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Landmedien

Kulturhistorische Perspektiven auf das Verhältnis von Medialität und Ruralität im 20. Jahrhundert

VerlagStudienverlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl296 Seiten
ISBN9783706559386
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Der vorliegende Band thematisiert die oftmals unterschätzte Geschichte der Landmedien im 20. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Kontexten. Das Spektrum der in diesem Band untersuchten Einzelmedien reicht von der Fotografie über Postkarten und Fahrradkarten bis zum Kino und Fernsehen. Es wird der im 20. Jahrhundert wachsenden und überraschend starken Präsenz von Medien auf dem Land nachgegangen und gezeigt, dass ländliche Kommunikationsweisen stark medialisiert waren, sich indes wichtige Charakteristika ländlicher Soziabilität behaupteten. In hohem Maße wurden und werden Bilder von Ländlichkeit durch öffentliche und private Medien erstellt und weiterverbreitet, auch in die ländlichen Gesellschaften hinein. Romantisierend-idealisierende Aspekte, Nostalgie, Idylle, Utopie und immer noch dichotomisch angelegte Vorstellungen von Stadt und Land kennzeichnen eine solche medial hergestellte Ruralität. Medialität und Ruralität, so die Gesamtthese dieses Bandes, erweisen sich als zentrale Kategorien ländlicher Gesellschaftsanalyse. Dabei wird deutlich, dass sich im Zusammenhang ländlicher Gesellschaften und Publika aktive Aneignungsprozesse vollzogen und vollziehen. Die Kommunikations- und Medienanalyse sollte folglich, wie das hier geschieht, nicht allein von den jeweiligen Produkten ausgehen, sondern soziale Praktiken einbeziehen.

Clemens Zimmermann ist Inhaber der Professur für Kultur- und Mediengeschichte an der Universität des Saarlandes. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Sozial- und Kulturgeschichte von Stadt und Land, in der Geschichte von Staatspraxis und Sozial- und Kulturpolitik sowie bei der individuellen, gruppenspezifischen und wissenschaftlichen Wahrnehmung neuer Technologien und Medien. Gunter Mahlerwein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte der Universität des Saarlandes. Aktuelles Forschungsprojekt: Von der Stadt aufs Land? Aneignungsstrategien und Wahrnehmungsprozesse im sozialen und kulturellen Wandel der ländlichen Gesellschaft zwischen 1950 und 1980. Aline Maldener ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte der Universität des Saarlandes und forscht u.a. zur Transnationalität populärer Jugendkultur.

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Leseprobe

Judith Thissen1

Kinogeschäft und Filmbesuch auf dem Land


Ein transnationaler Vergleich


 

Abstract: Film exhibition and film consumption in the countryside. A transnational comparison. This article examines the economics and socio-cultural dynamics of film exhibition and consumption in the European countryside from a transnational perspective with a particular focus on the Netherlands, (West-)Germany and France. After a brief discussion of cinema’s widespread perception as an urban entertainment medium, the author addresses the question ‘what exactly is a cinema?’ in order to challenge the one-dimensional narrative of traditional film historiography, which has largely overlooked the continued importance of travelling cinema beyond the era of the fairground shows. For the three countries under consideration, the key developments in rural and small-town film exhibition are discussed with a strong focus on commercial screenings in multifunctional venues. The study shows that important factors in shaping film culture in the countryside were the close interrelationship between cinema and other leisure-time activities, limited choice and lack of access to recent films, the rhythms of agriculture and the influence of church, as well as growing mobility and economic prosperity.

Key Words: cinema history, travelling film exhibition, multifunctional halls

„Jedes Dorf hatte doch damals ein Wanderkino. Einmal in der Woche wurde Kino gemacht, egal wo, und wenn es ein halb vergammelter Saal war –
Kino wurde gemacht!“2

Seit der Erfindung der „lebenden Photographien“ im späten 19. Jahrhundert brachten reisende Vorführer und Betreiber ortsfester Kinos den Film in Kleinstädte, Dörfer und Landgemeinden. Doch wir wissen wenig über diese Unternehmer und ihr Publikum. Sowohl in der Historiografie des Films als auch in der Öffentlichkeit gilt das Kino allgemein als typischer Bestandteil des städtischen Unterhaltungslebens: ein Produkt der Großstadt für die Großstadt. Wenn sie auch den Blick auf die Bedeutung des nicht-städtischen Publikums in der Vergangenheit und Gegenwart verstellt, so ist diese einseitige Perspektive auf die Filmkultur doch keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass dieses neue Medium seine Ursprünge in Städten wie Paris, Berlin, Brüssel, London und New York hatte. Von Anfang an war das Kino ein integraler Bestandteil der visuellen Symbolik der großstädtischen Konsumkultur.3 Ansichtskarten aus der Belle Époque feierten den emsigen Betrieb auf den großen Boulevards und Einkaufsstraßen, wo die bewegten Bilder in Vaudeville-Theatern, music-halls und ciné-cafés ihr erstes Zuhause fanden. Modernes Leben und Kino schienen per definitionem urban zu sein. Bezeichnenderweise fügt sich eine Serie von Reklamepostkarten für das neu eröffnete Cinématophone Modern Theater in Lyon – gerade in der Stadt, wo die Gebrüder Lumière ihren Kinematographen erfanden – an unterschiedlichen Stellen in die cityscape ein (Abbildung 1).

Abbildung 1: Reklamepostkarte für das Cinématophone Modern Theater in Lyon. Teil einer Serie von zwölf Ansichtskarten, die von diesem Kino in Umlauf gebracht wurden, ca. 1908.

Quelle: Postkartensammlung Judith Thissen.

Es wird vielleicht paradox erscheinen, einen Beitrag über Filmkultur auf dem Land mit einem Bild von Lyon zu beginnen, doch wir sollten nicht unterschätzen, welche Wirkung derartig ikonische Darstellungen der städtischen Moderne auf die Geschichte des Kinos hatten: Sie unterstrichen die großstädtische Aura dieses Mediums sowohl bei den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen als auch in der späteren Filmwissenschaft. Tatsächlich privilegierte der kulturelle Diskurs über das Kino die Großstadt und ihre zahlreichen Luxus-Filmtheater als bevorzugten Ort des Filmkonsums sowie ihre Bevölkerung als die wichtigste Klientel des Kinos. Dasselbe gilt für die Distributions-, Vorführungs- und Marketingpraktiken der Filmindustrie. Zwangsläufig bestimmte dies die Wahrnehmung des Kinos durch die ländliche Bevölkerung sowie die Art und Weise, wie im Landkino die Geschäfte geführt wurden. Dennoch gibt es noch eine ganz andere Geschichte, die erzählt zu werden verdient, und diese Geschichte beginnt mit der simplen Frage: Was genau ist ein Kino?4

Die vergessene Geschichte des Saalgeschäfts


Wenn wir an Filmtheater denken, dann denken wir üblicherweise an Kinos in eigens zu diesem Zweck erbauten Gebäuden mit einer Reihe typischer architektonischer Elemente sowie anderer Charakteristika wie großflächiger Filmplakate oder Filmtitel in Neonlicht. Mit anderen Worten, wir stellen uns ein Gebäude vor, das sofort als Filmtheater erkennbar ist – ob es sich nun um einen luxuriösen Filmpalast der 1920er Jahre handelt, um ein einfaches Haus in der Nachbarschaft oder um das neueste Multiplexkino. Ein entscheidendes Merkmal der Geschichte des Kinobesuchs auf dem Land ist allerdings die Tatsache, dass für die meisten Menschen dort ihr ‚Stammkino‘ keineswegs ein regelrechtes Filmtheater war, sondern ein multifunktioneller Saal, der mehr oder weniger regelmäßig auch der Vorführung von Filmen diente. Wenngleich es erhebliche regionale Unterschiede bezüglich der Anzahl ‚reiner‘ Kinosäle auf dem Land gab, so war doch das städtische Geschäftsmodell des permanenten Kinos in den Dörfern und Kleinstädten kaum lohnend. Es gab ganz einfach nicht genug Menschen, um ein Kino jeden Tag zu füllen – oft nicht einmal an mehreren Tagen pro Woche. Aus diesem Grund nutzten die reisenden Filmvorführer Säle, die ebenso für Bälle, Feste und Tanzveranstaltungen, für Auftritte von (Amateur-)Theatergruppen, Gesangsvereinen und örtlichen Kapellen, zum Turnen, für Vorträge und für politische Versammlungen verwendet wurden. Bei vielen dieser Zusammenkünfte handelte es sich um nicht-kommerzielle Veranstaltungen von Vereinen und Nachbarschaften, die im sozialen und kulturellen Leben der OrtsbewohnerInnen verwurzelt waren. Dementsprechend bestand ein strukturelles Charakteristikum des ländlichen Filmkonsums darin, dass die Kinokultur dauerhaft mit anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, der geschäftlichen Aktivitäten sowie der kulturellen Praktiken verwoben war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Erlebnis des neuen Mediums Film in der Stadt von einer ganz ähnlichen Durchlässigkeit geprägt.5 Allerdings wurden dort ab 1910 stärkere Grenzen zwischen dem Medium Film und anderen soziokulturellen Einrichtungen gezogen, als sich nämlich das Filmtheater als dauerhafte Einrichtung zu einem eigenständigen kulturellen Bereich zu entwickeln begann, der sich von anderen Freizeitpraktiken unterschied.6

Da das Land über lange Zeit von der Filmwissenschaft ignoriert wurde, bieten die traditionellen Darstellungen der europäischen Kinogeschichte wenig Information zur Langzeit-Bedeutung der reisenden Filmanbieter sowie über die Multifunktions-Veranstaltungsorte. Wie Thunnis van Oort feststellt, „verschwindet im gängigen filmhistorischen Narrativ die reisende Kinovorführung allmählich im Laufe des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts, als die dauerhaften Kinos zur dominierenden Form der Filmvorführung wurden“.7 In den letzten Jahren hat allerdings das größer werdende Feld der New Cinema History damit begonnen, dieses dominierende Narrativ in Frage zu stellen und eine umfassendere Darstellung der Geschichte des Kinobesuchs vorzulegen – eine Geschichte, die weder das ländliche Publikum noch das Wanderkino marginalisiert. Neben einigen älteren Studien sowie meiner eigenen Archivrecherche zu den Niederlanden werde ich mich auf diese jüngeren Forschungen beziehen. Der vorliegende Artikel zielt nicht auf eine umfassende Untersuchung der ländlichen Filmkultur in Europa ab, sondern darauf, einige seiner entscheidenden Dynamiken aus einer transnationalen Perspektive zu definieren. Aus praktischen Gründen wird der geografische Schwerpunkt des vorliegenden Artikels auf die Niederlande, (West-)Deutschland sowie Frankreich beschränkt sein. Trotz dieses beschränkten Umfangs ist ein derartiger komparativer Ansatz hilfreich, wenn es darum geht, Verbindungen zwischen bestimmten ortstypischen Bedingungen und nationalen Entwicklungen herzustellen, ohne lokale Phänomene als unbedeutend oder als Einzelfälle erscheinen zu lassen.8 Ich konzentriere mich dabei auf die Zeit zwischen 1910 und dem Ende der 1960er Jahre. Wenn der Einschnitt in den 1960er Jahren auch regional unterschiedlich ausfiel, so sprechen die verfügbaren Quellen doch sehr stark dafür, dass der Durchbruch des Fernsehens, das Aufkommen neuer Formen der Freizeitgestaltung und zunehmende Mobilität den kommerziellen Filmvorführungen in Multifunktionsräumen ein Ende setzten. Tatsächlich schlossen in dieser Periode auch viele reguläre Kinos auf dem Land ihre Pforten.

Bevor wir uns eingehender mit der Gesamtstruktur und Dynamik des ländlichen Kinogeschäftes beschäftigen, möchte ich einen Blick auf drei prototypische Beispiele für Multifunktionskinos werfen, um eine Vorstellung von dem Umfeld...

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