer noch genauso unterwegs wie vorher: Mit den gleichen Vorstellungen und Überzeugungen, mit den gleichen Lösungsstrategien, mit den gleichen Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern.

Die Kommune als Problembewältigungsgemeinschaft


Wenn man die Entwicklungslinien heutiger Dörfer und Städte lange genug zurückverfolgt, findet man wahrscheinlich überall Ereignisse, die diese Gemeinschaften nicht nur zusammengehalten, sondern ursprünglich sogar zusammengeführt haben: menschengemachte Bedrohungen von außen durch Überfälle, Krieg und Terror oder natürliche Bedrohungen in Form von Naturkatastrophen, Missernten, Klimaveränderungen oder Seuchen. Waren es nicht solcherlei akute lebensbedrohliche Ereignisse, dann machten ganz spezifische Probleme den Menschen in einer bestimmten Gegend zu schaffen. Viele Herausforderungen konnten nur gemeinsam bewältigt werden: Deichbau und Landgewinnung an den...

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