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Krippen: Wie frühe Betreuung gelingt

Fundierter Rat zu einem umstrittenen Thema

VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783407224231
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Das erste populäre Buch zu dem Thema, das seit Monaten die Gemüter erhitzt: der geplante Ausbau der Kinderkrippen. Herausgeber und Autoren - alles erfahrene Praktiker und Wissenschaftler - versachlichen die Debatte mit differenzierten Analysen und konkreten Beispielen. Ein Buch, das die politische und fachliche Diskussion auf den Punkt bringt. Die Bundesregierung plant, bis zum Jahr 2013 etwa für jedes dritte Kind unter drei Jahren einen Krippenplatz vorzuhalten. Wird damit die Förderung der ganz Kleinen optimiert oder werden sie mangels mütterlicher Betreuung verwahrlosen? Dieses Buch hält sich an die Fakten: Wie sieht die Realität aus, was ist eine gute Krippe und welche zukunftsweisenden Konzepte aus der Praxis gibt es? Chancen, aber auch Risiken von Krippenerziehung werden verständlich beschrieben. Die Autoren legen besonderes Gewicht auf die Frage, wie wichtig die Betreuung durch Mutter und Vater ist und geben praktische Ratschläge, wie Eltern eine gute Krippe finden. Mit Beiträgen von: Prof. Dr. Lieselotte Ahnert, Lehrstuhl für Entwicklungsförderung, Universität Köln Dr. Joachim Bensel, Verhaltensbiologe, Kandern PD Dr. Martin Dornes, Soziologe, Entwicklungspsychologe und Erfolgsautor, u.a. »Der kompetente Säugling«, »Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung«, Frankfurt am Main Siegrid Ebert, Dipl. Psych., langjährige Vorsitzende des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes, Berlin PD Dr. Gabriele Haug-Schnabel, Verhaltensbiologin, Kandern Dr. Èva Hédervári-Heller, Diplom-Pädagogin und Analytische Kindertherapeutin, Frankfurt am Main Kornelia Schneider, Diplom-Pädagogin, Deutsches Jugendinstitut, München Prof. Dr. Susanne Viernickel, Diplom-Pädagogin, Alice-Salomon-Fachhochschule, Berlin Prof. Dr. Wiebke Wüstenberg, Diplom-Pädagogin, Fachhochschule Frankfurt am Main

Prof. Dr. Jörg Maywald ist Soziologe, Geschäftsführer der 'Deutschen Liga für das Kind' und Sprecher der 'National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland'. Bernhard Schön, M.A., Erziehungswissenschaftler, ist Lektor und Autor erfolgreicher Sachbücher für Eltern

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Leseprobe

Martin Dornes

Mütterliche Berufstätigkeit und kindliche Entwicklung1


Entwicklungspsychologische Untersuchungen2

Die Folgen früher mütterlicher Berufstätigkeit und damit verbundener nichtelterlicher Betreuung werden derzeit vor allem für drei Bereiche der kindlichen Entwicklung untersucht: die Bindungsqualität, die kognitive Entwicklung und die Aggressionsentwicklung.

Bindungsqualität

Eine zentrale Aussage der von John Bowlby und Mary Ainsworth begründeten Bindungstheorie besagt, dass es, in Abhängigkeit von der Sensitivität der Vater- bzw. Mutter-Kind-Interaktion im ersten Lebensjahr, drei Typen von Bindung des Kindes an seine Eltern gibt: sichere Bindung, unsicher-ambivalente Bindung und unsicher-vermeidende Bindung. Sichere Bindung gilt als »gut«, die beiden anderen Bindungsformen als weniger wünschenswert, allerdings nicht als pathologisch. Entsprechend liegt das Hauptaugenmerk der Bindungsforschung auf der Frage, ob frühe und extensive nichtelterliche Betreuung von Kindern vermehrt zu unsicherer Bindung an die Eltern führt. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass die Bindungsqualität nicht beeinträchtigt wird, wenn das Kind bei Aufnahme der Berufstätigkeit drei Jahre oder älter ist. Mehr oder weniger strittig ist eigentlich nur die mütterliche Vollzeitberufstätigkeit (> 20–30 Stunden pro Woche) in den ersten zwei oder drei Lebensjahren.

Die neuesten diesbezüglichen Forschungsergebnisse besagen, dass die Qualität und Sensitivität der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr ziemlich robust die spätere Bindungsqualität bestimmt und dass nichtelterliche Betreuung wenig Einfluss darauf hat. Nichtelterliche Betreuung beeinträchtigt die Bindungsqualität nur dann, wenn die Mutter-Kind-Beziehung schon vorbelastet ist. Dann allerdings kann sie unter Umständen auch nützen: In der Gruppe der am wenigsten sensitiven Mütter war – einer US-amerikanischen Studie zufolge – die Zahl der unsicher gebundenen Kinder geringer, wenn sich die Kinder in guter nichtelterlicher Betreuung befanden, als wenn diese schlecht war. Sowohl die »dual-risk«-Hypothese als auch die Kompensationshypothese sind also zutreffend. Insensitive Mutter-Kind-Interaktion schafft ein Risiko für unsichere Bindung, das erhöht wird, wenn ungünstige Fremdbetreuungsbedingungen hinzukommen, und vermindert wird, wenn sie besonders günstig sind (für Details s. Dornes 2006, Kap. 7).

Drei weitere Befunde sind erwähnenswert. Zum einen zeigt sich eine geringfügige Einbuße der harmonischen Interaktionsqualität – nicht der Bindungsqualität – im Zusammenhang mit extensiver nichtelterlicher Frühbetreuung. Der Effekt ist allerdings so gering (diese Form der Betreuung erklärt nur 2 % der Varianz der Interaktionsqualität), dass seine Relevanz fraglich erscheint. Die größte Bedeutung für eine harmonische Interaktionsqualität hat das Bildungsniveau der Mutter (gemessen an der Höhe ihres Ausbildungsabschlusses). Daraus folgt eine gänzlich unökonomische Konsequenz für gut gebildete Frauen: Sie sind es, die mit ihren Kindern am kompetentesten umgehen. Bildung bildet, auch für den Umgang mit Kindern.

Nun der zweite Befund: Schlechte nichtelterliche Betreuung – wie sie etwa in der Haifa-Studie von Sagi u. a. gegeben war und unter anderem in einem Betreuer-Kind-Verhältnis von 1:17 zum Ausdruck kam – beeinträchtigt sehr wohl auch die Mutter-Kind-Bindung. Damit extensive nichtelterliche Betreuung keinen nachteiligen Einfluss auf die Bindungsqualität hat, müssen Mindeststandards hinsichtlich der Kompetenz des Betreuungspersonals, der Stabilität der Beziehungen und dem Betreuer-Kind-Verhältnis gegeben sein. Bei Kindern zwischen null und zwei Jahren wird ein Verhältnis von 1:3 empfohlen.

Der dritte Befund lautet: Kinder aus solchen Krippen sind einer australischen Untersuchung zufolge (dort war das Betreuer-Kind-Verhältnis 1:5; Love u. a. 2003) genauso häufig sicher an ihre Mutter gebunden wie Kinder, die von ihren Müttern betreut wurden, und sogar häufiger als Kinder, die von Tagesmüttern betreut wurden.

Zusammengefasst gilt: Die Bindungsqualität des Kindes zu seiner Mutter wird auch durch extensive nichtelterliche Betreuung in den ersten Lebensjahren unter den angegebenen Bedingungen in der Regel nicht beeinträchtigt.3

Kognitive Entwicklung

Vergröbert man die diversen vorliegenden Befunde zum Zwecke einer summarischen Zusammenfassung, so kann man zwei Dinge festhalten. Zum einen ist unbestritten, dass qualitativ hochwertige Betreuung, egal ob elterlich oder nichtelterlich, einen förderlichen Einfluss auf die kognitive und sprachliche Entwicklung hat. Zum anderen unterscheiden sich extensiv außer Haus betreute Kinder in kognitiver und sprachlicher Hinsicht nicht wesentlich von denen, die ausschließlich von ihren Müttern betreut werden. Eine einschlägige Untersuchung kommt zu folgendem Ergebnis: »In den meisten Fällen erzielten Kinder in mütterlicher Vollzeitobhut ähnliche Werte wie nichtelterlich betreute Kinder (...). Als Gruppe unterschieden sich Kinder, die ausschließlich von ihren Müttern betreut wurden, nicht konsistent von denen in nichtelterlicher Betreuung ... Unsere Ergebnisse liefern also keine Hinweise dafür, dass frühe und extensive nichtelterliche Betreuung als solche von Vor- oder Nachteil für die kognitive und sprachliche Entwicklung der Kinder ist.«

Diese Befunde können noch feindifferenziert werden. In den neuesten Veröffentlichungen der NICHD-Studie (NICHD 2006, 2007)4 wurde herausgefunden, dass manch kognitiver Gewinn, der durch ausgedehnte nichtelterliche Betreuung zeitweise eingetreten war, im weiteren Zeitverlauf wieder verloren ging. Als stabil bis ins Alter von zwölf Jahren erwies sich nur ein leichter Vorsprung in der Sprachfähigkeit (vocabulary), während zwischenzeitliche Vorsprünge im Rechnen und Lesen wieder verloren gegangen waren. Die australische Studie, bei der die Kinder in zertifizierten Krippen mit Qualitätsstandards untersucht wurden (Love et al. 2003), kommt zu dem Ergebnis, dass durch die Betreuung in solchen Kinderkrippen bessere Ergebnisse in verschiedenen Bereichen der kognitiven Entwicklung erzielt werden als bei informeller Betreuung durch Angehörige, Tagesmütter oder Freunde.

Insgesamt kann man aber festhalten, dass unter Bedingungen früher nichtelterlicher Betreuung in der Regel keine wesentlichen bzw. dauerhaften Vor- oder Nachteile im kognitiven Bereich feststellbar sind.

Aggressionsentwicklung

Der dritte Themenkomplex, die Aggressionsentwicklung, durchzieht die Diskussion wie ein roter Faden, wohl wegen des impliziten sozialpolitischen Sprengstoffs. Viele Studien sind mittlerweile der Frage nachgegangen, ob es einen Zusammenhang zwischen extensiver nichtelterlicher Betreuung in den ersten Lebensjahren und dem gehäuften Auftreten von späteren Disziplin- oder Aggressionsproblemen gibt. Die bisher dazu vorliegenden Ergebnisse sind widersprüchlich. Es gibt sowohl Studien, die einen Zusammenhang festgestellt, als auch solche, die keinen gefunden haben (ausführlicher Überblick bei Dornes 2006, Kap. 7).

Die als Mutter aller Studien geltende NICHD-Studie ist diesbezüglich ebenfalls nicht eindeutig. Etwas vereinfacht ausgedrückt sind ihre neueren Ergebnisse folgende (NICHD 2007): Kinder mit einer Geschichte nichtelterlicher extensiver Frühbetreuung sind im Alter von drei Jahren nicht aggressiver als die zu Hause von der Mutter betreuten; im Alter von viereinhalb Jahren sind sie ein bisschen aggressiver; im Alter von acht Jahren ist dieses »Bisschen« wieder verschwunden; und im Alter von zwölf Jahren ist es wieder aufgetaucht. Nach der derzeitigen Befundlage wird man also davon ausgehen können, dass es zwischen früher, extensiver, nichtelterlicher Betreuung und erhöhter Aggressivität keinen dauerhaften, wohl aber einen zeitweise auftretenden Zusammenhang gibt.

Diese Feststellung muss durch vier weitere Hinweise präzisiert werden. Erstens gibt es keinen Schwellenwert zwischen Dauer der nichtelterlichen Betreuung und erhöhter kindlicher Aggressivität. Es ist also nicht so, dass erhöhte Aggressivität, wenn sie mit viereinhalb Jahren erstmals feststellbar ist, erst ab einer Fremdbetreuungsdauer von 20–30 Stunden auftritt. Vielmehr gibt es eine lineare Dosis-Effekt-Beziehung: 15 Stunden Fremdbetreuung haben einen stärkeren Effekt als 10 Stunden, 25 Stunden einen stärkeren als 20 Stunden etc.

Zweitens: Insgesamt waren aber alle Effekte gering. Dies gilt auch für das Alter von zwölf Jahren. Eine klinisch relevante Erhöhung der Aggressivität konnte nirgends und zu keinem Zeitpunkt gefunden werden. Zur Veranschaulichung kann man die Befunde quantifizieren. Jedes Jahr in extensiver nichtelterlicher (Krippen-)Betreuung erhöht die Aggression im Schnitt um 1 %. Dies ergibt bei maximal fünf Jahren nichtelterlicher Betreuung – danach kommen alle Kinder in die Schule – eine Maximalzunahme von 5 %.

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