Die Computer- und Internetsucht ist vermutlich ein Thema, das die meisten Schüler interessiert, da vor allem Jugendliche ständig mit dem Internet auf ihrem Handy oder ihrem Computer konfrontiert sind und für verschiedene Zwecke unterschiedlich viel Zeit im Internet oder am Computer verbringen. Dabei kann sich, nicht nur bei Jugendlichen, auch eine Computer- oder Internetsucht entwickeln. Diese äußert sich nicht zwingend nur dadurch, dass der jeweilige Jugendliche viele Stunden täglich am Computer verbringt oder im Internet surft, sondern vor allem dadurch, dass er zunehmend vereinsamt, soziale Kontakte verliert, die Realität sowie das tägliche Leben vernachlässigt und sich letztendlich völlig in seine virtuelle Welt flüchtet[97]. Zu dieser Gefahr können auch die sozialen Netzwerke und Computerspiele beitragen[98]. Da anzunehmen ist, dass alle Lerner zumindest in Grundzügen über die mögliche Suchtproblematik Bescheid wissen, wird vermutet, dass sie an diesem Thema interessiert sind und mehr über die Gefahren der extensiven Computer- und Internetnutzung erfahren möchten. Da in dem ersten, kürzeren Text über eine erste Studie zum Thema cyberdépendance in Québec berichtet wird und da der zweite Text neben allgemeinen Fakten zu diesem Thema auch Bezüge zur Situation in Frankreich herstellt, ist eine Bedeutung dieses Themas für die Zielsprachenkultur erkennbar. Es wird unter anderem aufgezeigt, dass es in Québec und Frankreich auch Fälle solcher Abhängigkeit gibt, wobei in Québec das Phänomen der Internet- und Computerabhängigkeit bei Erwachsenen erstmals untersucht wird während es in Frankreich als unter Jugendlichen verbreitet bekannt ist. Dabei wird jedoch betont, dass die französischen Jugendlichen nicht stärker suchtgefährdet seien als Jugendliche in anderen Ländern. Folglich wird die cyberdépendance im zweiten Text als universelles Problem dargestellt, weshalb dieser Text nur ein geringes Potential für interkulturelles Lernen insofern bietet, dass die Schüler erkennen, dass das genannte Phänomen auch bei den Jugendlichen in Frankreich verbreitet ist. Für den ersten Text über Québec ist das Potential für interkulturelles Lernen höher, da in diesem Text deutlich wird, dass man sich in Québec bisher noch gar nicht mit dieser Gefahr auseinandergesetzt hatte.
Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Auswahl von Texten für den Französischunterricht in der Sekundarstufe II ist die mögliche thematische Einbettung in die Themenfelder des entsprechenden Kerncurriculums. Das Thema La cyberdépendance lässt sich in das Themenfeld ‚Herausforderungen der Gegenwart‘ und in die darin enthaltenen Themenbereiche Le monde des médias sowie Expériences limites einordnen[99]. Der Bereich Le monde des médias wird insofern abgedeckt, dass es in den Texten im Allgemeinen um die Rolle der Medien, speziell um die Gefahr der Computer- und Internetabhängigkeit, in der französischen und frankophonen Öffentlichkeit geht. Des Weiteren gelten die Computer- und Internetabhängigkeit und die Sucht im Allgemeinen als eine Grenzerfahrung für Jugendliche und Erwachsene. Die Sucht ist eine psychische Grenzerfahrung, die – wie in den Texten angedeutet wird – sowohl für die Menschen in Québec und in Frankreich als auch für Japaner gefährlich ist. Durch die Arbeit mit diesen Texten im Themenbereich Expériences limites lernen die Schüler unter anderem, diese Grenzerfahrung zu benennen, ihre Auslöser und Äußerungsformen zu begreifen sowie diese in Beziehung zu sich und zu den Deutschen allgemein zu setzen. Dadurch und durch einen möglichen Vergleich dieses Phänomens in Deutschland mit den in den Texten angesprochenen Ländern erweitern die Schüler durch die Textarbeit ihr Weltwissen.
Ein weiterer wesentlicher Punkt, der für die Wahl dieser beiden Texte spricht, sind die vielfältigen Bearbeitungsperspektiven. Die Texte eignen sich für die Förderung konkreter Fähigkeiten der Schüler in den Bereichen Textkompetenz, Textrezeption und Textproduktion. Außerdem bieten die Texte Potential für weiterführende Aufgaben zur Förderung der schriftlichen und mündlichen Sprachproduktion. Dies wird in den folgenden Kapiteln anhand konkreter Ziele und Aufgaben gezeigt.
In Bezug auf die sprachliche Eignung der beiden Texte fällt zunächst auf, dass sie teilweise Vokabular enthalten, das für die Lerner noch unbekannt ist und das über den Grund- und Allgemeinwortschatz hinausgeht. Dazu gehören beispielsweise die Wörter und Wortgruppen réadaptation, se désintoxiquer, decrocher und dresser un profil. Dennoch ist anzumerken, dass die unbekannte Lexik teilweise selbst von den Schülern erschlossen werden kann, indem sie Bezüge zu anderen Sprachen herstellen oder die unbekannten Wörter in ihre Bestandteile zerlegen. Außerdem wurde vorab von der Lehrperson eine Anpassung des Textes an den Leser in Form von Vokabelannotationen und damit eine Textoptimierung vorgenommen[100]. Das Textverständnis wird den Schülern durch die oft komplexen und teils verschachtelten Sätze in beiden Texten etwas erschwert. In Bezug auf ihre Struktur sind beide Texte jedoch logisch aufgebaut und insofern gut verständlich. Besonders beim zweiten Text, der schon durch Fragen und die dazugehörigen Antworten vorstrukturiert ist, sollte den Schülern das Textverständnis Böing zufolge erleichtert werden[101].
Für die Arbeit mit den Texten zum Thema La cyberdépendance wird angenommen, dass diese nicht isoliert betrachtet, sondern dass sie in das weiter gefasste Thema Medien, Internet und soziale Netzwerke eingebettet werden. Dabei dienen diese beiden Texte konkret dazu, das Thema der Computer- und Internetabhängigkeit zu behandeln und den Fokus dabei auf das Auftreten dieses Phänomens in Frankreich und in Québec zu legen. Darüber hinaus ist anzumerken, dass den Schülern bereits im Voraus eine Tabelle mit verschiedenen Leseabsichten und Lesestilen im Umgang mit Sachtexten[102] ausgehändigt wurde, wovon nun einige anhand der vorliegenden Texte geschult werden sollen.
Josef Leisen[103] stellt zudem Leseprinzipien auf, die das erfolgreiche Leseverstehen bei Sachtexten bedingen. Auf der Grundlage dieser Prinzipien schlägt er vor, Sachtexte anhand der Abfolge ‚Einführung – Vorwissensaktivierung – Erstrezeption – Wirkungsgespräch – Detailrezeption –Verständnisüberprüfung – Anschlusskommunikation – Textproduktion‘ in den Unterricht zu integrieren[104]. Das im Folgenden beschriebene Unterrichtsmodell zum Umgang mit den Sachtexten zum Thema La cyberdépendance orientiert sich an diesem Modell.
Böing zufolge sollte vor der Textrezeption eine Vorab-Reflexion erfolgen, welche individuell sein und nicht im Plenum stattfinden sollte, da die Textrezeption auch individuell erfolgt[105]. Insofern sollte die Textarbeit Arbeitsaufträge umfassen, die der Vorbereitung der Textrezeption dienen und „in denen sich Lernende individuell mit ihren eigenen Lesermerkmalen auseinandersetzen können, z.B. hinsichtlich der Artikulation des Vorwissens [oder] der persönlichen Erwartungshaltung und Motivation“[106]. Diese individuelle Vorab-Reflexion erfolgt hier vor dem ersten Lesedurchgang in Form einer kurzen Umfrage, das heißt anhand eines Fragebogens[107], welchen jeder Schüler für sich selbst beantworten soll. In diesem Fragebogen werden die Lerner zunächst nach ihren eigenen Erfahrungen gefragt und setzen sich daher individuell mit ihren eigenen Lesermerkmalen auseinander[108]. Sie sollen einschätzen, wie viele Stunden pro Woche sie vor dem Computer oder im Internet verbringen und aus welchen Gründen. Dies zielt auch darauf ab, den Schülern einmal ihre tatsächliche Computer- und Internetnutzung bewusst zu machen und sie auf das Thema einzustimmen. Die Fragebögen sind anonym, sodass die Fragen 1 und 2 im weiteren Verlauf der Unterrichtseinheit von der Lehrperson ausgewertet und die Ergebnisse der Klasse präsentiert werden. So wird kein Schüler bloßgestellt oder gezwungen, im Plenum zu seiner Situation Auskunft zu geben. Anschließend werden die Schüler gefragt, wie sie sich einen cyberdépendant vorstellen, woran sie denken, wenn sie das Wort cyberdépendance hören und was sie über dieses Phänomen wissen. So erhält jeder Schüler die Gelegenheit, sein individuelles Vorwissen zu artikulieren. Hierbei werden die Lerner explizit darauf hingewiesen, ein Wörterbuch zu verwenden, da dem Großteil der Schüler vermutlich noch die nötige Lexik fehlt. Dieser kurze Fragebogen entspricht der von Leisen vorgeschlagenen Einführung in das Thema und dient bereits der Vorwissensaktivierung. Da den meisten Schülern vermutlich die Lexik fehlt, um sich in diesem Themenbereich angemessen auszudrücken, wird als Zwischenschritt noch eine Vorentlastung...