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An Land kannst Du nicht schwimmen

Wie ich Olympia gewann, fast alles verlor und wieder ins Leben fand

AutorSandra Völker
VerlagOrellFüssli
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783280038703
Altersgruppe13 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
'Ich war das Siegen gewohnt, Scheitern war nie eingeplant.' - Die Weltklasse- Schwimmerin und Olympiasiegerin über ihr Leben, das in Sieg und Niederlage stets nur Extreme kannte: Und warum es sich lohnt, nie aufzugeben. Ein nachdenkliches Buch über den Spitzensport, über das Siegen und die Niederlagen des normalen Lebens. Aber auch ein Buch über die Kraft und die Zuversicht, auch tiefe Lebenskrisen überwinden zu können. Sandra Völker lebte von Hartz IV und versteigerte sogar ihre Medaillen, um über die Runden zu kommen. Doch sie gab nie auf.

Sandra Völker zählt zu Deutschlands erfolgreichsten Sportlerinnen. Sie schwamm mehrfach Welt- und Europarekorde, erhielt drei olympische sowie sagenhafte 60 Medaillen bei Europa- und Weltmeisterschaften. Sie lebt mit ihrer Familie in Lübeck.

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Leseprobe

Sich freischwimmen


Kein Zweifel, Erich Kästner liebte das Meer. Der Autor von »Das fliegende Klassenzimmer«, »Das doppelte Lottchen« oder der »Konferenz der Tiere«, geriet auf seinen Ostseereisen rund um Müritz, Warnemünde, Rostock und Bad Doberan regelmäßig ins Schwärmen. Blickte er aufs Meer, sah er »diesen atemberaubend grenzenlosen Spiegel aus Flaschengrün und Mancherleiblau und Silberglanz«. Nicht ganz so erhaben war der Blick zurück an den Strand: »Freigelassne Bäuche und Popos stehn und liegen kreuz und quer im Sande. Dicke Tanten senken die Trikots und sehn aus wie Quallen auf dem Lande«, schrieb er. Also zog er es vor, diese Welt hinter sich zu lassen und schwimmen zu gehen. Mit Hurra hinein ins Nass, wo »hinten am Horizont ein Segelschiff torkelt.«

Urlaub an der Ostsee – was für andere eine stundenlange Anreise über staugeplagte Autobahnen bedeuten kann, war für meine Familie und mich ein Fahrradausflug. In Niendorf, wo ich zum ersten Mal Delfin sein wollte, hatten meine Eltern ein Wochenendhaus gemietet. Eine Datsche, nicht groß, aber mit allem ausgerüstet, was man zum Leben am Meer braucht. Damals, in den Siebziger- und Achtzigerjahren, war die innerdeutsche Grenze in nächster Nachbarschaft, und drüben, in diesem anderen Deutschland, gab es mit geschätzten 3,4 Millionen Datschen die höchste Dichte an Gartengrundstücken auf der ganzen Welt. Offenbar hatte man auch dort eine Vorliebe fürs »Draußenleben«, die ich heute noch in mir spüre. Egal welches Wetter herrschte, wir Kinder hielten uns den Tag über am Wasser auf. Irgendjemand hatte immer ein Surfbrett, ein Gummiboot, eine Luftmatratze. Es gab jede Menge Spielgefährten, und zusammen errichteten wir Sandburgen mit kreisförmigen Bahnen, auf denen wir um die Wette Kugeln hinab sausen ließen. Zwischen Strand und Datsche lag ein kleines Waldstück, dort übten wir Mountainbikefahren auf einfachen Fahrrädern ohne Schaltung und mit Rücktrittbremse. Auf einem davor liegenden Strandabschnitt kletterten wir stundenlang über Felsen, um nach Muscheln und Krebsen Ausschau zu halten. Wurden wir müde, suchten wir uns einen Stein mit ebener Oberfläche, legten uns darauf und dösten vor uns hin. Da wurde ich wieder zum Delfin, der die Wellen durchpflügte, schnell wie ein Pfeil und wendig wie die Möwen, die über mir Kreise zogen. Inzwischen konnte ich schwimmen, die Bademeister von Bad Schwartau hatten ganze Arbeit geleistet, sodass meine Mutter und mein Vater mich ohne allzu große Furcht ziehen lassen konnten. Ganz legen Eltern nie die Angst ab, wenn ihre Kinder am Wasser spielen, weil das Meer nicht die gewohnte Lebensumgebung ist. Doch meine Schwester und ich lernten früh, was auflandiger und ablandiger Wind bedeutet, wie sich Unterströmungen auswirken, wenn man sich im Wasser befindet, und warum es manchmal ein Badeverbot gab, auch wenn die Wellen nicht hoch waren.

»Ich habe das Meer zu lange gekannt, um an seinen Respekt für Anständigkeit zu glauben«, schrieb der Schriftsteller Joseph Conrad, der zwanzig Jahre zur See gefahren war, und er hat recht: Während ich diese Zeilen niederschreibe, sind allein zwischen Schabeutz und Niendorf wieder vierzig Menschen ertrunken. Um sich im Wasser aufzuhalten, muss man das Element Wasser kennen. War der Sommerurlaub zu Ende, bestiegen wir unsere Fahrräder und kehrten nach Bad Schwartau zurück.

Dort war 1895 eine erste Solequelle mit hohem Jodgehalt entdeckt worden, was dazu führte, dass ein Mann namens Anton Baumann sechs Jahre später das »Elisabeth-Sol- und Moorbad« eröffnete. Meine Heimatstadt wurde zur beliebten »Sommerfrische« für gestresste Städter aus Berlin und Hamburg, wovon heute noch die Villenkolonien von Cleverbrück und Kaltenhof zeugen. Zur selben Zeit wurden die Schwartauer Werke gegründet, die fast jeder kennt, der hin- und wieder Konfitüre zum Frühstück isst. Ich erinnere mich, wie manchmal der süße Duft von Marmelade durch die Stadt zog. Viel häufiger hatte ich allerdings den Geruch von Chlor in der Nase, denn gleich nach meinem Delfinabenteuer wurde ich Mitglied in der Schwimmabteilung des VfL Bad Schwartau. Das ist einer dieser traditionsreichen Sportvereine in Deutschland, aus deren Reihen so viele erfolgreiche Sportler kommen, und die meist nur wenig Beachtung finden. Um so mehr freute mich, dass bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien DFB-Präsident Wolfgang Niersbach in Interviews immer wieder betonte, dass jeder der frisch gebackenen Weltmeister irgendwann in einem dieser Vereine den Grundstein für seine Karriere gelegt hat: Thomas Müller beim TSV Pähl, Bastian Schweinsteiger beim FC Oberaudorf, Sami Khedira beim TV Oeffingen. So ist es auch bei uns Schwimmern, trotzdem ist manchem Sportfan der VfL Bad Schwartau, der 2013 sein 150-jähriges Vereinsjubiläum begehen konnte, vor allem durch seine Handballmannschaft bekannt. 2001 war man Deutscher Pokalsieger, mittlerweile spielt man in der 2. Bundesliga.

In der Schwimmabteilung erhielt ich meine Grundausbildung. Heute weiß ich, wie wichtig es ist, Kindern die Freude am Wasser so früh als möglich zu vermitteln. Dem VfL Bad Schwartau gelang das nicht nur bei mir, sondern bei vielen anderen, was sich bei so manchen Meisterschaften zeigte. Vielleicht lag es daran, dass der Verein schon früh moderne Wege einschlug: Um Eltern mit schwimmenden Geschwistern zu entlasten, werden diese gleichzeitig auf verschiedenen Bahnen ausgebildet, sobald sie die Seepferdchengruppe der Noch-nicht-Schwimmer in Richtung einer Bronze-, Silber- oder Goldgruppe verlassen haben. Danach sind leistungsorientierte Trainingsgruppen möglich sowie die Aufnahme in eine Masterschwimmgruppe, die regelmäßig an Wettkämpfen auf Landes- und Bundesebene teilnimmt. Ob Freizeitschwimmer oder Leistungsgruppe: Mein alter Heimatverein hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen »mit der anerkannt gesündesten Sportart fit zu halten«. Ob dann später Weltrekorde purzeln, wie es bei mir der Fall war, wird sich irgendwann von selbst zeigen.

Selbst bei mir sah es am Anfang mehr nach Freizeitschwimmen aus. Meine Eltern sind sportlich, spielen Tennis und tanzen, doch drängten sie mich zu nichts. Dafür bin ich ihnen heute noch dankbar, denn ich habe im Laufe meiner Karriere immer wieder das Gegenteil erlebt. »Helikopter-Eltern« ist der populäre Ausdruck für diese Art von Eltern, die ständig über ihre Kinder wachen und einen enormen Leistungsdruck ausüben. Das ist beileibe kein Phänomen unserer Zeit. Bereits 1969 hat der Psychologe Haim G. Ginott in seinem Buch »Between Parent & Teenager« diesen Ausdruck verwendet. Und sang nicht Pink Floyd, die in meiner Jugend zum Standardrepertoire unseres Kassettenrekorders gehörten:

 

Mother’s gonna make all of your nightmares come true

Mamma’s gonna put all of her fears into you

Mamma’s gonna keep you right here under her wing

She won’t let you fly but she might let you sing

Mamma’s gonna keep baby cozy and warm.

Mama wird schon dafür sorgen, dass deine Albträume wahr werden. Sie wird ihre Ängste auf Dich übertragen, sie wird Dir keine Luft zum Atmen mehr lassen …

Ich konnte also von Glück sprechen, dass meine Eltern anders waren, und mir die Freiheiten ließen, die es für eine frohe Kindheit braucht. Wahrscheinlich lag es daran, dass sich die beiden gut ergänzten, und sich in Sachen Erziehung einig waren. Mein Vater ist von Beruf Buchhalter und versteht sich darauf, Dinge genau abzuwägen. Das macht er so gut, dass wir ihn gerne damit aufzogen, zum Beispiel am Mittagstisch: »Weißt du Papa«, hieß es dann, »bei dir ist sogar auf dem Teller alles in Soll und Haben geordnet.«

Damals wusste ich nicht, dass ich Jahre später seinen Rat hätte einholen sollen, als bei mir Soll und Haben in Unordnung gerieten. Auch meine Mutter versteht als gelernte Einzelhandelskauffrau etwas vom geschäftlichen Leben, sie arbeitete damals bei den Kurbetrieben. Wir waren weder arm noch reich, doch aufs Geld wurde immer geachtet. Das zeigte sich, als meine Schwester begann, Gitarre zu lernen.

»Willst du auch ein Instrument spielen?«, fragte meine Mutter, und meine Antwort kam prompt: »Ja! Klavier!«

Damals hatte ich mich in die Vorstellung verliebt, Sängerin zu werden, und ich sah mich Klavier spielend und singend … Daraus wurde nichts. Ein Klavier war zu teuer, oder anders gesagt, Soll und Haben standen nicht im rechten Verhältnis zueinander. Vielleicht war meinen Eltern auch bereits klar geworden, dass ich ein Windfang war, eines dieser Mädchen, die lieber draußen durch Wald und Flur toben, als lange Übungsstunden am Klavier zu verbringen. In der Nähe unserer Wohnung begann der Forst, dort kannte ich jeden Stock und jeden Stein. Dabei war es mir gleichgültig, ob es Sommer war oder Winter: Kamen Schnee und Eis, wartete ich nur darauf, bis die Wiesen zugefroren waren. Dann schnallte ich mir Schlittschuhe an und war für Stunden nicht mehr im Haus zu halten. Kamen genug Kinder zusammen, organisierten wir Eishockeymannschaften, und unsere fröhlichen Rufe drangen bis weit ins Wohnviertel hinein. Hätte mir das Klavierspiel so viel Freude bereitet? Wohl kaum. Lieber streifte ich draußen herum, dort, wo der Reitstall war, und dahinter unser Geheimversteck. Neulich las ich in den Lebenserinnerungen des amerikanischen Schriftstellers Stephen King, wie er ein Grundstück hinterm Haus seiner Mutter mit dem Namen »The Barrens« immer wieder als Ort unheimlicher Geschehnisse in seinen Büchern verarbeitet. Im Roman »Es« versteckt sich eine Gruppe Kinder in einer Höhle, was mir bekannt vorkam, denn genauso machten wir es auch. Unsere Höhle war mit dichtem Gebüsch vor allen Augen verborgen, und keiner ahnte, dass wir...

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