1. Einleitung
Die Firma Krupp hatte schon im Dritten Reich eine lange Tradition, der sie die zweifelhafte Ehre verdankte, als „Waffenschmiede des deutschen Volkes“[1], „Deutschlands Kanonenkönige“[2] oder als „Rüstungsschmiede des Reiches“ dargestellt zu werden. Auf deutscher Seite galten Firma und Familie Krupp als vorbildlich und patriotisch, auf der Seite der Gegner als Verkörperung von Hochmut und Angriffsgeist.[3]
Firma und Familie haftete ein „Krupp- Mythos“ an, der unter anderem dazu führte, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Inhaber der Firma, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach stellvertretend für seinen Vater in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zu Enteignung und Festungshaft verurteilt wurde, ein Urteil, das obwohl wenige Jahre später aufgehoben, von bemerkenswerter Härte war. Dieses Urteil drückt klar die Überzeugung aus, dass die Industrie, insbesondere die Rüstungsindustrie, einen Teil der Schuld sowohl am Regime als auch am Zweiten Weltkrieg trage.
Die Theorien, welche die Industrie und Krupp als Steigbügelhalter Hitlers darzustellen versuchten, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg weiter gesponnen und trieben ihre wohl farbenprächtigsten Blüten in den Werken William Manchesters, bis sie vor nicht allzu langer Zeit wissenschaftlich wiederlegt wurden.[4] Firma und Familie Krupp haften wohl aufgrund ihrer wechselhaften Geschichte ein Mythos an, der einige Autoren in der Krupp- Dynastie gar nach den Wurzeln des deutschen Nationalcharakters suchen lässt.[5] Auch der Bereich der betrieblichen Sozialpolitik des Konzerns ist stets sehr widersprüchlich beurteilt worden: Sahen die einen darin ein vorbildliches soziales Engagement der Familie und des Betriebs, so waren die Sozialleistungen für die anderen nur ein simpler Bestechungsversuch der Arbeiter, um diese noch vollkommener auszubeuten.
Die Argumentation beider Seiten sollte oft durch eine bestimmte Sichtweise von der Familie oder dem gerade verantwortlichen „Krupp“[6] gestützt werden.
Im Zuge der seit den 1980er Jahren immer beliebter werdenden mikroökonomischen Studien zur Geschichte des Dritten Reiches ist es an der Zeit, sowohl das von Krupp überlieferte[7] Geschichtsbild als auch die verwandte Methode der Geschichtsschreibung zu hinterfragen. Einen ersten Anstoß in diese Richtung liefert Werner Abelshauser, der durch seine Fragestellung „Krupp- Rüstungsschmiede der Nation?“[8] darauf hinweist, dass bei genauer Betrachtung des vorhandenen Zahlenmaterials zu Umfang und prozentualem Anteil der im Hause Krupp erzeugten Rüstungsgüter das überlieferte Bild zumindest fraglich wird.
Aber es gilt nicht nur über ein Geschichtsbild hinwegzukommen, sondern auch über eine bestimmte Art der Geschichtsschreibung.
Gustav Krupp von Bohlen und Halbach und Alfried Krupp von Bohlen und Halbach sind nicht der Kruppkonzern, sondern größter Anteilseigner bzw. Inhaber der Firma. Erklärungsversuche, die sich allein auf Motive oder Einstellungen des jeweiligen Krupp- Familienoberhaupts berufen, sind sehr fragwürdig, da auch größter Anteilseigner bzw. Inhaber der Firma sich an der internen Erwartungsbildung beteiligten, bzw. sich an Bezugssystemen wie der Marktlage, Politik oder der Marktwirtschaft orientieren mussten, auf die sie geringen bis keinen Einfluss hatten.
Natürlich wäre es verfehlt, die generelle Rolle führender Persönlichkeiten abstreiten zu wollen. Es ist jedoch wichtig im Blick zu behalten, dass auch diese Personen in verschiedene Systeme eingebunden waren, welche ihnen zwar gewisse Entscheidungsspielräume einräumten, sie auf der anderen Seite aber auch banden. In Situationen mit tatsächlicher Entscheidungsfreiheit kann die Persönlichkeitsstruktur von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach bzw. Alfried Krupp von Bohlen und Halbach also durchaus Einzelentscheidungen erklären helfen, für langfristige Entscheidungsketten und Handlungsroutinen, welche das Organisationshandeln oder wirtschaftliche Rahmenbedingungen betreffen, sicher nicht. Die nachfolgende Arbeit wird also versuchen, Handeln und Entscheidungen des Kruppkonzerns der Jahre 1933- 1939 in den Bereichen Produktion, Betriebsorganisation und Sozialpolitik unter dem Einfluss der von den Nationalsozialisten veränderten politischen und sozialen Bedingungen darzustellen.
1.1 Methodisches Vorgehen und Forschungsstand
Die Frage nach Produktion, Betriebsorganisation und Sozialpolitik der Fried. Krupp AG im Zeitraum 1933- 39 ist eine Frage nach dem Verhalten eines Unternehmens unter den von nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik geschaffenen Bedingungen. Dadurch ergeben sich zwei zentrale Problemkomplexe, welche die historische Sicht auf den Gegenstand bedingen. Zum einen wäre dies die Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus bis zum heutigen Stand, zum anderen die unterschiedlichen Möglichkeiten, das Handeln und Verhalten von Unternehmen oder Organisationen zu erklären.
Zur Erklärung des Handelns und der Entscheidungsfindung in Unternehmen gibt es verschiedene Möglichkeiten, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Dies ist insofern ein Novum, da die meisten unternehmenshistorischen Studien zur Zeit des Nationalsozialismus keine oder kaum generelle Fragen an ihren Forschungsgegenstand richten. Eine der frühen Ausnahmen bildet Ludolf Herbst[9], der neben der naturwissenschaftlichen Nutzung der Chaostheorie deren geisteswissenschaftliche Brauchbarkeit darstellt. Sein Ansatz ist die Chaostheorie, welche u.a. zur Berechnung exponentiellen Wachstums und dessen destabilisierenden Folgen auf vormals stabile Systeme dient, auf gesellschaftliche Systeme zu übertragen und so der geisteswissenschaftlichen Nutzung zu erschließen. Gesellschaften sind vernetzte Systeme, in denen es die unterschiedlichsten positiv und negativ rückgekoppelten Regelkreise gibt. Durch Vernetzung, negative Rückkoppelung und begrenzte Ressourcen wird exponentielles Wachstum einzelner Regelkreise verhindert und so Stabilität gewahrt. Gelingt es einem Faktor, aus seinem Regelkreis auszubrechen und exponentiell zu wachsen, besteht die Gefahr, dass weitere der miteinander vernetzten Regelkreise außer Kontrolle geraten.
Für die geisteswissenschaftliche Nutzung ist dies besonders interessant, wenn es sich bei dem ausbrechenden und exponentiell wachsenden, „entkoppelten“ Faktor z.B. um eine Idee, ein bestimmtes Verhalten oder bestimmte Vorstellungen handelt. Deren Verbreitung ist in vielen Fällen exponentiell zu beschreiben, und gerade stark vernetzte industrielle und postindustrielle Gesellschaften können über die Massenmedien schnell vollständig durchsetzt werden. Herbst zeigt dies in seinem Aufsatz am Beispiel der Entkoppelung der Gewalt während der NS- Zeit. Dass der 1999 erschienene Aufsatz eine der frühesten Arbeiten zu allgemeinen Theorien und zur systemtheoretischen Erfassung der Eingriffsentscheidungen während der NS- Herrschaft ist, zeigt den deutlichen Nachholbedarf auf diesem Gebiet. Die Übertragung einer naturwissenschaftlichen Theorie auf die Geisteswissenschaften ist allerdings nicht unproblematisch. In der ursprünglichen Verwendung dient die Chaostheorie zur Beschreibung des Zerfalls eines stabilen Systems ins Chaos. Dieses stabile System kann im naturwissenschaftlichen Versuchsaufbau jederzeit wieder hergestellt werden und die Ergebnisse sind so jederzeit wiederhol- und belegbar. Für die Nutzung in den Geisteswissenschaften gilt diese Vorraussetzung nicht: Ein gesellschaftliches System stellt zu jeder Zeit nur die Momentaufnahme eines dynamischen Systems dar, so dass man nicht von einem stabilen Urzustand sprechen kann. Lediglich die relative Stabilität einzelner gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und ihr Zerfall können festgestellt und beschrieben werden, jedoch ohne den Anspruch auf Wiederhol- und Belegbarkeit des Ergebnisses. Am besten zur Nutzung der Chaostheorie eignen sich also Konstanten in Gesellschaften, die historisch betrachtet relativ lange stabil bleiben, wie z.B. der christliche Glaube sowie andere Wert- und Normvorstellungen. Die Nutzung der Chaostheorie ist jedoch nicht ausschließlich für die Verbreitung von Ideen und Vorstellungen in Gesellschaften geeignet, mit ihr lassen sich auch einige Folgen von Eingriffen in andere komplexe Systeme beschreiben.
Die Marktmechanismen sind z.B. so ein komplexes System, das schon früh Gegenstand diverser Lenkungs- und Veränderungsversuche war. Deshalb hat sich auch in der liberalen Wirtschaftstheorie sehr früh die aus Beobachtung gewonnene Erfahrung niedergeschlagen, dass Eingriffe in komplexe Systeme nicht unproblematisch sind.[10] Obwohl die Marktmechanismen ziemlich robust und elastisch sind, was punktuelle oder zeitlich begrenzte Intervention sowie die Veränderung einzelner, kleiner, schlecht vernetzter Regelkreise am Rande des Systems betrifft, so erreicht die Belastbarkeit schnell ihre Grenzen, wenn Normen der Rahmenordnung verändert werden.[11] In einer Marktwirtschaft sind die wichtigsten Normen der Rahmenordnung die Handelsfreiheit und die Freiheit der Preisbildung[12]. Werden hier Veränderungen...