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Kunst der Gastlichkeit

22 Anregungen aus der deutschen Geschichte und Gegenwart

AutorErwin Seitz
VerlagInsel Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783458742999
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR


Erwin Seitz, geboren 1958 in Wolframs-Eschenbach, lernte Metzger und Koch, danach studierte er Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Berlin und Oxford. Er lebt als Gourmetkritiker, freier Journalist und Autor gastrosophischer Bücher in Berlin. Sein praktisches Wissen vermittelt er in Kochkursen und als Dozent im Studiengang Food Management an der Dualen Hochschule in Heilbronn.

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Leseprobe

Einleitung


 

Erfindung der Gastlichkeit


Seit sich die Spezies des Menschen entwickelt, rangeln zwei starke Gene in der menschlichen Brust: das eigensüchtige – und das soziale. Das erstere rührt daher, dass der Mensch seinem Ursprung nach ein wildes Tier ist, das auf die Jagd geht und Beute macht. Auch das Zusammenleben untereinander war von Strategien des Hetzens bestimmt: Konkurrenz, Gewaltbereitschaft, Überleben des Stärkeren. Steven Pinker zeichnet in seinem Buch über »Gewalt« ein solches Bild – und ein Gegenbild.

Der moderne Mensch, der Homo sapiens, wörtlich der wissende Mensch, trat vor rund zweihunderttausend Jahren auf die Bühne und erreichte seine jetzige äußere Form: den aufrechten Gang für die gute Übersicht, ein hochgebautes Gehirn für neue Denkmöglichkeiten, verbesserte Stimmbänder, die eine komplexe Sprache erlaubten, und geschickte Hände für das Handwerk. Neben dem ichbezogenen Gen festigte die Natur im Homo sapiens mehr und mehr das soziale, weil es sich immer häufiger als lebenstüchtiger erwies: mit Fähigkeiten wie Einfühlungsgabe, Selbstbeherrschung, Mäßigung, Verständigung, Verfeinerung.

Vor rund hunderttausend Jahren wanderte der Homo sapiens von Afrika über den Nahen Osten auch nach Europa aus. Die Einwanderer waren noch Steinzeitmenschen und erlebten in den nördlichen Breiten die letzte Eiszeit. An den Randzonen von Eis und Schnee gab es kurze Sommer und üppige Graslandschaften, wo man Mammuts oder Rentiere jagen konnte, auch hierzulande auf der Schwäbischen Alb. Dortige Höhlenfunde, die rund vierzigtausend Jahre alt sind, bezeugen die ersten figürlichen Kunstwerke: etwa geschnitzte Mammuts aus Mammutelfenbein, ebenso Flöteninstrumente. Man veranstaltete vermutlich frühe Feste mit Musik und Tanz. Rhythmische Klänge, vergorene Beerenfrüchte und reichliches Mammutfleisch dürften so besänftigend wie berauschend gewesen sein und das Gemeinschaftsgefühl gestärkt haben.

Überschaubare Gruppen von zwanzig bis zweihundert Menschen schlossen sich mit Hilfe gastlicher Rituale zu größeren Verbänden zusammen. Der Bau der berühmten Kultanlage von Göbekli Tepe im Osten der heutigen Türkei wurde vor rund zwölftausend Jahren von Jägern und Sammlern begonnen. Unmöglich, dass eine einzelne Sippe in der Lage gewesen wäre, diese kolossale Kultstätte auf einem Höhenkamm emporwachsen zu lassen: mit Kreisen aus meterhohen Steinpfeilern. Die Bildreliefs darauf lassen noch keine Haustiere erkennen, sondern wilde Tiere und Fabelwesen.

Bereits dieser Beginn der Künste: der Steinbaukunst, der bildenden Kunst, der Kunst der Gastlichkeit, der Musik und des Tanzes, kam einer Zäsur in der menschlichen Entwicklung gleich – und mit dem Ende der letzten Eiszeit, als die Kultanlage von Göbekli Tepe fertig wurde, erfolgte die nächste Umwälzung: die Erfindung der Landwirtschaft mit Haustieren und Ackerbau.

In Göbekli Tepe pflegten die Jäger und Sammler bei Festen üppig zu schmausen, wie es Berge von Tierknochen bezeugen. Es blieb gar nichts anderes übrig, als mit der Zeit wilde Tiere zu zähmen und zu züchten, um den großen Bedarf an Fleisch bei bestimmten Feierlichkeiten zu decken. Der sogenannte Fruchtbare Halbmond wurde zum Ursprungsgebiet von Viehzucht und Ackerbau: mit Mesopotamien, dem Land zwischen Euphrat und Tigris im heutigen Irak, mit dem östlichen Teil der Türkei, Syriens und Palästinas, sich ausdehnend bis nach Ägypten. Die wichtigste Frucht des Ackers stellte das Getreide dar: für Getreidebrei, Brot und Bier.

Eine weitere Umwälzung ließ nicht lange auf sich warten. Auf der Grundlage reicherer Ernährung und vielseitigerem Handwerk entstanden in Mesopotamien vor rund fünftausend Jahren die ersten wirklich großen Städte und Königreiche. Es gab auf diese Art nicht zwei, sondern drei menschliche Urveränderungen: erstens den Beginn von Kunst und Gastlichkeit vor rund vierzigtausend Jahren; zweitens die Erfindung der Landwirtschaft mit Viehhaltung und Ackerbau vor rund zwölftausend Jahren; drittens die Gründung von Städten und Stadtstaaten vor rund fünftausend Jahren.

Weiter im Osten, zwischen dem Jangtse und dem Gelben Fluss im heutigen China, passierte dasselbe, nur ein wenig später. Jan Morris stellt in seinem Buch »Wer regiert die Welt?« diese zwei zivilisatorischen Ur-Pole vor und vergleicht sie miteinander: den »Westen«, der aus dem Fruchtbaren Halbmond hervorgeht, und den »Osten«, der sich zwischen dem Jangtse und dem Gelben Fluss herausbildet, ohne dass dabei allzu große Unterschiede bemerkbar wären. Die Menschen waren in unterschiedlichen Regionen der Welt ähnlich einfallsreich, wenngleich zeitlich leicht versetzt. Hermann Parzinger dehnt in seinem Buch »Die Kinder des Prometheus« den Blick auf alle Kontinente aus, um die vor- und frühgeschichtliche Entwicklung der Menschheit zu erkunden.

Der Prozess der Befriedung und Zivilisation erfuhr mit der Gründung der ersten Städte in Mesopotamien einen entscheidenden Schub. Uruk wurde zur ersten großen Stadt im »Westen«, es folgten Ur, Babylon, Assur. Die Gastlichkeit bildete von nun an feinere Formen aus und wurde regelrecht zu einem Instrument der Staatskunst. Ein beeindruckendes Zeugnis davon gibt die »Standarte von Ur«, die im Grab einer Königin aus der Zeit zwischen 2600 und 2400 v. ‌u. ‌Z. gefunden wurde und sich heute im Britischen Museum in London befindet. Es handelt sich um eine Holztafel, die auf beiden Seiten mit Mosaiken bebildert ist. Die zwei Seiten der Tafel verdeutlichen die wesentlichen Züge königlicher Herrschaft: hier militärische Gewalt – dort höfische Kultur.

Auf der einen Seite marschiert in drei Reihen die Armee auf, angeführt vom König. Auf der anderen Seite erscheinen in zwei Reihen die Bürger, die Steuern und verschiedene Naturalien, Ziegen, Schafe und Rinder, am königlichen Hof abgeben. Darüber, in der dritten Reihe, thront der König und veranstaltet für sein nächstes Gefolge, wohl vornehme Krieger, Beamte und Priester, ein Gastmahl. Niemand trägt irgendwelche Waffen, alle erscheinen in Zivil, sitzen bequem auf Stuhlsesseln, erhalten von Dienern die Trinkbecher, während ein Musiker auf der Leier spielt. Die Herren prosten sich zu und entfalten eine kultivierte Aura. Ähnliche Szenen erlebt man heute noch bei einem Staatsbankett: Der Gastgeber erhebt das Glas, alle Gäste erheben ebenfalls das Glas und bekunden ihre Verbundenheit. Man trinkt gemeinsam und fühlt sich beschwingt.

Mit solchen Vergnügungen band seinerzeit der Herrscher seine Gefolgschaft an sich und hielt sie bei guter Laune. Noch war es offenbar bloß die höfische Gesellschaft, welche die neuen Güter der Zivilisation verschmausen konnte; doch der Kreis der Leute, die Gastlichkeit pflegten, wuchs. Es war von Anfang an nicht nur der Königshof, sondern auch der Kommerz, der den Prozess der Befriedung und Zivilisation voranbrachte. Obwohl alle Bewohner des Landes unfreie Untertanen des Königs waren, gab es in den Städten schon so etwas wie eine bürgerliche Oberschicht.

Ein Handelsarchiv aus Tontafeln, das aus der Zeit um 2000 v. ‌u. ‌Z. in der vorderasiatischen Stadt Kanīš gefunden wurde, gibt Aufschluss über die Gruppe der Fernkaufleute. Händler aus Assur am Tigris unterhielten in Kanīš, rund tausend Kilometer vom Heimatort entfernt, eine Handelsstation, geschützt von den lokalen Machthabern. Aus den Befunden geht hervor, dass die Geschäftsleute ihren Handel privat und auf eigenes Risiko betrieben, ohne durch irgendeinen Palast gedeckt zu sein. Neben Handelsbriefen und Transportverträgen gab es auch bereits Krediturkunden.

Die Kaufleute wollten ihre Handelspartner zufriedenstellen und auf Dauer gute Geschäfte machen. Es kam darauf an, Einfühlungsgabe zu entwickeln, sich Manieren anzueignen, Vertrauen zu schaffen und aufgeschlossen gegenüber dem Fremden zu sein. Die Händler aus Assur heirateten schließlich auch Frauen aus Kanīš und trugen so oder so das ihrige zu friedlichen Verflechtungen bei. Neben der höfischen Gesellschaft war es von jeher die wohlhabende bürgerliche Schicht, die den Vorgang der Verfeinerung förderte: sei es im Hinblick auf das soziale Verhalten, sei es im Hinblick auf die materielle Kultur. Wo die Fernhändler auftraten, blühte die private wie die gewerbliche Gastlichkeit auf, entstanden Schenken und Herbergen.

Etwa in derselben Periode, in der die Standarte von Ur gefertigt wurde, regierte in Uruk König Gilgamesch, wie es aus Königslisten hervorgeht. Er war vermutlich die historische Ursprungsgestalt für das Gilgamesch-Epos: das erste Epos der Weltliteratur. Vorläufig wohl nur mündlich überliefert, konnten aus der Periode zwischen 1800 und 1600 v. ‌u. ‌Z. bereits größere Fragmente in Keilschrift gefunden werden, während der Haupttext zwischen 700 und 600 v. ‌u. ‌Z. in Ninive niedergeschrieben wurde.

Auch dieses Werk beleuchtet die eminente Rolle der Gastlichkeit bei der Entstehung der Zivilisation, eng verknüpft mit der Galanterie. König Gilgamesch und sein Gefährte Enkidu sind die männlichen Helden: ruhm- und ehrsüchtige Kraftprotze. Sie werden, soweit möglich, von Frauen gezähmt und gemäßigt: bemerkenswerterweise auch von einer Dirne und einer Schenkin, wobei die Grenzen zwischen Priesterin, Palast- und Haremsdame, Kultdirne, Dirne und Schenkin fließend waren.

Schamchat, die Dirne am königlichen Hof in Uruk, wird in die Steppe geschickt, um den wilden Enkidu für die Zivilisation zu gewinnen, damit er der Beschützer des Königs werde. Schamchat schafft es, indem sie sage und schreibe sieben Tage und Nächte lang mit diesem Kraftpaket schläft und die Liebe genießt. Zu guter Letzt...

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