Einleitung
Vor dreißig Jahren hatte meine Generation die gleichen Träume und Sehnsüchte wie Eltern heute: Unsere Kinder sollten gesund, hübsch, klug, beliebt werden und später erfolgreich sein. Und doch gibt es große Unterschiede: Während unsere Sehnsüchte damals von einem grundlegenden Vertrauen in die Zukunft getragen wurden, ist dieses Vertrauen heute einem ebenso grundlegenden Misstrauen gewichen. Als junge Eltern waren wir euphorisch und verbanden unsere Zukunftsaussichten mit Fortschritt. Wir waren überzeugt, Krebs heilen zu können, Kriege zu verhindern, Wohlstand aufzubauen und soziale Gerechtigkeit und »Bildung als Bürgerrecht« zu verankern, so wie dies Ralf Dahrendorf schon 1965 gefordert hatte. All dies ist nicht so eingetroffen. Heute müssen wir erkennen, dass unsere Fortschrittsgläubigkeit fast zum Paradox geworden ist und Verheißung in Bedrohung, Optimismus in Pessimismus umgeschlagen ist. Neben den Gefahren des Klimawandels, der Selbstgefährdung durch Atomkraft, des teils problematischen wissenschaftlichen Fortschritts (beispielsweise in der Gentechnologie oder der Fortpflanzungsmedizin), der Migrationsbewegungen oder neuartiger Krankheiten (AIDS, Vogelgrippe) sind es die zunehmende Globalisierung und Wettbewerbsorientierung, welche auch den Bildungsbereich stark betreffen und damit die Erziehung und Förderung unseres Nachwuchses.
Eltern verhalten sich heute so, wie dies die Bildungspolitik lange gefordert hat
Logischerweise haben solche Bedrohungsszenarien auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis von heutigen Vätern und Müttern. Sie können ihre Kinder nicht mehr so erziehen, wie dies für unsere Generation noch möglich gewesen war. Einen wesentlichen Anteil an der zunehmenden Leistungs- und Wettbewerbsorientierung haben Leistungsstudien wie PISA, TIMMS, IGLU und wie sie alle heißen. Angesichts der teilweise lediglich mittelmäßigen oder gar schlechten Leistungen der Schüler begann die Bildungspolitik auf der Basis solcher Studien unentwegt vor einer »Bildungskatastrophe«1 zu warnen und die Angst vor dem Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und dem Abbau des gesellschaftlichen Wohlstands zu schüren. Solche Krisendiagnosen führten zu der Forderung, alle Kinder seien früher zu fördern und besser als bisher auf die Schule vorzubereiten. Nur so könnten die Schülerleistungen nachhaltig verbessert werden. Deshalb wurde die Frühförderung in vielen Parteiprogrammen als neuer Schwerpunkt definiert und die Bedeutung von Bildung als einzigem Rohstoff und die Wichtigkeit einer guten Ausbildung für alle zu tragenden Leitideen erklärt. Fast gleichzeitig wurde auch die Familie neu entdeckt. Quer durch die politischen Parteien hindurch war die Botschaft nun erstaunlich einhellig: Eltern sollten in die Erziehung ihrer Kinder investieren, damit ihre Anstrengungen Früchte tragen. Nur wenn sie sich stärker für die Schule interessieren und sich ihrer zentralen Rolle bewusst werden, kann die schulische Förderung greifen. In der Folge wurde die frühe Elternarbeit intensiviert und in den Schulen verbindlich festgelegt, die individuelle Förderung der Kinder durch eine ausgeklügelte Diagnostik verbessert, frühe Sprachförderung in vielen Programmen etabliert, die vorzeitige Einschulung ermöglicht und die Ausbildung und Einstellung Heilpädagogischer Zusatzlehrkräfte vorangetrieben.
Solche Botschaften und Reformen sind bei Vätern und Müttern schnell angekommen und als Vorgaben verstanden worden, auf die entsprechend reagiert werden muss. Deshalb betrachten sie die intensive Beschäftigung mit den Bildungs- und Laufbahnfragen ihrer Sprösslinge als normale Angelegenheit, die sie allerdings mit hohem zeitlichem, finanziellem und nervlichem Aufwand bezahlen und dabei oft auch die eigenen Bedürfnisse zurückstellen müssen.
Warum ist eigentlich angesichts dieser Entwicklung das allgemeine Erstaunen so groß, dass Mütter und Väter ihre Antennen dauernd ausgefahren haben und permanent darum bemüht sind, sich in Startposition zu bringen? Sie verhalten sich ja nur exakt so, wie dies Bildungspolitik und Fachexperten jahrelang eingefordert haben. Denn wohin Eltern auch schauen und an wen sie sich auch wenden, ihnen wird bestätigt: Die Krise der Familie ist allgegenwärtig, und schuld daran sind die Väter und Mütter. Infolgedessen liegt es nur in ihrer Hand, den Erfolg des Nachwuchses zu planen und zu sichern. Ihre Perfektionsträume und ihr überdimensioniertes Engagement sind deshalb logische reaktive Strategien, um sich zumindest ein wenig gegen die Schuldzuweisungen, aber auch die diffusen und bedrohlichen Zukunftsängste zu stemmen.
Als wäre das noch nicht genug, verlangt die Gesellschaft eine Menge mehr von Eltern. Sie sollen ausgleichen, was die Gesellschaft den Kindern vorenthält. Platz zum Toben zum Beispiel, altersgemäße, sinnvolle Aufgaben, Schutz vor einer Konsumgesellschaft, die alles daransetzt, Wünsche zu wecken, welche die Eltern dann heldenhaft ablehnen sollen. Und natürlich sollen sie immer dann zur Verfügung stehen, wenn wieder ein Sprössling aus dem Kindergarten kommt, während die Großen zum Nachmittagsunterricht müssen. Schließlich haben sie ihre Kinder gesund zu ernähren und bei allem so viel zu verdienen, dass der Staat nicht mit Transferleistungen eingreifen muss. Vor einem solchen Anforderungsprofil müssten eigentlich alle kapitulieren. Eltern, der Großteil von ihnen jedenfalls, geben jeden Tag ihr Bestes. Aber viele verausgaben sich dabei sehr, manchmal zu sehr.
Das normative Muster perfekter Eltern
Warum tun sich Väter und Mütter dies alles an? Warum brechen sie nicht einfach aus dem normativen gesellschaftlichen Muster aus? Weil sie sich in einer paradoxen Situation befinden, der sie nicht einfach so entfliehen können. Denn zum einen macht die Gesellschaft Eltern für alles verantwortlich, was mit der Erziehung und Bildung der Kinder zu tun hat, und zeigt ihnen auf, welche Konsequenzen ihre Erziehung hat. Zugleich spricht sie ihnen mit Verweis auf die vielen Fachexperten die Kompetenz ab, Erziehungsprobleme eigenständig lösen zu können. Als inkompetent hingestellt zu werden und gleichzeitig die alleinige Verantwortung für das Wohlergehen und den Bildungserfolg der Kinder tragen zu müssen, treibt Eltern in Ängste und Gewissensbisse, die sie mit einem Hang zur perfekten Elternschaft zu bewältigen versuchen.
Auf dieser Bestandsaufnahme basiert die These, welche ich im vorliegenden Buch anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse diskutieren und in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellen werde. Sie lautet:
Heutzutage fördern, umsorgen und kontrollieren Eltern ihren Nachwuchs nonstop. Diese Anstrengungen sind nicht das Ergebnis ihrer Unfähigkeit, Kinder »richtig« zu erziehen. Vielmehr ist es unsere elternunfreundliche Angst- und Sicherheitskultur, die Väter und Mütter dazu zwingt, perfekt zu sein und perfekte Kinder haben zu wollen. Perfekte Eltern sind zu einem normativen Muster geworden, das sich anhand von vier Merkmalen umschreiben lässt: der Förderwucht, der partnerschaftlichen Erziehung, der Überbehütung sowie der Sicherheitsangst.
Mit normativ meine ich, dass die gesellschaftliche Vorstellung, was gute Erziehung sein soll, recht eng ist und die vier Merkmale deshalb mit großer Selbstverständlichkeit als solche guter Elternschaft anerkannt sind und kaum hinterfragt werden. Man muss somit etwas genauer hinschauen, um ihre problematischen Seiten jenseits der elterlichen Schuldfrage zu erkennen. Dies will ich in meinem Buch in insgesamt fünf Schwerpunkten tun. Dabei beziehe ich mich immer wieder auf die empirischen Daten verschiedener Studien, welche ich in den letzten zehn Jahren durchgeführt habe. Am häufigsten ist es die Längsschnittstudie FRANZ (»Früher an die Bildung – erfolgreicher in die Zukunft?«), welche die Entwicklung von Vorschulkindern bis zum Kindergarten- respektive Schuleintritt untersuchte und dabei die familiäre und außerfamiliäre Förderung, die Betreuung und die Erziehungsziele und -stile der Eltern genauer unter die Lupe nahm.2 Da es sich dabei um eine relativ bildungsnahe Stichprobe handelte, lassen sich die Daten gut für die in diesem Buch in den Blick genommenen Väter und Mütter nutzen.
Im Folgenden ergründe ich die Grundproblematik im ersten Kapitel und frage dabei nach den Hintergründen meiner These: Wie es dazu gekommen ist, dass sich Väter und Mütter heute derart unter Druck fühlen, und welche gesellschaftlichen Entwicklungen dafür verantwortlich gemacht werden können. Dies zu verstehen bildet die Ausgangslage für das zweite Kapitel, das sich verschiedenen Familien- und Kindheitsmythen widmet, die immer wieder herumgeistern. Solche Mythen widerspiegeln bestimmte Annahmen über einen Sachverhalt, die Überzeugungscharakter haben und kaum hinterfragt werden. Ich tue dies zunächst mit Blick auf einige Mythen rund um die Aufgaben und Profile heutiger Eltern und die Kindheiten ihres Nachwuchses, bevor ich sie aus einer historischen Perspektive beleuchte.
Im dritten Kapitel widme ich mich der Thematik perfekter Eltern. Gedankenleitend ist dabei das in der These angesprochene normative Muster perfekter Elternschaft. Dazu gehören die Förderwucht und Bildungspanik, die partnerschaftliche Erziehung, die Überbehütung und Sicherheitsangst sowie Risikoscheu. Abschließend zeige ich auf, dass es die perfekten Eltern im Singular nicht gibt, sondern nur im Plural.
Das vierte Kapitel untersucht das Ziel perfekter Elternschaft, die perfekten Kinder. Analog zu den Definitionsmerkmalen ihrer Eltern lassen sich solche Kinder wie folgt beschreiben: die vermessenen, d. h. mit Diagnosen und Therapien...