Mögliche Effekte bei Einwirkung auf Kyusho
Schmerz
In den meisten Fällen soll der Gegner durch Schmerz zur Aufgabe eines bestimmten Vorhabens gebracht werden (z. B. Lösen eines Griffs), verbunden mit der Schaffung von „Lücken“ für Folgetechniken, manchmal ist der Schmerz Begleiterscheinung (z. B. bei Gelenkluxationen).
Die International Association for the Study of Pain1 definiert Schmerz folgendermaßen:
„Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder drohender Gewebeschädigung einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache.“
Die Sinnesempfindung wird von Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) über spezielle Nervenbahnen und den Thalamus an das Zentralnervensystem (ZNS) weitergeleitet und führt zur Schmerzwahrnehmung.
Die Verteilung dieser Rezeptoren auf der Körperoberfläche variiert je nach Körperregion (bis zu 200/cm2 Haut). Darüber hinaus findet man Nozizeptoren auch in den Muskeln und in den Hüllen der Eingeweide; die Eingeweide selbst sowie das Gehirn haben keine Schmerzrezeptoren.
Einige der Kyusho-Techniken wirken auf Nerven ein, wodurch es zu einer unkontrollierten Signalbildung kommen kann (z. B. Kribbeln in der Kleinfingerseite der Hand bei Reizung des Nervus ulnaris), des Weiteren kann es durch die mechanische Beeinträchtigung des Nervs zu Gewebeläsionen des Nervs sowie der Nervenscheide kommen. Durch Druck auf diese Nerven kommt es außerdem zu einer örtlich begrenzten Durchblutungsstörung und damit zu einer Stoffwechselstörung, die zu heftigen Schmerzen führt. Typisch ist die rasche Linderung bei Entfernung des mechanischen Problems. Eine mögliche Komplikation stellt die Entzündung des Nervs dar (Neuritis).
Die bei Einwirkung entstehenden Schmerzen werden als Neuralgie bezeichnet und breiten sich im Versorgungsgebiet des jeweiligen Nervs (Innervationsgebiet) aus.
Je öfter der entsprechende Nerv gereizt wird, desto sensibler reagiert er auf diesen Reiz und entsprechend höher ist auch die erzielte Schmerzwirkung.
Nicht jede körperliche Schädigung führt zwangsläufig zu Schmerz, verantwortlich hierfür sind Filterprozesse unseres Zentralnervensystems (Stressanalgesie; z. B. werden Verletzungen während eines Verkehrsunfalls, Wettkampfs, im Krieg oder beim Geschlechtsverkehr oft nicht bemerkt)2, während umgekehrt Schmerzen auch ohne körperliche Schädigung bestehen können (z. B. Phantomschmerz).
Ohnmacht als Folge von Schmerz
Schmerz kann aber nicht nur Folge einer körperlichen Schädigung sein, sondern auch Auslöser für Ohnmacht darstellen, dann spricht man von einer vasovagalen Synkope (andere Auslöser können sein Angst, Freude, sonstige Aufregung; auch „Boygroup-Syndrom“ genannt).
Ursache ist eine Überreaktion des vegetativen Nervensystems. Es kommt zum einen zu einer Weitstellung der Blutgefäße, sodass das Blut (v. a.) in den Eingeweiden „versickert“ und durch den verminderten venösen Rückfluss zum Herzen ein relativer Volumenmangel mit verringertem Herzschlagvolumen entsteht. Zum anderen führt es zu einer Senkung der Herzfrequenz bis hin zum Herzstillstand. Dadurch resultiert insgesamt eine Minderversorgung des Gehirns mit Blut beziehungsweise Sauerstoff mit nachfolgender Ohnmacht.
Eine vasovagale Synkope mit tödlichem Ausgang wird auch „Reflextod“, engl. reflexogenic cardiac arrest genannt. Weitere Gründe für einen derartigen tödlichen Kreislaufstillstand können (jetzt speziell im Bereich des Kampfsports) sein: der Karotissinusreflex nach einem Schlag auf die Halsschlagader, der Okulokardiale Reflex nach einem Schlag aufs Auge, ein Schlag oder Tritt gegen den Solarplexus oder ein Tritt in die Hoden. Zu unterscheiden ist von einer vasovagalen Synkope jedoch ganz klar die Bewusstlosigkeit infolge eines Schädel-Hirn-Traumas!
Wirkungen über Akupunkturpunkte
Auch auf mögliche Wirkungen im Zusammenhang mit Akupunkturpunkten und Meridianen gehen wir ein. Gerade dieser Bereich ist jedoch unter Experten der Kampfkünste heftig umstritten. Wir versuchen daher, die verschiedenen Sichtweisen kurz darzustellen.
Zum einen gibt es die Auffassung, wonach die Wirkungsweise eine psychisch-physische sei:
Seit 2006 übernehmen die Krankenkassen in Deutschland die Kosten für eine Akupunkturbehandlung bei Patienten mit Knie- und Rückenschmerzen. Die Entscheidung der Krankenkassen basiert auf Studien, die im Rahmen eines Modellprojekts mit 250.000 Testpersonen und rund 10.000 Ärzten (somit bislang die größte Studie zum Thema Akupunktur) durch die Charité-Universitätsmedizin Berlin durchgeführt wurden. Den Studienergebnissen zufolge liegt die Erfolgsrate der traditionellen chinesischen Akupunktur (TCM, „echte“ Akupunktur) bei der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen nicht wesentlich höher als bei der Scheinakupunktur, bei der bewusst „falsche“ Punkte gestochen wurden. Beide Akupunkturformen zeigten jedoch deutlich bessere Erfolge als die Standardtherapie.
Bei der Behandlung von Schmerzen des Kniegelenks waren die Scheinakupunktur und die „echte“ Akupunktur in ihrer Wirkstärke in den meisten Studien annähernd vergleichbar. Beide waren zudem der Standardtherapie ebenfalls deutlich überlegen.
Kurz gesagt, Akupunktur wirkt. Wo man hinsticht, scheint keine Rolle zu spielen.
Die Frage stellt sich daher, worauf dann die Wirkung basiert. Hier kommt dann der „Placeboeffekt“3 ins Spiel. Dieser wird von Univ.-Prof. Dr. Michael Freissmuth, Vorstand des Pharmakologischen Instituts der Medizinischen Universität Wien, als eindeutiger Teil der ärztlichen Kunst gesehen. Ähnlich sind die Aussagen des Turiner Neurobiologen Dr. Fabricio Benedetti, wonach der Kontext, in dem die Behandlung eines Patienten stattfinde, entscheidend sei. Schon das Auftreten des Arztes könne die Hirnchemie so stark verändern, dass sich dies auf den ganzen Organismus positiv auswirke.4 Der Placeboeffekt ist also nicht bloß ein psychologischer („Einbildung“), sondern es lassen sich konkrete biologische Veränderungen im Körper messen.
Jetzt drängen sich natürlich Analogien zwischen dem „Herrn Professor“ im weißen Arztkittel und dem „Großmeister“ mit schwarzem Gürtel geradezu auf. Manche Kampfkunstmeister behaupten ja sogar, ohne Berührung ihres Gegners eine Art „Distanz-K. o.“ hervorrufen zu können.5 Vielleicht hat man ja auch kurz das Bild eines amerikanischen Fernsehpredigers vor Augen, der durch die Menge der Gläubigen tobt, dem Nächstbesten die Hand auflegt, worauf dieser dann – getroffen vom Heiligen Geist – zu Boden sinkt (vgl. das „Boygroup-Syndrom“ auf der vorherigen Seite). Rituale, Symbole und Autoritäten spielen in diesem Bereich überhaupt eine große Rolle. Warum sonst sollte der Arzt ständig mit dem Stethoskop um den Hals herumlaufen? Dies hat denselben Effekt wie die Rassel des Schamanen oder der rot-weiße Gürtel eines hochgraduierten Kampfkunstmeisters: „Der Mann/die Frau ist eine Autorität, ich spüre schon die Wirkung!“
Wie weit diese Autoritätsgläubigkeit gehen kann, wurde 1961 eindrucksvoll im klassischen Milgram-Experiment dargelegt (trauriger Weise wurde es seitdem bereits mehrmals mit dem ursprünglichen Ergebnis wiederholt). Aber auch das Verhalten der anderen Gruppen- bzw. Trainingsmitglieder wirkt sich auf das eigene Verhalten und Empfinden verstärkend aus („soziale Verstärkung“).
Auf der anderen Seite gibt es die Vertreter einer Wirkungsweise, welche mit „Ki“- (oder „Chi“-)-Flüssen, Yin und Yang argumentieren, wobei diese fernöstlichen Konzepte auch immer in einem kulturellen Zusammenhang gesehen werden müssen: Wer in Anatomie unbewandert ist, kann den Schmerz bei Reizung des „Musikantenknochens“ (oder „narrischen Bandels“), genauer des „Nervus ulnaris“, durchaus als Energiefluss beschreiben. Auch Yin und Yang haben in der Neurologie ihre Entsprechung durch das sympathische und parasympathische Nervensystem.6 Der Grund, warum in den Kampfkünsten, die sich auf die Anwendung der Nervenpunkte spezialisieren, oftmals mehrere Punkte gleichzeitig oder hintereinander angegriffen werden (vgl. dazu u. a. die Bücher von George Dillman und Michael Kelly), liege darin, dass diese Stimulation eine Addierung der Reize bewirken und somit die Wirksamkeit erhöhen soll7. Die Konsequenzen daraus sind durchaus beeindruckend, weil dadurch auch die Einwirkung auf innere Organe begründet wird (zu den neurologischen Hintergründen empfehlen wir das Buch „Death touch: The science behind the legend of Dim-Mak“, von Dr. Michael Kelly).
Gerade darin ist...