3. Theorien abweichenden Verhaltens
3.1 Die klassische Schule der Kriminologie
Aus Sicht der klassischen Schule gelten die Menschen als vernünftige Wesen, die eigenverantwortlich entscheiden und handeln. Die unterstellte Willensfreiheit ermöglicht gleichermaßen konformes wie abweichendes Verhalten. Aus der Tatsache aber, dass verschiedene Individuen in gleichen Situationen gleich (abweichend) handeln, ist ableitbar, dass gesellschaftlich determinierte, situative Bedingungen, die von den einzelnen nur begrenzt manipulierbar erscheinen, die jeweiligen Verhaltensweisen hervorrufen.[11] Nicht der Täter, sondern die ihn umgebende Gesellschaft und die Handlungsoptionen, die sie dem Individuum lässt, führen zur Abweichung von den Regeln, die eben diese Gesellschaft ordnen. Da aber jedes Gesellschaftsmitglied von solchen Bedingungen betroffen sein kann, kann sich jeder abweichend verhalten. Untersucht werden muss daher nicht der Täter, sondern die Tat. Hinsichtlich des Täters zählt allein seine Relation zur Gesellschaft, um seine Abweichung einordnen zu können.
Sanktionen als gesellschaftliche Reaktion auf Abweichungen sollten die Sozialschädlichkeit der Tat berücksichtigen und präventiv wirken. Nicht die Sühne, sondern die Integration des Delinquenten sollten das Ziel sein, das durch ein staatliches Sanktionsmonopol gewahrt wird.
Die klassische Schule ist damit eher reaktiv, als ätiologisch orientiert. Damit ist sie als Vorläufer des Labeling Approachs anzusehen, weil sie individuelle Ursachenforschung ebenso ablehnt wie eine stigmatisierende Behandlung des Täters. Zugleich erkennt sie, dass die Abweichung eine definitorische Zuschreibung ist, und lehnt eine negative Bewertung des Abweichenden ab.[12]
3.2 Biologische Erklärungsansätze
In gezielter Absetzung zu den soziologisch wie psychologischen Elementen der Klassischen Schule der Kriminologie stellten Vertreter der biologisch orientierten Kriminologie ein Gegenmodell auf. So beschreibt Cesare Lombroso (1835 bis 1909) in seiner These vom „geborenen Verbrecher“ das Verhalten eines Kriminellen als Rückfall in frühe menschliche Entwicklungsstadien. Als Hinweis auf diese anthropologisch niedere Stufe der Menschheitsentwicklung, auf der ein Individuum steht, dienen Lombroso bestimmte Körpermaße und Körperanomalien. Da sich seine Erkenntnisse auf relativ kleine Stichproben stützen und seine Theorie Umweltfaktoren wie soziale Umstände außer Acht lassen, sind Lombrosos Theorien heute als veraltet anzusehen und wurden in faschistischen Regimes missbraucht, besonders gegen „nicht-arische“ Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland.[13]
3.3 Multifaktorielle Ansätze
In Erweiterung der biologischen Erklärungsansätze ergänzte das amerikanische Ehepaar Glueck die Variablen zur Vorhersage kriminellen Verhaltens um 67 Persönlichkeitsmerkmale und 42 sozio-kulturelle Faktoren. Dieser Mehrfaktorenansatz ist jedoch aus empirisch-induktiver Arbeitsweise entwickelt und nicht theoretisch-deduktiv: Ihm liegen also eine Vielzahl von Variablen zugrunde, die statistisch abgesichert sein können, aber möglicherweise nur geringe theoretische Relevanz und mäßige Erklärungskraft besitzen.[14]
3.4 Der psychoanalytische Ansatz
Nach der psychoanalytischen Theorie zur Erklärung von Kriminalitätsentstehung, wie sie Sigmund Freud (1856 bis 1939) vertreten hat, beeinflusst die Psyche unbewusst das Handeln und Fühlen des Menschen. Persönlichkeitsstörungen, ausgelöst durch Beeinträchtigungen der psychischen Entwicklung, können demnach Ursache für kriminelles Verhalten sein. Das von Natur aus asoziale Individuum muss durch Erziehung und Sozialisation lernen, seine Triebe und Wünsche zu beherrschen. Entwickelt ein Mensch ein zu starkes Über-Ich, neigt er zu neurotisch bedingter Kriminalität, bei einer Unterentwicklung dieser moralischen Instanz handelt es sich um verwahrlosungsbedingte Kriminalität. Dieser Ansatz erklärt Kriminalität nicht, sondern erlaubt lediglich eine täterorientierte und individualistische Analyse von Einzelfällen, die spekulativ rückschauend bleibt. Die Individualisierung delinquenten Verhaltens blendet sozialstrukturelle Dimensionen aus. Die empirisch-induktiv gewonnenen Persönlichkeitsvariablen von Kriminellen sind theorielos und wenig erklärungskräftig.[15] Somit sind sie zur Ursachenforschung für strukturelle Probleme der Integration von Migranten-Kindern in Deutschland wenig hilfreich.
3.5 Die Kontrolltheorie
Verwandt mit dem psychoanalytischen Ansatz ist die Kontrolltheorie, nach der sich Menschen sozial konform verhalten, wenn sie in ein Netz sozialer und informeller Beziehungen eingeflochten sind. Nach Travis Hirschi neigt das Individuum umso mehr zu Delinquenz, je mehr sich dieser Kontakt lockert. Die gesellschaftliche Integration differenziert sich in rationale Überlegungen des Individuums über die Folgen seines Handelns im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung, in emotionale Bindungen, die Involviertheit in normkonforme Aktivitäten und den Glauben an ein gesamtgesellschaftliches Wertesystem. Die Kontrolltheorie behauptet die Wirkungsweise von innerer Kontrolle und Halt allerdings nur, ohne dies empirisch abzusichern, und steht daher in der Kritik.[16] Die Betonung des sozialen Netzes als Grundinstanz der individuellen Kontrolle würde andernfalls bei der Untersuchung von Familien, die aus einer Kultur mit fest verankerter Großfamilienstruktur in eine moderne und eher von öffentlichen Strukturen gestützte Gesellschaft kommen, besonderes Gewicht haben. Ohne eine Erklärung der Wirkungsweise dieser Strukturen werden hier jedoch die negativen Einflüsse ausgeblendet, die sich etwa aus einander widersprechenden Faktoren der unterschiedlichen Netze ergeben können.
Ottersbach/Trautmann heben von der Kontrolltheorie ausgehend außerdem den interaktiven Gedanken hervor: „Devianz ist nicht nur das Resultat bestimmter sozialer Umstände, in denen das Individuum lebt, sondern führt ihrerseits auch zu einer Veränderung der das Individuum umgebenden Umwelt.“ Die Bedeutung der biographischen Entwicklung darf aber auch nicht überbetont werden, weil einzelne Ereignisse wie der Erhalt einer neuen Arbeitsstelle einen starken Einfluss ausüben und damit Delinquenzentwicklung verhindern kann.[17]
3.6 Frustrations-Aggressions-Hypothese
Die von John Dollard und Miller entwickelte Frustrations-Aggressions-Hypothese beschreibt deviantes Verhalten als eine Folge des Zusammenhangs von Frustration und Aggression: Demnach reagiert ein Individuum aus Enttäuschung über ein nicht erreichtes Ziel mit Aggression, die wiederum zu kriminellem Verhalten führen kann. Die Delinquenz wiederum führt zu neuen Frustrationserfahrungen und einer sinkenden Frustrationstoleranz. Nicht-aggressive Vergehen sind damit allerdings nicht zu begründen. Daher müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein: Zur Aggression muss etwa durch einen Defekt oder eine Unterentwicklung eine eher an der Gegenwart orientierte Denkensweise des Delinquenten kommen, der meist zeitverzögerte Sanktionen weniger gut antizipieren kann. Nach Lamnek ist delinquentes Verhalten mit dieser Hypothese bei einer gegenwartsorientierten Unterschicht, in der der Ausländeranteil höher ist als in höheren Schichten, eher zu erklären als bei zukunftsorientierten Mittelschicht.[18] Wie die meisten Theorien der Ursachenforschung ist sie dementsprechend auch nur eingeschränkt nutzbar.
3.7 Die Theorie der Neutralisationstechniken
Zur Frage, weswegen sich einige Menschen delinquent verhalten, obwohl sie wenigstens teilweise gesamtgesellschaftlich gültige Normen internalisiert haben, wurde die Theorie der Neutralisation entwickelt. Nach Graham Matza und David Sykes kann ein Individuum die Situation fehlender Anerkennung seines eigenen, nicht-konformen Handelns kompensieren durch Rechtfertigung, die nur vom Delinquenten als gültig angesehen wird. Der sich „permanent entschuldigende Versager“ lehnt Verantwortung ab, verneint oder verharmlost seine Taten, lehnt eine Identifizierung mit seinen Opfern ab und beruft sich auf höhere, nicht hinterfragbare Instanzen ideologischen oder religiösen Ursprungs. Ins Unterbewusste verdrängt, dienen die Neutralisationstechniken so der Freisprechung von Schuld. Diese Theorie bleibt aber hinsichtlich des Einflusses gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Bedingungen der Psyche wenig aussagekräftig. Auch der Grad des Einflusses ist unklar, also ab welcher Stärke diese Techniken zu abweichendem Verhalten führen.[19]
3.8 Der ökologische Ansatz der Chicagoer Schule
Nach Shaw und McKay determiniert die ökologische Situation eines Wohngebiets, etwa durch fehlende Infrastruktur, Slums und andere ungünstige Entwicklungsbedingungen, die Persönlichkeit und das Verhalten...