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leben

Von Sterbenden lernen, was zählt

AutorKerry Egan
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641216542
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
»Es liegt eine Kraft in den Geschichten ihres Lebens und dem Sinn, den sie darin gefunden haben.« (Kerry Egan)
Dies ist kein Buch über das Sterben - es ist ein Buch über das Leben! Die erfahrene Hospiz-Seelsorgerin Kerry Egan erzählt Geschichten von Sterbenden. Sie handeln von Hoffnung und Glück, Reue und Trauer, Stolz und Demütigung, Offenbarung und viel zu lange gehüteten Geheimnissen. Und vor allem: von der Liebe - zu ihren Kindern, Partnern und Freunden, von unerfüllter, verlorener, vergeblicher Liebe. Gemeinsam ist allen Geschichten das Ringen darum, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, und der unbedingte Wille, die Welt nicht schwarzweiß zu sehen, sondern in all ihren Schattierungen von grau bis bunt.
  • Die Welt in bunt
  • Der US-Bestseller, der Ihr Leben verändern wird
  • Eindringliche Geschichten von Sterbenden
  • Für alle Fans des Bestsellers von Bronnie Ware: »5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen«


Kerry Egan ist eine Hospiz-Seelsorgerin mit Abschluss der Harvard Divinity School. Sie ist regelmäßige Autorin von Essays zum Thema ihrer Arbeit im Fernsehen, in Zeitungen und Zeitschriften. Kerry Egan lebt mit ihrer Familie in Columbia, South Carolina.

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Leseprobe

1. GESCHICHTEN, DIE WIR ERZÄHLEN

Weise bin ich nicht geworden. Man denkt immer, wenn man alt wird, sollte man auch weise werden. Aber hier bin ich nun, dem Tod nah, und bin es bis jetzt nicht geworden.«

Glorias milchig blaue Augen weiteten sich, und sie zog die Augenbrauen hoch. Sie lachte, nur ein wenig.

»Bei allem, was ich durchgemacht habe, hätte ich ja gedacht, wenn überhaupt jemand das alles kapiert, dann ich.« Wieder lachte sie, eine Art rollendes Glucksen, das ihre langsame, gedehnte Sprechweise unterbrach. Sie lachte immer.

»Wissen Sie.« Als sie sich zu mir beugte, beschien Sonnenlicht den weißen Babyflaum auf ihrem Oberkopf. »Ich hab mir immer gewünscht, einen Schriftsteller kennenzulernen, dem ich meine Geschichten erzählen kann, damit andere Leute sie hören können und nicht dieselben Fehler machen wie ich. Ich würde ihm einfach meine Geschichten geben. Ich würde sagen: ›Hier, nimm sie und erzähl sie ihnen.‹ Sie wissen ja, was für verrückte Geschichten das sind. Aber ich hab nie einen Schriftsteller kennengelernt.«

Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Mehr als zehn Jahre zuvor hatte ich ein Buch geschrieben, war aber jetzt nicht als Autorin hier. Gloria war eine Hospizpatientin und ich war ihre Seelsorgerin. Von meiner Vergangenheit hatte ich ihr bisher nichts erzählt.

»Ich habe immer darum gebetet, einem zu begegnen«, fuhr sie fort. »Aber dieses Gebet wird wohl nicht mehr erhört werden.«

Wir verstummten, und ich hoffte, dass Gloria das Thema wechseln würde.

Sie hob die Hände von den Armlehnen und ließ sie mit einem tiefen Seufzer wieder fallen. »Ich verlasse nicht einmal mehr dieses Haus. Ich stecke hier fest. Wie soll ich da noch einen echten Schriftsteller kennenlernen?«

Sie sah mich an und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich hab gebetet und gebetet und gebetet. Manche Gebete werden wohl einfach nicht erhört.« Sie lachte wieder, doch diesmal klang es traurig.

Langsam wurde es lächerlich. Ich zögerte noch eine stille Minute, dann sagte ich: »Gloria, habe ich je erwähnt, dass ich einmal Schriftstellerin war?«

»Ein echte Schriftstellerin?« Ihre dünnen Augenbrauen gingen wieder nach oben.

»Ja, aber schon vor langer Zeit.«

»Also eine, die ein Buch geschrieben hat?«

»Ja. Veröffentlicht und alles.«

Sie warf die Hände in die Luft und blickte zur Decke. »Und ich hab die ganze Zeit auf einen Mann gewartet!«, rief sie. Sie hüpfte ein bisschen in ihrem Lehnstuhl, drehte sich um und sah mich an. »Ich dachte, es würde ein Mann sein, Kerry! Aber das ist es!« Sie schaukelte vor und zurück und breitete die Arme weit aus. »Ich spüre es! Das ist die Antwort. Der Heilige Geist hat Sie zu mir geschickt, und ich habe Ihnen doch schon alle meine Geschichten erzählt. Sie brauchen sie nur noch aufzuschreiben. Vielleicht können sie jemandem helfen. Vielleicht wird jemand anderes durch sie weise. Versprechen Sie mir, dass Sie meine Geschichten erzählen werden.«

Mir hatten zwar schon vor Gloria einige Patienten gesagt, sie wünschten, andere Menschen könnten aus ihren Lebensgeschichten lernen – hatten mir sogar erlaubt, sie anderen zu erzählen , doch der Anstoß zu diesem Buch kam tatsächlich von Gloria und meinem Versprechen an sie. Im Laufe der Jahre hatte ich mir schon viele Geschichten gemerkt, Geschichten, die Patientinnen und Patienten vor mir ausgebreitet und über die sie nachgegrübelt hatten, Geschichten, die sie in Gedanken ebenso drehten und wendeten wie ihre Rosenkranzperlen und zerlesenen Bibeln in den Händen. Ich sammelte sie und bewahrte sie in meinem Herzen.
Oft, aber nicht immer, fanden meine Patienten im Lauf unserer Gespräche ein gewisses Maß an Seelenfrieden. Oft, aber nicht immer, wurde ihr Glaube an etwas Besseres und Größeres als sie selbst bestätigt. Oft, aber nicht immer, fanden sie unerwartet Kraft, bei den Menschen in ihrem Leben Abbitte zu leisten, und den Mut, furchtlos auf ihren Tod zuzugehen. Und immer lehrten diese Menschen mich etwas.

Wir alle haben Erfahrungen, die unser Leben prägen. Patienten erzählten mir diese Erfahrungen, diese Geschichten, manche nur ein oder zwei Mal, andere immer wieder. Normalerweise änderte sich bei jeder Wiederholung die Art und Weise, wie sie sie erzählten. Aber nicht das Wesentliche der Geschichte änderte sich, sondern die Betonung von Details, die hergestellten Zusammenhänge zwischen diesen Details, und schließlich formten sich die Zusammenhänge zwischen schon lange zurückliegenden Geschichten neu. Der Sinn in ihren Geschichten erweiterte und verlagerte sich.

Fast immer handelten ihre Geschichten von Scham, Kummer oder Trauma: Mein Kind starb mit vier Jahren in meinen Armen. Meine Frau verließ mich wegen eines anderen Mannes, während ich als Soldat weit weg war. Ich habe jemanden umgebracht. Mein Vater hat mich vergewaltigt. Ich hab mich fast tot gesoffen. Mein Mann schlägt meine Kinder und ich habe vor lauter Angst nichts dagegen unternommen. Ich wurde nicht geliebt und weiß nicht, warum. Die Geschichten verwirrten sie. Wie konnten diese Dinge nur passiert sein, und was bedeutete das alles?

Ich weiß nicht, ob es einen weise machen kann, wenn man sich die Lebensgeschichten von Menschen anhört, die im Sterben liegen, aber ich weiß, dass es die Seele heilen kann. Meine wurde dadurch geheilt.

So wie jedem einzelnen meiner Patienten war auch mir etwas passiert. Für die Geschichte, die mein Leben bis dahin geformt hatte, schämte ich mich. Mir war, als wäre ich geborsten und zerbrochen und könnte nicht wieder zusammengesetzt werden, als wäre ich tief im Innersten unwiederbringlich zerstört. Als ich anfing, im Hospiz zu arbeiten, war mir noch nicht klar, dass jeder, wirklich jeder Mensch geborsten und zerbrochen ist.

Nur wenige Monate, nachdem ich die Arbeit im Hospiz aufgenommen hatte, betrat ich das dunkle, nicht besonders wohnliche Zimmer einer Pflegeheimpatientin, die ihrem Krankenblatt zufolge sowohl unter Darmkrebs als auch unter fortgeschrittener Demenz litt. Ich erwartete eine schwache, zusammengerollt daliegende Patientin. Stattdessen traf ich auf eine schöne Frau mit exakt gelegten weißen Locken, die kerzengerade auf ihrem Bett saß. Sie wirkte auf mich wie eine ausgezehrte, bläuliche Porzellanpuppe auf weißen Anstaltslaken.

Statt mich mit dem tiefen Schweigen der Demenz im Endstadium zu begrüßen, sprach sie mit einem breiten neuenglischen Akzent darüber, was es bedeutete, Teile des eigenen Körpers zu verlieren, Teile, die man nie besonders wahrgenommen hatte, bis sie nicht mehr da waren. Selbst bei Demenz im Endstadium kann es passieren, dass ein Patient Momente, ja einen ganzen Tag vollkommener Klarheit erlebt. Während sie über die vielen Jahre ihrer Krebsbehandlung sprach, wurde ihre pergamentene Haut in Nacken und Gesicht rosarot. Ihre Hände begannen zu zittern, dann der ganze Körper. Ihre Stimme wurde allmählich lauter, während ihr Körper sich immer stärker verkrampfte.

»Ich habe kein Arschloch!«, brach es schließlich aus ihr heraus. Dabei schlugen ihre kleinen weißen Fäuste auf das Bett. Selbst unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft erzeugte sie kaum eine Delle in den Laken. »Ich kann nicht scheißen!«

Sie wandte den Blick ab und richtete ihn unverwandt auf den Heizkörper. Als sie wieder sprach, hörte man nur noch ein raues Flüstern. »Alle Leute, die in dieses Krankenzimmer gekommen sind, haben auf mich herabgeschaut. Sie haben mich eigentlich gar nicht gesehen. Sie wollten mich nicht sehen. Sie haben in Babysprache mit mir geredet, so als wäre ich eine Idiotin. Sie haben mich angeschaut und gedacht: ›Zum Glück bin ich nicht wie die.‹ Selbst bei den Netten wusste ich, dass sie heilfroh waren, nicht so zu sein wie ich. Ich wusste, dass sie nur eine verrückte, jämmerliche alte Frau sahen, die nicht einmal ein Arschloch hat.«

Ein paar Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, saßen wir schweigend da. Als sie mich wieder anblickte, sagte ich: »Was Sie brauchten, war Mitgefühl, bekommen haben Sie aber Mitleid.«

»Ja.« Sie sog Luft ein. »Ja, das stimmt. Ganz genau.« Überraschung lag in ihrem Blick. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sagte in einer anderen, fast anklagenden Stimme: »Sie sind sehr jung.«

»Ich bin älter als ich aussehe.«

»Nein. Sie sind jung«, sagte sie kategorisch. »Woher wissen Sie so etwas?«

»Nun ja.« Diese Frage hatte ich nicht erwartet. »Also, ich habe ein paar schwere Dinge durchgemacht. Ich weiß, wie Mitleid sich anfühlt.«

Sie setzte sich noch aufrechter hin und fixierte mich mit ihrem Blick. »Warum? Wie geht Ihre Geschichte? Was ist Ihnen widerfahren?«

Ich spürte ein heißes Kribbeln in meinem Körper. »Das erzähle ich lieber nicht, ich bin doch hier, um über Ihr Leben zu sprechen. Meine Rolle als Hospizseelsorgerin besteht darin, Ihnen zuzuhören, Ihnen zu helfen, Ihre spirituelle Kraft auszuschöpfen, um Sie durch diese Zeit zu bringen.« Ich bemühte mich um einen professionellen Ton.

»Sie schämen sich.«

»Nein, nein. Kein bisschen.« Plötzlich wäre ich am liebsten aufgestanden und weggerannt. In meinen Ohren hörte ich Meeresrauschen und spürte den Herzschlag in meiner Brust. Ich hielt mich an der Bettkante fest. »Es ist einfach so, dass ich mich kenne und weiß, wenn ich erst einmal anfange, von mir zu erzählen, spreche ich nur noch darüber, und das ist nicht richtig, denn ich bin ja hier, um für Sie da zu sein, nicht umgekehrt.«

Natürlich war das eine Lüge. Ich schämte mich, und das wusste sie....

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