Nach Neuner (vgl. 1994a: 15) wird eine landeskundliche Konzeption durch übergreifende politische und gesellschaftliche Konstellationen und pädagogische Leitvorstellungen beeinflusst. Aus diesem Grund ist es notwendig, die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für den DaF-Unterricht in China im Überblick vorzustellen.
China hatte lange Zeit Kontakte mit anderen Ländern ausgeschlossen und sich von der Außenwelt abgesondert (vgl. Yu 2004: 84). Erst im 18. Jahrhundert, nachdem die letzte Dynastie Chinas, die Qing-Dynastie (1644-1911), „bittere Lehren aus dem Umgang mit den aggressiven ausländischen Mächten“ (Ni 1991: 208) gezogen hatte, legte die Regierung Wert auf das Fremdsprachenlehren und -lernen (vgl. Yu 2004: 84). Nach der Niederlage im ersten Opiumkrieg (1839-1842) und dem zweiten Opiumkrieg (1858-1860) gegen die westlichen Länder wurde die Qing-Dynastie von den europäischen Mächten zur Öffnung von Häfen entlang der Küste gezwungen (vgl. Hernig 2000: 129). Die damalige chinesische Regierung wurde „einerseits gezwungen, in politische, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte mit dem Westen zu treten, sehnte sich aber andererseits nach der starken und fortschrittlichen Technik und Industrie westlicher Länder“ (Huang 1996: 61), weil die Qing-Regierung dachte, dass China aus eigener Kraft „reich und stark“ würde, wenn im Land Modernisierungen durchgeführt würden. Damit könne China den fremden Mächten entgegentreten und seine Unabhängigkeit wiedergewinnen. Diese Modernisierungen erforderten, dass Chinesen das Wissen und die Sprache des Westens erlernten (vgl. Reinbothe 2007a: 13).
Die Geschichte von Deutsch als Fremdsprache reicht bis ins Ende der Qing-Dynastie, nämlich bis 1871, zurück (vgl. Hernig 2000: 129). Im Jahr 1862 wurde die Fremdsprachenhochschule Beijing (Tongwen Guan) gegründet, um künftige Dolmetscher und Übersetzer für den diplomatischen Dienst auszubilden (vgl. Xu 2002: 78ff.). Am Anfang wurden an der Fremdsprachenhochschule Beijing nur Fremdsprachen wie zum Beispiel Englisch, Französisch, Russisch und seit 1895 auch Japanisch unterrichtet (vgl. Yu 2004: 84; Hernig 2000: 129). Ab 1866 wurden anwendungsorientierte Fächer aus den Bereichen Astronomie, Mathematik, Geographie, Naturkunde, Mechanik, Chemie, Staats- und Rechtswissenschaft und Ökonomie vermittelt (vgl. Reinbothe 2007a: 14; Xu 2002: 88; Hernig 2000: 129). Im Jahr 1871 wurde Deutsch zum ersten Mal in diese Sprachschule integriert (Yu 2004: 84).
Bereits im 19. Jahrhundert betrieben Missionsgesellschaften deutschsprachiger Länder Grundschulen oder Grundschulkurse für Chinesen. Nach der Eroberung der Jiaozhou (Kiautschou)-Bucht in der Provinz Shandong im Jahr 1887 errichtete das wilhelminische Deutschland dort neue Missionsschulen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden deutsche Schulen und Universitäten mit der Unterrichtssprache Deutsch gegründet, dazu gehörten die Hochschule für Spezialwissenschaften mit besonderem Charakter (Qingdao tebie gaodeng zhuanmen xuetang) in Qingdao, die 1907 gegründete Medizin- und Technikhochschule in Shanghai und die Deutsch-Chinesische Technische Hochschule Hankou (Hankou Zhongde gongxiao) (vgl. Hernig 2000: 129f.; Reinbothe 2007b: 27). Deutsch als Fremdsprache hatte eine „Zubringerfunktion“ zur Vermittlung technischer, naturwissenschaftlicher oder medizinischer Kenntnisse im Zuge von „Markterschließungsaktivitäten Deutschlands“ (Hernig 2000: 130) in China.
Um Ideen und Vorstellungswelten der deutschsprachigen Literatur für Modernisierungen in China verfügbar zu machen, entstand 1919 Germanistik als akademisches Studienfach an der Universität Yanjing, der Vorgängerin der Universität Beijing (vgl. Ni 1995: 22).
Nach einem zweijährigen Sprachpropädeutikum bildeten deutsche Klassiker, zum Beispiel Goethe, Lessing aber auch Theodor Storm sowie mediävistische Inhalte (Gotisch, Althochdeutsch) nach Zhu (1987: 242) und Kreissler (1989: 173) die Hauptinhalte des damaligen vier weiteren Studienjahre umfassenden Germanistikstudiums. (Hernig 2000: 130)
Die ersten Deutschabteilungen wurden in den 1950er und 1960er Jahren an den Universitäten und Fremdsprachenhochschulen eingerichtet (vgl. Kong 2007: 123). Von der Gründung der Volksrepublik China 1949 bis zur Reformperiode in den 1980er Jahren war die chinesische Germanistik eng mit der politischen Umgebung verbunden (vgl. Yu 2004: 85).
China arbeitete in den frühen 1950er Jahren intensiv mit den sozialistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas, u. a. auch mit der DDR, zusammen. Zwischen 1949 und 1956 etablierte sich die Germanistik als Institution an vier Hochschulen, genauer gesagt der Fremdsprachenhochschule Beijing[5], der Universität Nanjing, der Universität Beijing und der Fremdsprachenhochschule Shanghai[6]. Die Übersetzungsfähigkeit wurde dort als Schwerpunkt gefördert (vgl. Hernig 2000: 131f.).
Mit der Entstehung einer intensiven Sprachausbildung innerhalb der Germanistik in China wurde im Laufe der 1950er Jahre das sowjetische Bildungssystem übernommen (vgl. ebd.: 132). Die Sowjetisierung beeinflusste trotz des Abbruchs der Kontakte zur Sowjetunion ab Mitte der 1960er Jahre den chinesischen Fremdsprachenunterricht sehr (vgl. Fu 2004: 130ff.). Infolgedessen entstand eine Aufgabenteilung der Institutionen der jungen volksrepublikanischen Germanistik (Hernig 2000: 132): „Während die allgemeinbildenden Universitäten Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und [Hervorhebung im Original] Sprachunterricht als ihre Schwerpunkte ansahen, so bestand die Hauptaufgabe der Fremdsprachenhochschulen in der Sprachvermittlung.“ Laut Hernig (vgl. ebd.: 132, 86) ist diese klare Aufgabentrennung seit den 1980er Jahren jedoch weitgehend verschwunden. Anfang der 1960er Jahre wurde trotz der Verschlechterung der Beziehung zur DDR weiterhin Übersetzungsarbeit im Fachbereich Germanistik geleistet.
Zwischen 1966 und 1970, in der ersten Phase der Kulturrevolution (1966-1967), kamen der Hochschulbetrieb und zugehörige Germanistik-Abteilungen faktisch zum Erliegen, während in der zweiten Phase, nach 1970, deutscher Sprachunterricht an den ABS-Hochschulen[7] wieder für den politischen Zweck angeboten wurde, um sprachkundige Mittler für den Maoismus auszubilden, und dadurch den Maoismus ins Ausland zu exportieren und dort zu propagieren (vgl. Hernig 2000: 133; Li 2007: 67). Eigene Recherchen der Literatur ergaben, dass es keinen weiteren Forschungsdokumenten gab, die sich mit dem Thema Deutschunterricht während der Kulturrevolution beschäftigen.
Erst nach der Kulturrevolution „blühte die Germanistik wieder auf“ (Ni 1995: 26). Nachdem die Reform- und Öffnungspolitik 1978 im Land durchgeführt worden war, versuchte China, die westliche Technik zur Realisierung der vier sozialistischen Modernisierungen, nämlich die Modernisierung von Industrie, Landwirtschaft, Armee und Wissenschaft, zu übernehmen: Zentrales Instrument für die Modernisierung war zu jener Zeit mindestens eine Fremdsprache zu beherrschen (vgl. Li 2007: 67). Seit dem Kulturabkommen zwischen der Volksrepublik China und der Bundesrepublik Deutschland vom 24.10.1979 stiegen die Austauschaktivitäten der Wissenschaftler, Dozenten und Studenten stark an (vgl. Hernig 2000: 133). Die Wirtschaftsbeziehungen und das Kulturabkommen mit der Bundesrepublik spielen für den Aufbau der Germanistik in China eine wichtige Rolle (Reinbothe 1986: 243). Ni (1995: 27) stellt eine Tendenz fest:
Die Bundesrepublik Deutschland rückte seit 1978 mehr und mehr in den Vordergrund der Interessen, während die ehemalige DDR zunehmend auf die zweite Stelle (bis 1990) fiel. [...] Die Fremdsprachenlehr- und -lernforschung zum Fach Deutsch als Fremdsprache richtete sich auf die Bundesrepublik Deutschland aus.
Der bundesdeutschen Literatur wurde Aufmerksamkeit geschenkt. Partnerschaft, Kooperationsverträge, -abkommen oder Absichtserklärungen zur Zusammenarbeit zwischen chinesischen und deutschen Institutionen wurden geschlossen (vgl. Ni 1995: 27; Hernig 2000: 134).
1981 besuchten Prof. Neuner von der Gesamthochschule Kassel, Prof. Möhn von der Universität Hamburg und Prof. Kaiser von der Universität Heidelberg im Rahmen des zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik China abgeschlossenen Kulturabkommens mit drei chinesischen Germanistikprofessoren, Prof. Dong von der Fremdsprachenhochschule Beijing, Prof. Lin von der Universität Nanking und Prof. Tan von der Fremdsprachenhochschule Shanghai, 17 Hochschulen und Institutionen in China, an denen Deutsch unterrichtet wird. Im Anschluss wurde ein sach- und fachkundiger Bericht über die Situation der Germanistik in der Volksrepublik China verfasst. Dieser Bericht diente als Grundlage für Kooperationsmöglichkeiten zwischen dem chinesischen und dem deutschen DaF-Bereich und gab dafür wichtige Impulse und Orientierungsrichtungen, z. B. in Bezug auf Lehrerfortbildung, curriculare Forschung und Lehrwerkentwicklung (vgl. Ni 1995: 27f.; Neuner 1983/84: 48).
Seit den 1970er Jahren bis in die Gegenwart liegt der Schwerpunkt der chinesischen Germanistik nach Ni (1995: 27) in folgenden Bereichen: Deutsch bzw....