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Kompetenzen und Anforderungen an Sozialarbeiter/innen der stationären Jugendhilfe im Umgang mit traumatisierten Kindern

AutorMarie Werner
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl72 Seiten
ISBN9783668085275
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Bachelorarbeit aus dem Jahr 2015 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,0, Evangelische Hochschule Darmstadt, ehem. Evangelische Fachhochschule Darmstadt, Sprache: Deutsch, Abstract: Vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit traumatisierten Kindern in der stationären Jugendhilfe und legt ihren Fokus auf durch Eltern misshandelte Schutzbefohlene. Diese machen einen Großteil der stationär untergebrachten Kinder aus. Die stationäre Unterbringung von traumatisierten Kindern wird meist als letztes Glied einer Kette von Hilfen zur Erziehung herangezogen, wenn bereits kostengünstigere, ambulante Formen keinen Erfolg gebracht haben. Allerdings ist die stationäre Jugendhilfe auf diese schwer belasteten Kinder nur unzureichend vorbereitet, denn diese Kinder haben lange Zeit in traumatischen Lebensumständen verbracht und zeigen nun Verhaltensweisen, die sowohl schwer verständlich als auch schwer auszuhalten sind. Aufgrund des fehlenden Wissens von Traumafolgen und deren Auswirkungen verzweifeln die pädagogischen Fachkräfte und können den Bedürfnissen der Kinder nicht mehr entsprechen oder diese wahrnehmen. Dies führt häufig zu weiteren Abbrüchen der Hilfemaßnahme und einer Chronifizierung des Traumas. Die stationäre Jugendhilfe ist neben psychiatrischen Settings ein Ort, an dem eine Großzahl an traumatisierten Kindern betreut wird. Daher ist es wichtig, auch die pädagogischen Fachkräfte über die Folgen von Traumatisierungen zu schulen. Die Arbeit mit traumatisierten Kindern ist bislang vornehmlich Psychologen/-innen und Therapeuten/-innen vorbehalten, jedoch sollte die pädagogische Arbeit mit diesen Kindern nicht unterschätzt werden. Die pädagogische Arbeit in einer stationären Wohngruppe findet an 365 Tagen im Jahr statt und hat somit einen prägenden Anteil im Leben dieser Kinder. Sozialpädagogen/-pädagoginnen müssen daher für die spezifischen Bedarfe dieser Kinder geschult werden, um sie bei der Traumaverarbeitung unterstützen zu können. Ziel dieser Arbeit ist es, mittels Literaturrecherche Leser/innen, in erster Linie Sozialpädagogen/-pädagoginnen, die in ihrer Arbeit mit traumatisierten Kindern umgehen, sich für die Folgen und Auswirkungen von traumatischen Lebensereignissen zu sensibilisieren. Hierbei soll eine fachliche Orientierung mithilfe der Traumapädagogik gegeben werden. Daher gehe ich der Frage nach, welche Herausforderungen die Symptome traumatisierter Kinder in der stationären Jugendhilfe an Sozialpädagogen/-pädagoginnen stellen und wie diesen mithilfe von traumapädagogischen Konzepten begegnet werden kann.

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Leseprobe

2. Traumafolgestörungen und deren Auswirkungen


 

30 bis 60 % aller Menschen haben in ihrem Leben bereits ein schweres Trauma erlitten, jedoch entwickelt nur etwa ein Drittel dieser Betroffenen langfristige Folgeschäden.[93] Die langfristigen Folgen traumatischer Erlebnisse unterscheiden sich bei Kindern deutlich von denen Erwachsener, da die Persönlichkeit eines Kindes noch nicht so stark entwickelt ist wie die eines Erwachsenen und somit durch eine chronische Traumatisierung stark geprägt und verformt wird.[94] Da Kindesmisshandlung die häufigste Ursache von Traumatisierungen von Kindern in der stationären Jugendhilfe ist (vgl. Kapitel 1.5), gehe ich in den folgenden Ausführungen stärker auf die frühen Entwicklungsstörungen ein. Ich werde mich also auf ausgewählte Traumafolgen beschränken, die direkte Auswirkungen auf den pädagogischen Alltag haben, und spezielle Förderbereiche der durch Kindesmisshandlung traumatisierten Kinder darstellen. Zu Beginn möchte ich auf die Schwierigkeiten der Diagnostik eingehen.

 

2.1 Komplexe PTBS und Traumaentwicklungsstörung


 

Bei Kindern lassen sich die drei Symptomgruppen Intrusionen, Vermeidung und Übererregbarkeit der Posttraumatischen Belastungsstörung in kindlicher Ausdrucksform finden.[95] Intrusionen zeigen sich meist durch das Wiederinszenieren der traumatischen Situation, im so genannten „posttraumatischen Spiel“, oder in Albträumen und Flashbacks.[96] Die anhaltende Vermeidung von Reizen, die an das Trauma erinnern, oder die Verleugnung können bei Kindern zu sozialem Rückzug und der Flucht in Fantasiewelten führen.[97] Die Übererregbarkeit geht einher mit Schlafstörungen, erhöhter Reizbarkeit, Hyperaktivität oder Aggressivität.

 

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) beschreibt allerdings nur unzureichend die Symptome und die Lebenslage der Kinder, da die Diagnosekriterien auf Erwachsene ausgelegt sind und eine hohe Sprachkompetenz erfordern, die bei kindlicher Traumatisierung selten vorhanden ist.[98] Die meisten Kinder erfüllen nicht die Kriterien der PTSB, da diese nach Weiß nicht entwicklungssensibel ist, folglich also nicht auf die entwicklungsspezifischen Auswirkungen und die Vielzahl an Belastungen von chronischen Traumatisierungen

 

eingehen kann.[99] Herman hat daher das Konzept des „komplexen posttraumatischen Belastungssyndrom“ (kPTBS) entwickelt. „To include a multitude of symptomes, relationship and identity disturbance, […] that can stern from repeated and severe trauma, including childhood abuse and neglect.“[100]

 

Abb. 6: Komplexes posttraumatisches Belastungssyndrom[101]

 

 

Dieses Entwicklungskonzept erfasst die psychische Struktur und die Blockaden in der Entwicklung eines Menschen durch schwere, chronische Traumatisierung. Das Konzept der kPTBS dient dazu, die vielfältigen Symptome schwerer Traumatisierungen zu erfassen und die Auswirkungen auf Beziehungen und die eigene Identität zu verstehen.[102] Die kPTBS zeichnet sich durch ein breites Symptomspektrum aus und stellt nicht selten den therapeutischen Ansatzpunkt zur Behandlung komorbider psychischer Störungen dar.[103] Komorbide Störungen (zwei

 

oder mehrere diagnostisch unterschiedliche Störungsbilder) entwickeln sich meist im Laufe der Jahre, sodass der Rückschluss auf das eigentliche Trauma immer schwieriger wird.[104] Zudem ist die Ausprägung der verschiedenen Traumafolgestörungen altersabhängig. So zeigen Kinder, die im Alter von null bis vier Jahren ein Trauma erleben, eher emotionale sowie Angst-, Lern-, Bindungs- und Regulationsstörungen, während bei Kindern im Alter von fünf bis 14 Jahren eher affektive Störungen, Störungen des Sozialverhaltens und oppositionelles Verhalten hinzukommen.[105] Schmid, Fegert und Petermann haben dies anhand folgender Abbildung dargestellt:

 

Abb. 7: Trauma-Entwicklungsheterotopie[106]

 

 

2005 entwickelte Bessel van der Kolk eine neue diagnostische Betrachtungsweise von komplex traumatisierten Kindern im Hinblick auf die Berücksichtigung entwicklungsbezogener Aspekte: „Development Trauma Disorder“ ‒ Traumaentwicklungsstörung.[107] Hierbei wird zwischen drei Symptomgruppen unterschieden:

 

 „Symptome affektiver und physiologischer Dysregulation/Dissoziation,

 

 Probleme bei der Verhaltens- und Aufmerksamkeitssteuerung,

 

 Schwierigkeiten der Selbstwertregulation und Beziehungsgestaltung, [...]

 

 Symptome der einfachen Posttraumatischen Belastungsstörung“.[108]

 

Trotz der Erwartungen vieler Wissenschaftler wurden beide Diagnosen der kPTBS und der Traumaentwicklungsstörung nicht in das DSM V aufgenommen.[109]

 

Nach Allen, Lemma und Fonagy ist es wichtig, ein „single pathogen/single-disorder mode of thinking“ zu vermeiden.[110] Es sollten eher die individuellen, vielfältigen und unterschiedlichen Ausprägungen der Folgen von Traumatisierung fokussiert werden, um jedem Einzelnen individuell gerecht zu werden. Die vielfältigen Ansätze der Traumatheorien bilden eine veränderte Sichtweise auf traumatisierte Menschen. Dies gilt jedoch nicht nur für die Traumatherapie, sondern auch für die Pädagogik. Auch wenn die Pädagogik das Wissen aus verschiedenen Fachrichtungen bündelt, benötigt sie trotzdem eigene fachliche Lösungsansätze, wie mit traumatisierten Kindern umgegangen werden kann.[111]

 

2.2 Symptome und Folgen von Traumatisierung


 

Die Symptome von traumatisierten Kindern sind vielfältig und lassen selten allein auf eine Traumatisierung schließen. Trotzdem möchte ich kurz einige dieser Symptome benennen, um einen Überblick über die Vielfalt dieser zu erlangen und in der Praxis solche Verhaltensweisen hinterfragen zu können. Gelegentlich fallen Kinder nach traumatischen Erlebnissen und nach extremen Stresserfahrungen, die durch einen Trigger ausgelöst wurden, in vergangene Verhaltensweisen zurück, wie

 

z. B. Einnässen, Daumenlutschen oder das Sprechen in Babysprache.[112] Nach Krüger gehen aggressive Verhaltensweisen und Hyperaktivität häufig mit dem Traumageschehen einher oder in umgekehrter Form extremer Rückzug, Abkapselung und Dissoziation. Neben diesen offensichtlichen Symptomen leiden Kinder zudem häufig an belastenden Gefühlsreaktionen, wie z. B. Schuld- und Schamgefühle, Misstrauen gegenüber Erwachsenen und damit einhergehend einer Verminderung des gesamten Selbstwertgefühls. Das Kind sieht seine Umwelt und sich selbst durch eine

 

„negative Brille“, die die gesamte Entwicklung des Kindes stört. Auch körperliche

 

Symptome wie etwa Kopfschmerzen, Übelkeit oder Hauterkrankungen können nach solchen Erlebnissen auftreten.[113]

 

Die traumapädagogisch relevanten Folgen von Traumatisierungen stellt Marc Schmid anhand der folgenden Grafik dar:

 

Abb. 8: Psychopathologische Konsequenzen von Typ-II-Traumata[114]

 

 

Diese Folgen lehnen sich an die benannten Kategorien der Traumaentwicklungsstörung (Kapitel 2.1) von van der Kolk an. Zudem werden biologische Faktoren wie Genetik und Risikofaktoren einbezogen, die große Auswirkungen auf die Ausprägung der einzelnen Traumafolgen haben.

 

Die Symptome der PTBS wurden bereits im vorherigen Kapitel dargestellt. Intrusionen, Albträume, Schlafstörungen, Vermeidungsverhalten und ein erhöhtes Erregungsniveau zählen zu den grundlegenden Beeinträchtigungen, die traumatisierte Kinder erfahren. Zudem haben diese Kinder ein stark negativ geprägtes Selbstbild. Aufgrund der schweren Misshandlung fühlen sie sich weniger wert, entwickeln massive Selbstvorwürfe sowie Schuld- und Schamgefühle.[115] Sie erleben sich als nicht selbstwirksam im Kontakt mit anderen Menschen und ziehen sich daher eher zurück. Auch eigene Bedürfnisse werden zur Vermeidung von eventuellen Konfliktsituationen unterdrückt.[116]

 

Ein weiterer Faktor der Folgestörungen sind Probleme mit der Emotionsregulation. Das Nervensystem ist aufgrund der Traumatisierung in einem Dauerstresszustand.

 

Viele neutrale Reize, die mit dem traumatischen Ereignis assoziiert werden, führen zu einer Aktivierung des Amygdalasystems und lösen heftige Gefühlsreaktionen aus, die sowohl länger andauern als auch intensiver erlebt werden.[117] Gefühle können häufig durch das erlittene Trauma nicht mehr adäquat wahrgenommen werden, da diese als Schutzmechanismus beispielsweise bei sexuellem Missbrauch verdrängt...

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