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Latenz - Das 'goldene Zeitalter' der Kindheit

Psychoanalytische Entwicklungstheorie nach Freud, Klein und Bion

AutorGertraud Diem-Wille
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl182 Seiten
ISBN9783170260658
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Gertraud Diem-Wille illustrates the psychoanalytical development theories of Freud, Klein and Bion in regards to the ages between 6 and 11 years. The 'golden age of childhood' with its desire for development and a willingness to learn describes a normal development. However, it may also show disruptions, which had so far not been recognisable, and which present themselves as learning difficulties, behavioural problems, fits of anger or tendencies to withdraw or use violence. Extensive case studies from child analyses show how inner conflicts may be identified and integrated with the help if interpretations.

Professor Dr. Gertraud Diem-Wille is a training analyst at the Vienna Psychoanalytical Association, an International Psychoanalytical Association.

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Leseprobe

2


Latenzzeit: Entwicklung des Denkens und des Lernens


 

 

 

Die für das Kleinkind charakteristischen Formen des egozentrischen Denkens, der Allmachtphantasien und des magischen Denkens verlieren in der Latenzzeit an Bedeutung, und die Beschäftigung des Kleinkindes mit seinen Körperfunktionen und denen der Eltern tritt langsam zurück. Die Welt außerhalb der Eltern und der Familie wird interessant, die Fähigkeit zum abstrakten Denken nimmt stark zu. Es setzen plötzlich geistige Aktivitäten ein. Das Eintrittsalter in die Schule macht sich diesen Entwicklungsschritt zunutze. Mit großer Neugierde richten sich die Fragen des Kindes auf die Außenwelt, es wird nach dem »Warum und Weshalb« gefragt. Es herrscht Freude am Lernen. Für Lehrer und Erzieher heißt das, Kinder sind hoch motiviert, Neues zu lernen und zu entdecken.

Die Basis für diese Entwicklung liegt in der neuro-anatomischen Differenzierung des Gehirns als biologische Basis, auf die hier aber nicht genauer eingegangen werden kann. Mit welchen Modellen der intrapsychischen Entwicklung versucht die Psychoanalyse diese Entwicklungsschritte zu verstehen? Es soll kurz eine Beschreibung der Theorie der Denkprozesse und des Lernens in der Psychoanalyse gegeben werden.

Sigmund Freud beschäftigt sich mit Denkprozessen im bewussten und unbewussten Bereich des psychischen Apparats einerseits und erweitert so das Verständnis radikal. Andererseits betont Freud die Bedeutung der sexuellen Neugierde für den Wissenstrieb. Wie der erste Gedanke entsteht und welche psychischen Prozesse das Symbolisieren und den Spracherwerb ermöglichen, wird von Freud in zahlreichen Schriften untersucht, kann aber hier nicht genauer dargestellt werden.

Melanie Klein greift den Gedanken der sexuellen Neugierde als Antrieb, Wissen zu erwerben, auf, beleuchtet vor allem die frühen Phantasien des archaischen aggressiven Eindringens und Erforschens des mütterlichen Körpers und das Interesse am eigenen Körper, das später auf die anderen Gegenstände der Welt ausgeweitet wird. Ihre Konzeption der projektiven Identifizierung hat ein Verständnis der frühesten Form der Kommunikation gelegt, die Melanie Klein allerdings als pathologisch eingeschätzt hat und die erst Bion als allgemeine, früheste Form der Verständigung zwischen Mutter und Baby in seiner Theorie des Denkens erkennt.

Wilfred Bion hat eine elaborierte »Theorie des Denkens « entwickelt, die eine Brücke zu philosophischen Überlegungen darstellt. Sie gliedert sich in drei Teile: 1. der Begriff der angeborenen »Präkonzeption« des Denkens, 2. das Modell des »Container und Contained « und 3. das Verständnis des »Lernens aus Erfahrung« als eine emotionale Erfahrung mit dem Ziel, sich, andere Personen und die Welt kennenzulernen, was er als »K« für »Knowledge« bezeichnet.

Das Entwicklungsmodell von Jean Piaget soll in Bezug auf den Aufbau kognitiver Strukturen und Denkoperationen der Latenzkinder dargestellt werden. Abschließend wird die Beziehung zwischen Piagets und Freuds Entwicklungstheorien beleuchtet.

2.1        Entwicklungstheorie nach Freud


Was Freuds revolutionäre Sichtweise der Psyche ausmacht, ist die Erweiterung des Verständnisses des Bewusstseins um die unbewusste Dimension. Der menschliche Verstand wird als Einheit gesehen; die höheren Funktionsweisen des Verstandes, was Freud den »Sekundärprozess« nennt, funktionieren nicht getrennt von den primitiven und archaischen Bereichen, die Freud den »Primärprozess« nennt. In der klassischen Freud’schen Beschreibung erscheint die Psyche metaphorisch wie ein dreifach gegliederter Raum, dessen unterste Schicht das Unbewusste, die mittlere Schicht das Vorbewusste und die oberste das Bewusstsein ist. Er vergleicht diese Schichten mit der Relation des unsichtbaren zu dem sichtbaren Teil des Eisbergs, von dem 80% (Vorbewusstes und Unbewusstes) unter Wasser sind und nur 20% (Bewusstsein) sichtbar oberhalb des Wassers erscheinen. Das Seelenleben läuft also im Wesentlichen unbewusst ab, und die Psychoanalyse ist die Psychologie des Unbewussten. Freud geht von einem Konfliktmodell der psychischen Instanzen des Es, Ich und Über-Ich aus. Mit der Unterscheidung zwischen den Systemen Unbewusstes, Vorbewusstes und Bewusstes betrachtet Freud die seelischen Vorgänge unter einem neuen Gesichtspunkt, nämlich dem, an welchen dieser unterschiedlichen »Orte« des psychischen Apparats und zwischen welchen Instanzen sich die Konflikte abspielen. Wünsche, Erinnerungen und Impulse, die die Person bei sich nicht wahrnehmen will, die also einer psychischen inneren Zensur unterliegen, werden ins Unbewusste verdrängt mit der Tendenz der Wiederkehr des Verdrängten. Im System Unbewusstes (»Ubw«) gibt es »keine Verneinung, keinen Zweifel, keine Unklarheit… es gibt nur Inhalte« (Freud 1915, 186 f), es herrscht das Lustprinzip, und die große Beweglichkeit der Besetzung ruft Phänomene der Verdichtung und Verschiebung hervor. Der Sekundärprozess bildet sich erst später im Leben heraus, ist aber von Anfang an ansatzweise vorhanden. Das sekundärprozesshafte Denken dagegen ist rational, es gibt eine Verneinung, ein Zeitverständnis, das Gesetz des Widerspruchs gilt, und das Realitätsprinzip ist beherrschend. »Nach heutiger Forschung übernehmen ab dem 7. Lebensjahr die sekundärprozesshaften Organisationsprinzipien vollends die Kategorisierung bewussten und unbewussten seelischen Geschehens«, meinen Brakel, Shevrin & Villa. (2002, zit. nach: Bohleber 2013, 809) Die Dominanz des primärprozesshaften Denkens bleibt aber ein Leben lang wirksam, auch wenn die triebhaften Wunschregungen zensiert und auf höher stehende Ziele gelenkt werden. Als Beweis für die Existenz des Unbewussten führt Freud in einer seiner populärsten Schriften Die Psychopathologie des Alltagslebens (1901) die »Fehlleistung« an. Unter Fehlleistung versteht man ein weites Spektrum anscheinend unbedeutender Phänomene wie das Vergessen, Verlieren, Versprechen, unpassende Gesten, die innerhalb des Bereichs des Normalen liegen. Zur Illustration soll ein Beispiel von Freud angeführt werden: In der Freien Wiener Presse wurde berichtet, wie der Präsident der österreichischen Abgeordnetenkammer, als er feierlich eine Sitzung eröffnen wollte, diese als geschlossen erklärte. »Die allgemeine Heiterkeit machte ihn erst darauf aufmerksam und er verbesserte den Fehler. Im vorliegenden Falle wird die Erklärung wohl diese sein, dass der Präsident sich wünschte, er wäre schon in der Lage, die Sitzung, von der wenig Gutes zu erwarten war, zu schließen«, interpretiert Freud (1901, 67). Das spontane Lachen ist eine Reaktion der Kommunikation des Unbewussten, eine Spannung entlädt sich, die nicht bewusst gesteuert werden kann. In der Fehlleistung erfüllt sich sozusagen hinter dem Rücken der Vernunft der unbewusste Wunsch, drängt sich in die manifeste Rede und stellt also eine geglückte Handlung des Unbewussten dar.

Schrittweise wird bis zum Beginn des Erwachsenenalters die Orientierung nach dem Lustprinzip durch das Realitätsprinzip ersetzt.4 Mit der Einsetzung des Realitätsprinzips wird aber »eine Art Denktätigkeit abgespalten, die von der Realitätsprüfung frei gehalten und allein dem Lustprinzip unterworfen bleibt. Es ist dies das Phantasieren (kursiv im Orig.) welches bereits mit dem Spielen der Kinder beginnt und später als Tagträumen fortgesetzt die Anlehnung an reale Objekte aufgibt.« (Freud 1911, 20 f) Der Zeitraum zwischen 6 und 12 Jahren bringt in Bezug auf die Berücksichtigung des Realitätsprinzips eine hohe Anforderung an das Kind. Es muss sich nun als ein Kind in einer großen Gruppe von Gleichaltrigen denselben Anforderungen, Regeln und Verboten unterwerfen.

Immer wieder fragt sich der Leser, welche Verhaltensweisen normal und welche pathologisch und problematisch sind. Den Ausgangpunkt für Freud stellt sein Wunsch dar, das Denken der Neurotiker zu verstehen, wobei er an seine Theorie den Anspruch stellt, normales und pathologisches psychisches Geschehen erklären zu können. »Wir glauben nicht mehr, dass Gesundheit und Krankheit, Normale und Nervöse, scharf voneinander zu sondern sind, und dass neurotische Züge als Beweis einer allgemeinen Minderwertigkeit beurteilt werden müssen« (1910, 153). In unseren Ausführungen werden daher Beispiele von kindlichem Verhalten »in der Bandbreite der Normalität« angeführt und solche aus Kinderanalysen, die zeigen, wie die Analyse hilft, die Ängste und inneren Konflikte durchzuarbeiten, um eine Weiterentwicklung möglich zu machen. Auch hinter unauffälligem Verhalten können sich...

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